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Jetzt wird's stiller … Der Kanonendonner entfernt sich nach Westen. Wir atmen auf in der dunkeln, feuchten Tiefe. Noch ein Schuß, noch eine Mitrailleuse, noch vereinzeltes Gewehrknattern … es wird ruhiger. Plötzlich hören wir starke Männerstimmen, mächtige Kolbenstöße auf die Platten der Hausflur … »Hurra! Sieg! heraus! heraus! die Deutschen sind da!« O jetzt schlägt die schwerste Stunde meines Lebens! Wer soll zuerst hinaufgehen? Ich muß gehen … Ich gehe, in Gottes Namen, und soll's mein armes Leben kosten. Laß fahren dahin … Ich nehme mein kleinstes Kind auf den Arm (fürwahr ein guter Schutzengel!) und schreite rasch die Treppe aufwärts; die Gräfin v. Dürckheim unmittelbar hinter mir. Die andern kommen nach. Ich trete vor, leichenblaß, aber doch getrost, und vor mir steht ein junger deutscher Offizier, umgeben von andern deutschen Kriegern. Er ist in einem schreckenerregenden Zustande, schäumend, wütend; die Kleider vom Leibe gerissen … Er hält mir den Revolver vor die Brust und herrscht mich an: »Aus diesem Hause ist geschossen worden!« – Ich hatte ein gut Gewissen auch für die andern und antwortete ruhig: »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, aus diesem Hause ist nicht geschossen worden.« – »Wer sind Sie?« – »Ich bin der Pfarrer dieser Gemeinde und diese Dame ist die Gemahlin des Grafen von Dürckheim. Die andern sind Glieder unserer Familien.« – »Ist der Graf da?« – »Nein.« – »Sie sagen, Sie seien der Pfarrer der Gemeinde, ist möglich; aber ich muß Sie vorläufig verhaften; … dann werden wir weiter sehen.« – »Nun, Frau Gräfin«, wandte er sich zu dieser mit verbissenem Zorn, »Sie sehen, wie es mir im Kampfe ergangen ist; geben Sie mir mal schnell einige Flaschen Wein und ein Paar ›stramme‹ Hosen! Sie werden ja doch wohl von Ihrem Herrn Gemahl oder von Ihren Herren Söhnen so ein Paar dunkle › stramme‹ Hosen haben … Wein her für meine Mannschaften!« Ich stand da gefangen und schwieg. – Plötzlich schreit er mit Donnerstimme: »Sind Franzosen hier?« – Ich fühle es heute noch … In diesem Augenblick heben sich die Haare auf meinem Kopfe; ich möchte vor Schrecken zusammenbrechen … Was soll ich sagen? Es liegen ja zwei bewaffnete Franzosen im Keller! – Sag ich's ihm? Dann werden wir alle niedergemacht; sag ich's nicht, so muß ich lügen … Gott erbarmte sich meiner in diesem Augenblick … Ich bleibe ruhig, schaue ihm fest ins Auge und sage: »Mein Herr, wenn Franzosen hier sind, so kann ich nichts dafür!« – Er nimmt die Antwort hin, sucht nicht weiter, trinkt wacker drauflos, wird etwas ruhiger und – was ich jeden Augenblick aufs neue fürchte –, steigt nicht hinab in den Keller, wo die armen Franzosen bleiben, bis sie den andern Morgen als Krankenpfleger, mit dem roten Kreuz versehen, wieder zum Vorschein kommen. – Wir sind noch immer Gefangene, aber wir sehen doch bald, daß unser Gebieter kein Unmensch ist. Nachdem er sich mit seiner Mannschaft gehörig erquickt und die »strammen« Hosen in Empfang genommen hat, macht er das Tor auf, läßt mich fortgehen mit meiner Familie und unter Dank und Freude schreiten wir hinaus ins Freie. O Luft und Licht und Leben! Mir kommt es vor wie ein seliges Entrinnen aus fünfstündiger Hölle. And die andern sind den ganzen Tag darin gelegen! Aber im Schloßhof, dieses Getöse! Nichts als Himmel und Soldaten! Und mitten drin der große, prächtige Generalstab! Man kann sich denken, was wir alle für Gesichter machten …
Ein ergrauter, stattlicher Krieger (General Hartmann), der unsere Angst wohl bemerkt hat, spricht mit lauter Stimme, aber doch in sanftem Tone: »Gehen Sie nur ruhig nach Hause! Wir tun Ihnen nichts zuleid; wir führen nicht Krieg gegen die Völker, sondern nur gegen den bewaffneten Kaiser.« Wir machen uns unter wehmütigem Herzklopfen von dannen. 's ist einhalb sechs Uhr, als wir zum Schloßhof hinaustreten. Ach, wie ganz anders sieht es jetzt hier oben aus! Wie ist das freundliche Dörflein eine Stätte des Jammers und der Verwüstung geworden! Da liegen zwei Häuser in Trümmern; weiter unten brennt eine ganze Reihe von Scheunen! Alle Dächer sind zerschlagen; alle Läden und Fenster zerschossen; überall zertrümmerte Wagen, tote Pferde, blutige Leichen. Man sieht, der Kampf hat bis ins Dorf hereingewütet; und droben am Himmel steht die Sonne so bleich, so grinsend, so schrecklich, wie wir sie noch nie gesehen! Wenn wir nur durchs Getümmel könnten! Diese Truppenmassen! wir kommen nicht durch … Da stehen wir mit unsern Kindern wie ein Häuflein heimatloser Exulanten, und die stürmen vorüber und schreien Hurra! Viktoria!, daß die Erde bebt … Da kommt der Schullehrer, atemlos, außer sich vor Schrecken: »Herr Pfarrer, die Kirche brennt!« Wahrhaftig, der Kirchhof steht in Flammen! Allmächtiger Gott, ist's denn möglich? Die Kirche brennt, und ist oben und unten voll von Verwundeten! Sie brennt ganz oben in der Spitze! O helfet unsere Kirche löschen! Mit einigen Eimern Wasser können wir sie retten! – Ein General spricht kurz und milde: »Das ist nicht möglich … Wir müssen dem Feinde nach … lasset sie in Gottes Namen brennen, wir bauen sie wieder auf!« – Was anfangen? Wir können der Feuersbrunst nicht wehren; wir haben kein Wasser und keine Hilfe. Wir müssen das Gotteshaus der Verwüstung preisgeben; herzzerreißend lodert die feurige Siegesfahne gen Himmel. O Herr, wie furchtbar sind deine Gerichte über uns und unser Heimatland!
Endlich gelangen wir, an allen Gliedern bebend, wieder ans Pfarrhaus. Ich zähle die Häupter meiner Lieben und sieh, es fehlt kein teures Haupt.
Aber ich muß sogleich noch einmal auf jenen deutschen Offizier zurückkommen, welcher mich, mit gespannter Pistole in der Hand, in der Schloßflur verhaftet hat. In der Tat, ein wütendes Männlein, aber doch eine feine Erscheinung. Den andern Morgen geht er ins Schloß, fragt nach der Frau Gräfin, stellt sich vor, entschuldigt sich in den höflichsten Ausdrücken wegen seines gestrigen kriegerischen Auftretens, dankt nochmals verbindlichst für die schönen strammen Hosen und verschwindet. Auch zu mir kommt er und spricht: »Herr Pfarrer, ich habe Sie gestern etwas unsanft angefaßt; gestern war ich kampfberauschter Soldat, heute bin ich wieder ein Mensch; bitte, nehmen Sie mir das Geschehene nicht übel« und reicht mir die Hand zum Abschied. Und was im Leben nicht alles Vorkommen kann! Im 72er Jahre bin ich einmal in Weißenburg am Bahnhof; muß lange warten; geh' auf und ab in der Vorhalle. Da spaziert ein kleines, strammes Männchen, das eiserne Kreuz auf der Brust; spaziert hin und her … wir begegnen uns wohl 10-20 mal – schauen einander ins Angesicht – bekannte Züge … Ich denke: Der ist's. – Er glaubt: Ich bin's. Und doch will keiner den Anfang machen … Endlich gehen wir aufeinander zu: »Sind Sie nicht der Offizier, der mich Anno 1870 – gefangen genommen?« – »Und sind Sie nicht der Pfarrer von Fröschweiler?« »Ich bin's. – Ich bin's.« – Man denke sich die Überraschung und wie kurzweilig die Wartezeit abgelaufen ist.