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Sonntag vormittag
Von Sonntagsgedanken, Sonntagsruhe, Sonntagssegen allenthalben keine Ahnung … Die meisten Einwohner wissen vor Betäubung und Verwirrung gar nicht mehr, wo sie sind und wie sie leben. Und in der ganzen Umgegend ist's dasselbe Getöse, dasselbe Kriegsgetümmel – überall sind die Gotteshäuser in Lazarette verwandelt, kein Friedensglöcklein ertönt herauf oder herüber …, es gibt heute wieder einen schweren Tag. Glühend heiß brennt die Sonne auf alle die Leichname hernieder; was wird es geben, wenn sie nicht bald, so schnell als möglich begraben werden? Es ist gewißlich wahr, ein fühlender Christenmensch muß in der tiefsten Seele ergrimmen! Wenn doch Menschenblut vergossen werden muß, warum hat nicht jedes kriegführende Heer eine Truppenabteilung, welche die Bestattung der Toten besorgt? Sind die Gefallenen nicht mehr soviel wert, daß man sie sammle und liebe- und ehrenvoll begrabe, ehe die Verwesung ihre Leiber noch entsetzlicher entstellt? Oder ist des Jammers der Einwohner nicht genug, daß sie auch noch diesen auf sich nehmen sollen?
Es geht ein heimlich Gemurmel, die ganze Nacht seien große Totenwagen durchs Sauertal gerasselt und haben deutsche Gefallene in die Pfalz hinabgeschleppt, damit der Mut der Soldaten durch den Anblick massenhafter Leichenhaufen nicht erschüttert werde … Ist's Wahrheit? oder ist's ein Phantasiegespinst, welches dort unten in unsern Rebhügeln und Waldschluchten haust? Niemand kann's mit Bestimmtheit behaupten – allgemein aber wird's geglaubt. Die deutsche Vorsicht ist ja bekannt. Übrigens, wie kommt's, daß hier oben viel mehr französische als deutsche Tote liegen, da doch die Menschenschlächterei auf beiden Seiten gleich zahlreiche Opfer gekostet hat? – Ich wollt, sie hätten auch in unsern Gärten und Feldern nicht bloß ihre Offiziere und besonders teure Kameraden, sondern alle, alle ohne Unterschied, in die Erde gebettet! … Denn, um Gottes willen, wer soll es tun? Wie unsere auseinandergejagte Herde zusammenbringen? Viele Männer mußten mit ihren Wagen der deutschen Armee nachziehen, und die meisten Jünglinge sind immer noch auf der Flucht oder liegen aus Furcht vor dem Feinde in den Wäldern versteckt. Man versetze sich einmal in solch eine fürchterliche Lage … Wenn nur die Toten im Dorf, in dessen unmittelbarer Umgebung aufgehoben und bestattet werden könnten, daß doch die Pestilenz nicht hereinbricht … Die Durchmärsche dauern fort; ein Heereszug nach dem andern flutet landeinwärts den Vogesen zu; sie ziehen kalt und fremd vorüber und fragen nicht nach unserm Schmerz.
Aber weilt nicht da drüben im Wirtshaus ein kommandierender General, der gestern mitgefochten hat – dessen herzensgute Schwester in Niederbronn wohnt –, vielleicht, was gilt's? die Siegesfreude hat Mitleid, Erbarmen in der gestählten Kriegerbrust erweckt … Mach' dich auf; geh' zu ihm … Bitte, flehe um Hilfe – er wird dich anhören, er wird, er muß und tut er's nicht – in Gottes Namen. Gesagt, getan – den Amtsrock her, der wird schon bessern Eindruck machen, und ehe fünf Minuten vergehen, steh' ich drüben am Wirtshaus und frage nach Sr. Exzellenz, Herrn General v. d. T.! Eine Menge von Offizieren und Adjutanten gehen da aus und ein. Ich werde endlich angemeldet – es dauert ein Weilchen und das arme Pfäfflein steht vor dem stattlichen Feldherrn, der von seinem zahlreichen Stabe umgeben ist. Mein Gott, wenn ich daran denke! Die Herren sind gerade beim Frühstück, sie essen und trinken nach Herzenslust. – Gerade sagt einer: »Exzellenz, es ist kein Wein mehr da« … Ich gestehe, zum erstenmal wird's mir dunkel, bitter ums Herz, seit gestern keinen Bissen Brot, keinen Tropfen Wasser – keinen Augenblick Ruhe – und hier die Sieger beim stärkenden Mahle … Ich weiß auch nicht, was ich rede – die Tränen rieseln über mein Angesicht, ich bitte um Schonung für die Gemeinde, um einige Mannschaften, damit doch die Leichname von den Gassen aus unserer Mitte entfernt und begraben werden. Und ich habe keine Fehlbitte getan. Der General ist wohlwollend und freundlich und gibt Befehl, es sollen sogleich zwei Abteilungen Pioniere abgesandt werden mit der Weisung, die Arbeit in Angriff zu nehmen. Ein schwerer Sorgenstein fällt von meinem Herzen; ich danke, so gut ich kann, und nun geh's hinaus an die erste Bestattung der Toten. Aber welche Arbeit, in die dürre, felsenharte Erde eine große 4-5 Fuß tiefe Grube zu graben! Mehrere Stunden vergehen, ohne daß eine solche Ruhestätte vollendet ist. Unterdessen werden die Leichen herzugetragen – in kläglichem –, manche in unbeschreiblich schauerlichem Zustande, endlich werden sie mit den Kleidern, die sie noch anhaben, hinabgelassen in das gemeinsame Grab, wo in fest geschlossener Reihe 30-40 Mann nebeneinander liegen. Das ist die erste Schichte. Dann kommt die zweite. Eine gleiche Zahl entseelter Kriegsopfer wird auf die erste gebettet – eine kurze Einsegnung wird über sie gesprochen und ein abgebrochenes Reis bezeichnet einstweilen die Stätte, wo sie ruhen. Dann geht's zur zweiten Grube, wo dieselben Marterbilder uns entgegentreten, und wo in gleicher Weise der Tod seinen Raub verschlingt. Das ist die erste, durch die größte Not gebotene Beerdigungsarbeit. Viele, wenigstens doch 200 Gefallene sind in diesen Vormittagsstunden bestattet worden. Aber was ist diese Zahl gegen die, welche noch draußen liegen, denn nach allen Richtungen hin ist ja dieselbe Zerstörung. – Es muß wohl bald Mittag sein. Eine Ewigkeit schon gehe ich da herum in dieser brennenden Hitze. Ich bin todesmüde … wenn ich nur einmal wieder daheim wäre! …