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Folgen der Schlacht bei Weißenburg

Die Fama erzählt, der Kronprinz habe, nach beendigtem Kampfe, unter ungeheuerm Jubel das Schlachtfeld beritten, zum erstenmal seine siegreichen Truppen, zum letztenmal seine gefallenen Getreuen gegrüßt, und sei dann auch in hochherziger Feindesliebe herangetreten und habe vor dem starren Bilde des erschlagenen Galliers (Douay) sein Haupt entblößt und der Schar von Braven, die ihre Tapferkeit mit dem Heldentod besiegelt, ein Wörtlein freundlicher Anerkennung gezollt. So ziemte sich's dem deutschen Feldherrn. Großmut legt ein Ölblatt in die Wunden des Besiegten und ein Lorbeerblatt an die Krone des Siegers. Aber lassen wir solche Betrachtungen.

Dem Erzähler zuckt's immer noch in allen Fingerspitzen, und er kann es nicht verschmerzen: der Tag bei Weißenburg war ein Unglück, viel größer, viel folgenschwerer als man glauben sollte. Denn in Kriegszeiten, und besonders bei den ersten Schlachten, kommt es viel weniger auf den materiellen Verlust einer Festung, eines Landstriches – und weil doch einmal Menschenleben geopfert werden müssen – auf den Verlust einiger Hunderte oder Tausende von Soldaten an als auf die moralische Erschütterung des Heeres und der Bevölkerung; denn nicht die Schwerter sind's allein, sondern vor allem die mutigen Herzen, die nächst Gott über Sieg und Niederlage entscheiden. Man habe es nur einmal miterlebt und gesehen, wie in solchen Zeiten die Einbildungskraft in zügelloser Spannung auflodert und alle Sinne der Menschen eine fieberhafte Empfänglichkeit, eine unglaubliche Tragweite erreichen! Was die Leute alles sehen, hören, glauben, wie von Zaubermächten gebannt, die absurdesten, unmöglichsten Dinge! Wie die Schreckensnachrichten und Schreckensbilder mit Blitzesschnelle durch die Lüfte fliegen, betäubend auf die Landleute niederstürzen und alle Herzen durchschauern, aufjagen, peinigen zum Rasendwerden: Ha! das sind noch ungeschlagen die meisten verlorenen Schlachten.

So war's auch am Abend des 4., in der Nacht und am Morgen des 5. August. Man sollte es nicht für möglich halten – und mancher lächelt jetzt still vergnügt bei der Erinnerung an die vergangenen Tage – und doch ist es Wahrheit: Wenn dreimalhunderttausend wilde Menschenfresser zähneknirschend durchs Liebfrauental heraufgebrochen wären, die Angst, das Wehgeheul hätte nicht ärger sein können, als wie am Donnerstag abend alle Geister zusammenbrüllten: Die Preußen kommen, die Preußen kommen! Sie kommen! Sie machen alles hin, sie nehmen alles weg, alle Männer von 15-60 Jahren; o du großer Gott im Himmel dort oben, erbarm dich, was fangen wir jetzt an? – »Seid doch ruhig, seid doch in Gottes Namen ruhig; sie sind ja Menschen; sie werden euch nicht umbringen!« – »Ja drunten in Steinselz, drunten in Kleeburg – alles Vieh, alle jungen Leute haben sie mitgenommen.« Da half kein Bitten, kein Trösten; eine unaussprechliche Panik hatte sich mit Bleigewicht auf alle Herzen geworfen; sie glaubten steif und fest, es sei alles am letzten.

Und wenn nur zu den einheimischen Verzagten nicht auch noch die Auswärtigen aus der Umgegend nach Fröschweiler heraufgerannt wären! Aber es begreift sich, die Barbaren waren hinterdrein, und die Angst vor den Mordbrennern trieb sie vorwärts unter den Schutz des hier versammelten Heeres. Es war noch nicht Nacht, da kamen schon die Grenzwächter von Lembach herein und baten flehentlich, wir sollten sie doch im Heuschober übernachten lassen; da kam eine ganze Schar von Jünglingen aus Görsdorf bebend an allen Gliedern, wir möchten ihnen doch eine Zuflucht im Hausgang gestatten; da stürzten plötzlich zum Doktor S. vier alte Jungfern herein, im Nachtgewande, all ihre Habe in zugebundenen Strümpfen haltend und fleheten händeringend, der gute Mann möchte doch ihren Mammon vor den Räubern verstecken. Und so überall. Das war der Eindruck der Schlacht von Weißenburg auf unser Volk. Und nun sage einer: »Das sind aber furchtsame, feige Hasenfüße, diese elsässischen Bauern … Wie? Nicht mehr Courage vorm Feind? Nicht mehr Standhaftigkeit fürs Vaterland?« Wer so sprechen wollte, der weiß nichts; der hat keinen Krieg erlebt; der kennt nicht des Volkes innerstes Seelenleben; der hat keine Ahnung von den fürchterlichen, unsichtbaren Kräften, die in solchen Tagen das Volksgemüt erschüttern.

Wie war's denn drüben in der Pfalz, in Baden und noch weiter nach Deutschland hinein? Hatten nicht auch dort die Leute beim bloßen Turkonamen schon Gänsehaut bekommen und manche den Bündel geschnürt, bevor noch ein französischer Soldat gegen die Grenze kam?

Doch wie stand's nach dieser ersten Schlacht bei unserm Heere! Suum cuique! (Jedem das Seine!) Man denke sich so recht hinein in die Realität der Geschichte. Frankreich ist die erste Militärmacht der Erde; die französische Armee hat Sieges- und Ruhmestraditionen wie keine andere in Europa: Krim, Italien, China, Mexiko usw. Jetzt wird auf einmal mir nichts dir nichts der Krieg gegen Preußen erklärt. Die französische Armee wird natürlich wie bisher ihren Waffenruf glorreich erfüllen; sie wird ausmarschieren, angreifen und siegen. Das versteht sich von selbst, das kann gar nicht anders gehen; das ist ein unbestreitbarer Glaubenssatz vom Kaiser bis zum bescheidensten Soldaten herab. Aber siehe da, diesmal fallen die Würfel anders – der große Schweiger in Berlin ist uns zuvorgekommen. Die französische Armee ist nicht ausgerüstet; nicht schlagfertig; sie verhungert im eigenen Lande; sie liegt an der Grenze und kommt nicht vorwärts, nicht einmal nach Landau, geschweige nach Berlin. Die Rollen sind getauscht; sie kann nicht angreifen, sie wird angegriffen, plötzlich, unversehens, und (was bislang ihre Aufgabe nicht gewesen) sie muß sich verteidigen! Es gibt Schläge, harte, greuliche Schläge – von den Bayern, von den Preußen – die fechten mit Löwengrimm; die schreiten vorwärts und wenn der Boden weicht; die haben eine furchtbare Artillerie und zielen wie Schwarzkünstler; die lassen sich auch vor Zuaven, Zephiren und Turkos nicht bange machen; die brechen massenhaft über die Grenze, und wenn die ersten Reihen niedergemäht sind, so stehen wieder Tausende, Hunderttausende hinterdrein. Kurz, das ganze Rechenexempel ist auf den Kopf gestellt und die letzten Strahlen der Abendsonne leuchten bei Weißenburg über rauchende Trümmer und blutige Leichen.

Soll das auf eine Armee, auf eine französische Armee nicht einen tiefen, erschütternden Eindruck machen?

Ja, es ist Tatsache, jene erste Niederlage hat auch bei unserm Heere die große Geringschätzung des Feindes, die allzu freudige Siegeszuversicht gewaltig herabgestimmt. Das müssen unsere Leute in Sulz beim Rückzug der Geschlagenen ohne Zweifel gemerkt haben; das haben auch wir am Donnerstag abend noch den einzelnen Flüchtlingen und Verwundeten wohl angesehen; das konnte man besonders am Freitag morgen, als die Überbleibsel jenes Kampfes hier anlangten, mit Händen greifen. Die Generale machten finstere, bange Gesichter; die Offiziere standen schweigend, betroffen zusammen; die Soldaten zogen bewegt und ängstlich vorüber. Und diese tiefe, unheimliche Ruhe! Man spürte es Hohen und Niedern ab: schwere Ahnung durchwühlt ihre Brust; das Herannahen eines mächtigen, furchtbar entschlossenen Feindes, die sichere Aussicht auf eine blutige Völkerschlacht durchbebt ihre Herzen; ihre Begeisterung ist dahin; ihre moralische Kraft ist gebrochen; sie werden kämpfen, sie werden sich mit Verzweiflung verteidigen, aber – nicht siegen.

So stand's bei der Armee. Und nun sage einer: Waren das die Helden, die in einem Siegesflug ganz Deutschland erobern wollten? Wie? Nicht mehr Mut, nicht mehr Entschlossenheit angesichts des heranrückenden Feindes? Wer so sprechen wollte, der weiß nichts, der kennt nicht die Weltgeschichte, die auch zu den Heeren spricht: »Heute mir, morgen dir!«, der ahnt nicht die dunkle Verkettung zwischen Schuld und Strafe im Leben der Völker; der weiß nicht, daß der Schrecken wie ein geheimnisvolles Gericht aus höhern Sphären niederfahrend auch die todesmutigsten Legionen einmal ergreifen kann und die glorreichsten Fahnen in den Staub wirft. Sie werden deswegen nicht weniger tapfer fechten – das wird der 6. August in blutigen Ziffern schreiben, aber es gilt von ihnen: » Ave Caesar! morituri te salutant. Heil dir Cäsar! dich grüßen, die da sterben.«


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