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In der vergangenen Nacht sind wieder viele gestorben. Was Wunder? Seit Samstag verwundet und die meisten ohne ärztliche Hilfe, ohne ein Krümchen Brot, ohne einen Tropfen Labsal! Sie mußten ja unterliegen. In unserm Schuppen sind auch mehrere Leichname. Die Toten werden allenthalben zu den hintern Scheunentoren hinausgeschafft und in die Grasgärten begraben: ein Baumreis oder zwei übereinander genagelte Holzstäbe bezeichnen die Ruhestätte. Viele unserer Leute denken gar nicht daran, daß die Turkos samt und sonders Mohammedaner sind und so pflanzt denn manch Bäuerlein in seiner guten Einfalt ein Kreuz auf des verscharrten Turko Grab! Der Christenglaube mit seiner großen Auferstehungshoffnung ist doch noch eine Macht in unserm Volke!
Für die Lebenden aber können jetzt bessere Rettungsmaßregeln getroffen werden. Es sind ja die unentbehrlichsten Heilmittel vorhanden. Gehen wir zuerst ins Schloß. Du liebe Zeit! Welche Veränderung! Wie sind die schönen freundlichen Räume zu einer großen Greuel- und Jammerstätte geworden! – Überall Verwundete, nur wenige Zimmer sind frei geblieben. Die Küche ist von den Ärzten in Beschlag genommen. Die Scheunen, Stallungen, Schuppen, Futtergänge sind überfüllt; wie gesagt: 900 blutrünstige Menschen. Das kann unmöglich so fortgehen; ein wahrer Pesthauch qualmt aus allen diesen Elendshöhlen. Die Ärzte selber sagen: wenn nicht Luft und Raum gemacht wird, so haben wir in zwei Tagen den Typhus. Aber was anfangen? Aus Jägerthal, Niederbronn, Hagenau, Sulz sind freilich schon wieder Freunde da, um Verwundete zu holen; – sie tun, was sie können, aber im ganzen ist die Erleichterung doch eine geringe; und zum Forttransportieren der Leute fehlen uns die Fuhrwerke; auch wird jede Bewegung durch die ewigen Truppenmärsche gehemmt … Not bricht Eisen! »Wie wär's«, sag' ich zum Oberstabsarzt, »wenn wir aus der Gesamtmasse der Verwundeten die leichter Verwundeten wegnähmen und im ganzen Dorfe, wo etwa noch Raum in Kammern und Scheunen vorhanden, in kleineren Abteilungen unterbrächten?« – Der meint, das könnte gelingen. Wir gehen in die Scheunen, Ställe und Schuppen und rufen: »Wer kann noch marschieren? Heraus! heraus!« O unvergeßlicher Augenblick! Sie antworteten von allen Seiten: » moi, moi, moi aussi! nehmt mich mit, führet mich fort!« Sie erheben sich, die bleichen, starren Lazarusgestalten an allen Enden, sie schwanken, kriechen auf allen Vieren heraus ins Freie, im Nu ist's eine lange Krüppelkolonne und vorwärts geht's, stöhnend, hinkend, krabbelnd, ein bunter Märtyrerzug, zum Schloßtor hinaus, die Straße neben den fröhlich einherschreitenden Truppen entlang, und stationenweise, wo noch ein Plätzchen frei, werden zwei, drei – vier, sechs dieser Unglücklichen abgesetzt, einquartiert bis auf weitere Verfügung. Die Bauern nehmen sie auf zu den andern; die Frauen, Jungfrauen, wer Herz und Hände hat, pflegen sie einstweilen und versorgen sie mit dem, was sie haben, wie es eben gehen kann. Freilich heißt's in manchem Hause: »Was sollen wir denn um Gottes willen für sie kochen?« – »Kocht Wasser und Salz und etwas Grünes oder ein paar Kartoffeln dazu … Marsch, wir müssen weiter!« – Gottlob, auch dieses Unternehmen ist gelungen. Aber seltsam mit diesen Kranken: sie möchten nur alle fort, weit fort aus unserer Mitte, gleichviel wohin, in welches Dorf, welche Stadt oder Gegend – das ist der Schrecken, das Heimweh, die Hoffnung … aber wir können's nicht erzwingen. Sie müssen bleiben, bis ihre Stunde kommt.
In den Schloßräumen ist jetzt die unmittelbare Gefahr ansteckender Seuchen beschworen. Es kann mit einiger Ruhe und Ordnung gearbeitet werden. Die wenigen Ärzte sind frisch auf dem Plan. Große Transporte von Wasser werden aus Reichshofen gebracht. Die Wunden werden ausgewaschen, verbunden – leider fehlt's gar sehr an Verbandzeug. – Im Hofe steht der Operationstisch; da werden, in schweren Fällen, die Menschenleiber darauf gelegt und die zerschmetterten Glieder, Arme und Beine, fallen unter der Säge, wie Holzsplitter unter der Axt des Waldmanns. Da gibt's Auftritte! Marterbilder! Wehgeschrei! Und doch mitten in den furchtbarsten Schmerzen diese Geduld, diese eiserne Standhaftigkeit! Wie froh sind die Armen, wenn endlich die qualvolle Reihe an sie kommt; wie dankbar, wenn nach ausgestandener Operation einige Linderung die zerschlagenen Gebeine durchströmt, ein Hoffnungsstrahl die verschmachtende Seele erleuchtet! O, was kann man da lernen! Den Ärzten zur Seite stehen die paar Krankenwärter; vor allem unermüdlich auf dem Posten die zwei prächtigen Söhne des Grafen. Sie heben, tragen, waschen, verbinden, dienen wie Felddiakonen mit einer Aufopferungsfreudigkeit, mit einer Selbstverleugnung, die jedermann Bewunderung einflößt. Ebenso die Gräfin. Mit stiller Ergebung trägt sie die große Last und Hitze dieser Tage. Mit mütterlicher, sorglicher Liebe überwacht und ordnet sie alles, was zum Wohl und zur Rettung der verwundeten Krieger beitragen kann. Auch die Dienerschaft wetteifert in emsiger Geschäftigkeit, und daß wir sie nicht vergessen, die jugendliche Karoline Hiller: diese Selbsthingabe! diese Ausdauer! diese Todesverachtung!
Wie im Schloß, so geht's auch im Schulhaus. Dort schaltet und waltet der Oberstabsarzt, unser lieber Sarrasin, ein edler, unvergleichlicher Mensch, angetan mit heldenmütiger Energie und herzgewinnender Freundlichkeit. Dort arbeitet er jetzt im blutigen Laboratorium an Hunderten verstümmelter Mitmenschen. Soeben hat er einem Kürassieroffizier, einem wahren Goliath, den Arm abgenommen, nachdem er ihm eine starke Dosis Kirschwasser eingeschüttet. Wie ein wildes Tier bäumt sich der ungeheure Körper, aber in einem Augenblick ist's geschehen; schon hat er wieder einen andern unter den Händen. Die jungen Hilfsärzte besorgen das weitere. Fleischbrühe und sonstige Stärkungsmittel stehen zur Verfügung. Auch dort sind einige Krankenwärter. Der Schullehrer und seine Familie leisten kräftige und freudige Mithilfe. Einer meiner Brüder besorgt die Kranken im elterlichen Hause (die lieben Alten sind wieder ausgewandert), greift auch sonst überall, wo es schwere Arbeit gibt, mit unverdrossenem Eifer zu. Im Pfarrhause geschieht, was möglich ist. Unsere Milch leistet gar köstliche Dienste. Ach, es sterben so viele; auch der liebe junge Sergeant ist im Verscheiden. – In allen anderen Häusern hilft und dient die barmherzige Liebe. Wenn nur mehr Ärzte da wären; es ist rein unmöglich, daß die wenigen nur im Schloß und Schulhaus mit dem notdürftigsten ersten Verbande fertig werden. – Im Dorfe liegen sie noch fast alle in ihrem Blute, und der Tag ist wieder sehr heiß – das Herz möchte einem brechen – sie klagen, heulen, murren … ja sie glauben sogar, man wolle ihnen geflissentlich nicht zu Hilfe kommen: »Ist denn niemand da, der Erbarmen mit uns hat? Sind wir denn Hunde, daß man uns mitleidslos zugrunde gehen läßt?« – Gott, siehe darein, daß doch bald mehr Ärzte und mehr Krankenwärter nach Fröschweiler kommen. In Elsaßhausen, wo eine ungeheure Zahl von Verwundeten in Häusern, Ställen, zwischen Ruinen, auf Dunghaufen liegt, sind schon deutsche Ärzte. Die regieren und hausen dort mit absoluter Machtvollkommenheit. Sie lassen niemand ins Gebiet, ins Dorf. Mögen sie tun, was sie können; sie tun es; wenn nur Menschen gerettet werden, wir sind's zufrieden, wir danken von Herzen. Es wird gewiß auch hier noch mehr geschehen; wenn nur erst diese Nacht noch einmal vorüber ist. Die Nachricht von dem entsetzlichen Elend auf dem Schlachtfelde ist ja schon nach allen Landen hinausgedrungen; nur Geduld … Heute ist schon wieder viel Jammer gestillt worden. Wir haben Speis und Trank erhalten; vielen Verwundeten ist der erste Samariterdienst widerfahren. Gott wird weiter sorgen.