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Die Schlacht bei Weißenburg

4. August.

Bei Tagesanbruch mußten wir heimwärtsziehen. Die Artillerie mit ihren Kanonen, Mitrailleusen und Munitionswagen stationierte noch auf Graf v. Leusses Bierkeller und den nahen Anhöhen; Hunderte von Zelten bedeckten die nach dem Großenwald aufsteigenden Hügelrücken; ein munteres, freudiges Getöse wogte durch die Morgenluft. Zwischen der Kaserne aber und der alten Kirche, wo gestern abend die Zuavenbenedeiung stattgefunden, rastete jetzt auf der Straße und hüben und drüben auf den Chausseegräben ein Regiment Turkos. Ha! da waren sie endlich, die schmerzlich ersehnten Söhne des Propheten, die fürchterlichen und gefürchteten Sturmkolonnen der Wüste. In der Tat, Verwunderung und Schrecken erregende Horden. Wir machten uns näher heran: Auffallende, orientalische Kleidung; kupfergelbe, sonnenverbrannte Gesichter; ruhig stupide und wieder lebhafte, intelligente Figuren; mitunter prächtige numidische Typen; kleine verschrumpfte und hohe markige Gestalten; dann und wann ein baumstarker Neger: o weh, deutsche blondlockige Jugend; wo die einbrechen, gibt's Heulen und Wehklagen. Wir mußten weiter. Kaum waren wir in Fröschweiler, da rief ein Kranker in Nähweiler um Beistand. Wir eilten auch dort hinüber und sahen zum zweitenmal die gestern gebenedeiten Zuaven, an einem Wiesenabhang in nordöstlicher Richtung gegen Langensulzbach-Lembach kampierend. Es war etwa 9 Uhr. Schon gleich in Oberdorf konnte man merken, daß verhängnisvolle Begebenheiten im Anzuge waren. Alles war in der größten Aufregung; die Offiziere standen gruppenweise zusammen; flüsterten einer dem andern etwas ins Ohr; Blicke und Gebärden deuteten unruhig nach dem Liebfrauenberg hinüber. Die Soldaten wogten auf und ab; es toste wieder so ganz eigentümlich durch die Massen; es fielen auch einige Worte: » il y a du nouveau là bas! dort unten gibt's Neues«; oder » ça commence à chauffer, der Brand geht los«. Fragte man den einen oder den andern: »Was gibt's?« – »Ich weiß nicht«, war die Antwort, oder: » c'est une petite affaire d'avant-postes du côté de Wissembourg, ein kleines Vorpostengefecht bei Weißenburg«. Unsern Bauern war der ganze Alarm noch ein Rätsel; sie ahnten aber doch mit sicherm Instinkte: jetzt muß es anders werden; entweder Franzosen oder Preußen. – Und plötzlich, wie wenn ein unsichtbarer Feuerreiter herübergeflogen wäre, plötzlich verbreitete sich die Hiobspost und der Kanonendonner verkündete es dröhnend durch die Berge, daß die Deutschen Weißenburg überfallen hatten und der erste Waffentanz dort unten an der Grenze aufgespielt wurde. Nun denke sich einer in unsere Mitte: diese Bestürzung, dieses Aufbeben aller Gemüter. Sie kommen! sie kommen! Herr Gott, sie kommen herüber! Und dieses Durcheinander und Durcheinanderfragen: Wo? wo? Wer ist in Weißenburg? Wo ist der Marschall? Wo ist der Ducrot? Dieses angstvolle Zappeln zwischen Furcht und Hoffnung – dieses fieberheiße Bangen nach guter Botschaft: »Wie steht's? wer wird's gewinnen? werden sie hinausgeschlagen? – Noch nichts Neues?« – Und die tollen, wütigen Siegespropheten: »sie kommen nicht herein, oder nicht lebendig hinaus! in der Scharrhohl müssen sie untergehen, am Schafbusch kriegen sie die letzte Ölung.« Und die Furchtsamen: »ja, ja! – 's geht nicht gut dort unten, horch wie's donnert!« – Und die Verzagten: »sie kommen, sie kommen, Herr Jeses, sie kommen!« Da gab's wieder Auftritte – noch steht alles so lebendig vor unsern Augen – wer's nur beschreiben könnte! –

So vergingen, als wären sie an die Ewigkeit gebunden, vier bange, entsetzliche Stunden … und die Stafetten sprengten hin und her, und die Generale kommandierten, und die Soldaten schwirrten durcheinander … da kam, gegen 2 Uhr, die erste Kunde – man wollte, mußte die Wahrheit solange als möglich verhehlen. – »Ein kleines Gefecht hat stattgefunden; General Douay hat unvorsichtig angegriffen – zu wenig Mann – ce n'est rien, ce n'est rien.« Aber der unsichtbare Feuerreiter sauste hinterdrein: »Die Franzosen haben's verloren, Weißenburg brennt, General Douay ist gefallen, der Feind ist im Lande.« – Und so war's auch. Die Deutschen hatten unter der Führung des Kronprinzen die Grenze überschritten, Weißenburg überrumpelt, die Besatzung hinausgeschlagen; unter mörderischem Feuer und schweren Verlusten den Bahnhof, den Gaisberg erstürmt; die ersten Turkoscharen vernichtet, eine Kanone und das ganze Zeltlager erbeutet, 1000 Gefangene gemacht und ihr siegreiches Banner aufgepflanzt auf vaterländischer Erde. – War das Rien? – Das war nicht Rien. Das war viel, sehr viel, mehr als genug. Denn mit dieser ersten Niederlage gingen die Weißenburger Linien verloren; war die erste Grenzfestung erobert, die glorreiche Tradition des französischen Heeres wo nicht gebrochen, doch bedenklich erschüttert; der Kampfesmut der deutschen Armee unendlich gehoben; das ganze Unterland vom Feinde überflutet; das Elsaß schmachvoll preisgegeben und moralisch verloren! Das war nicht Rien, wir werden es später noch sehen. – Es war der erste Wetterschlag, der Frankreichs Stern den Untergang prophezeite.

Aber, ums Himmelswillen, wie war das möglich geworden? Hat man denn wirklich nicht gewußt, daß der Kronprinz dort unten in der Pfalz ein mächtiges Heer unter seine Fahnen sammelte? Und wenn man's gewußt, hat denn der Marschall Mac Mahon mit seinen Generalen glauben können, die rauflustigen Bayern und Schwaben blieben dort ruhig sitzen und rauchten ihr Pfeifchen oder bliesen Trübsal nach Noten, bis wir kämen und jagten sie mit der Marseillaise von dannen? Eine sonderbare Strategik. – Warum hat man nicht gleich eine bedeutende Armee an die Grenze geworfen, Weißenburg armiert, die umliegenden Anhöhen befestigt, die so wichtigen, dem Feinde so verderblichen Engpässe der Vogesen nicht verschanzt? War denn die ganze Position nicht verteidigungsfähig? Man gehe hin und staune über den freveln Leichtsinn, über die unverzeihliche Untreue. Freilich, daß unter den ersten Brandgranaten die Turkos in Weißenburg herumgelaufen seien wie herrenlose Banden, ohne Gewehre, ohne Munition – das glauben wir nicht. Daß der General Douay um 11 Uhr noch hemdärmelig in Steinselz beim Frühstück gesessen und auf die Meldung eines Adjutanten: »das Gefecht nimmt eine schlimme Wendung« – die Antwort gegeben habe: » c'est une bagatelle, je viendrai tout à l'heure« – ist eine kleinliche Rache des verwundeten Patriotismus. Aber noch einmal: warum hat man zum Schutze, zur Verteidigung des Vaterlandes nichts, fast gar nichts getan? Und wo ist während des Kampfes der große Ducrot geblieben? War nicht an jenem Tage der General Douay seinem Oberkommando unterstellt! Hatte er nicht den braven, unglücklichen Waffenbruder gezwungen, die Schlacht anzunehmen? Und war er nicht selbst, der heillose Mort ou Vivant, schon früh morgens mit dem 76. und 78. Linienregiment von Fröschweiler gegen Lembach resp. Weißenburg aufgebrochen? Kreuzbataillon! wo ist er geblieben? Warum hat die ganze hier liegende Armee keinen Vorstoß, sei's gegen Lembach, sei's gegen Sulz, sei's am Gebirge hinab unternommen? Das sind Fragen, das sind Rätsel; keine Pariser Phantasie wird sie regelrecht entschleiern – der einfältige Bauersmann aber schüttelt den Kopf und denkt im stillen: Da ist's nicht geheuer zugegangen.

Und der gute Xaveri? Ach ja, fast hätte ich ihn vergessen, den armen Teufel! Der Magnet seines Schicksals hatte ihn an jenem Tage wieder durchs Gebirge, nach Steinbach gegen Fischbach getrieben. Und wie wonnig und rosig war gerade am 4. August die Sonne über seinen Calebspfaden aufgegangen, und wie tanzten die 20-Franken-Stücke wieder so zauberisch in seinem Gehirn! Denn gerade an diesem Tage sollten die Bayern abgefaßt und nach Reichshofen geschleppt werden. Mehrere Regimenter waren abmarschiert, das schmerzlich erwünschte Wildbret zu kapern. Xaveri taumelte vor Lust und Entzücken. Da begegnet ihm gegen vier Uhr hinter Lembach der Briefträger: »Was gibt's Neues?« – »Neues? Weißenburg brennt!« – »Was?« – »Weißenburg brennt, die Schlacht ist verloren, sie kommen, sie kommen!« – »Heiliger Sankt Joseph, jetzt ist alles verloren!« – da steht er wie vom Blitze getroffen. Noch ein paar Minuten: » En arrière! en arrière! ruft's auf allen Flanken!« Der ganze Troß macht kehrt. – Xaveri entrinnt mit der allgemeinen Retirade und zieht am Abend trübselig und alle Heiligen verwünschend am Schollenbrunnen herauf in sein Haus. O tempora, o mores, zum ersten 20-Franken-Stück erhält er kein zweites, den Marschall kann er nicht mehr zu Gesicht bekommen; der schönste Traum seines Lebens ist in nichts zerronnen, und so rächt er sich denn auf die furchtbarste Weise … an seinem verräterischen Bart. Den andern Tag kannte ihn kein Mensch mehr – und die Fischbacher sollten auch um keinen Preis am 6. August das Vergnügen haben, ihm die Hand zu drücken – oder das Lebenslicht auszublasen.


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