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Bevor aber der Chronikschreiber in der Erzählung großer Ereignisse weiter geht, muß derselbe noch einige kleinere Begebenheiten mitteilen, zumal es ihm weniger darauf ankommt, die nackte geschichtliche Tatsache der Schlacht bei Wörth zu behandeln (worüber, beiläufig gesagt, schon so vieles geschrieben und phantasiert worden ist), als ein möglichst vollständiges Bild seiner persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen zu geben. Und dem geneigten Leser sind vielleicht solche umständliche Schilderungen auch nicht ganz unwillkommen, weil sich in denselben doch manches sagen läßt, das nicht bloß unser Volksgemüt eigentümlich berührt, sondern auch für manchen deutschen Landsmann von Interesse sein dürfte. Nach diesem Präambulo fahren wir weiter.
Wir haben in Fröschweiler auch ein Schloß und eine gräfliche Familie. Beide ragen hoch hinauf in die graue Vorzeit und hatten schon viele Ahnen, als Franz von Sickingen, Götz von Berlichingen und Kuno Eckbrecht von Dürckheim als treu verbündete Kumpane zuweilen auf Burg Drachenfels zusammen hausten, und jener Kuno, in Verbindung mit seinen Gevattern Anno 1552 am Tage Sankt Johannis die Reformation in hiesigen Landen einführte. Ja, ein edles, altes Haus! Denn sie haben für Gott und Vaterland ritterlich gestritten und gelitten, wie denn jener Wolf von Dürckheim auf Schloß Windstein Anno 1676 den letzten bewaffneten Widerstand des Elsasses gegen Ludwig XIV. erst dann aufgab, als die Flammen über seiner Burg und über seinem Haupte gen Himmel schlugen.
Der jetzige Schloßherr, Graf Ferdinand Eckbrecht von Dürckheim, ein biederer Edelmann, war in den letzten Tagen, welche der Katastrophe des 6. August vorausgingen, nicht mehr in Fröschweiler, sondern in Metz, wo er die Kriegstelegraphie ins Leben rufen sollte. Seine Gemahlin aber, eine wackere mutige Seele, war hier geblieben, und leitete mit großer Umsicht und gütiger Festigkeit das gräfliche Haus. Der älteste Sohn stand als Ulanenoffizier drüben bei Hatten, ein braver Ritter; wir werden noch von ihm hören und einen Lorbeerkranz auf seine Ruhestätte legen. Der zweite Sohn stand als Mobilgardeoffizier auf den Festungswällen in Straßburg und hat dort, so gut es gehen mochte, gegen die Belagerung protestiert bis zur Kapitulation am 28. September. Die zwei jüngsten Söhne waren hier und standen der Mutter treu und brav zur Seite.
Schon gleich nach der Kriegserklärung und sobald die ersten Truppen angerückt kamen, war das Schloß das natürliche Hauptquartier der höheren Offiziere. Dort weilte auch die ganze Zeit der alte General Moréno, dem unser Elsässer Wein frühmorgens so trefflich schmeckte und der alle Tage mit etlichen hundert Mannen durch die Gebirgspässe streifte, aber in der deutschen Sprache niemals soweit kam, daß er Pfaffenschlick Ein Engpaß in den Vogesen. sagen konnte, sondern immer nur Paperlick, woher denn auch ein gewisser Wein diesen Namen bewahren wird bis auf die spätesten Zeiten. Der gute alte General Moréno, der übrigens leidend war, wurde durch General D'hérillier abgelöst, und letzterer quartierte sich mit seinem Stabe im Schloß ein, als am 4. August die Schlacht bei Weißenburg geschlagen wurde. Man kann sich denken, wie es damals schon in diesem stillen Hause zuging. D'hérillier war ein lebhaftes, würdiges Männlein, außerordentlich beweglich, streng, und warum nicht auch tapfer?
Unter seinen Stabsoffizieren war freilich einer, der die Koketterie soweit trieb, daß die feinsten Spitzen an seinem Nachthemde nicht fehlten, was natürlich das Gaudium seiner Kameraden höchlich erregte. Dieses als kleine Beilage. Doch weiter in der Erzählung. Gegen 4 Uhr – das Unglück bei Weißenburg war geschehen, und es war zu vermuten, daß der Feind ohne Zögern mit einem Teil seiner Scharen nach Sulz heraufrücken würde – trat General D'hérillier an den jüngsten Sohn heran und fragte: »Wüßten Sie nicht einen Mann, der sofort nach Sulz und weiter hinab reiten könnte, um dem Oberst, welcher den Rückzug zu decken hat, diese Depesche zu überbringen?« – Einen Mann in Fröschweiler unter dem armen Bauernvolk? Da ist kein solcher Mann. Aber Tausende von Soldaten, Hunderte von Offizieren sind da. – Doch der gute 16jährige Jüngling denkt nicht soweit, sondern wie wenn das ganz einfach und gefahrlos wäre: »General, ich reite hinab!« Wahrhaftig. »Jakob, Jakob, meinen Araber, schnell meinen Araber!« – Der Araber muß zum Stall heraus; Sattel und Steigbügel werden übergeworfen; die Sporen sind angeschnallt, die Depesche steckt in der Brusttasche, im Nu sitzt er droben, und ohne daß die Mutter nur bedenken kann, was das auf sich habe, sprengt er von dannen, daß das Feuer unter den Hufen blitzt, der schöne, kühne, aufopferungsfrohe Jüngling. Du armes Kind, behüt dich Gott und komm bald wieder!
Wir schauen ihm nach; wie ein Pfeil fliegt er die Straße hinab; wir sehen ihn nicht mehr; einige Augenblicke dort drüben, jenseits Wörth, sehen wir ihn wieder; es geht bergan, an den Pappeln vorüber … jetzt ist er verschwunden … Behüt dich Gott! Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Er saust durch Merkweiler, Kutzenhausen – in Sulz wollen sie ihn anhalten, – die blonde, begeisterte Gestalt ist verdächtig – sie jagen ihm nach – sie wollen ihn greifen – Hurrah! Vorwärts, immer zu – Sulz vorüber – links hinab – den Wald entlang – dort kommt die Retirade, kläglich, jammervoll – alles in wilder Auflösung, in rasender Flucht.
Er sprengt an den Oberst heran, überreicht die Depesche. (Was war der Inhalt? Gott weiß es!) und rückwärts – die Deutschen sind auf den Fersen – fliegt der Araber mit dem treuen Kinde der Heimat zu.
Es wird Abend – er kommt nicht. Es wird Nacht – er kommt noch immer nicht. Bei Kutzenhausen, Merkweiler stoßen die Trümmer des Heeres durcheinander; er kann nicht vorwärts, doch Angst? die kennt er nicht … Gefahr? die fürchtet er nicht. Ruhig zieht er durchs Getümmel, still sinnend, in poetischen Phantasien, wie immer, reitet er heimwärts – endlich zwischen 9 und 10 Uhr kommt er. Der Mutter den ersten Händedruck, dem Araber eine Liebkosung, dem General einen kurzen Bericht, und der bescheidene Jüngling zieht sich zurück und weiß nicht mehr, was er getan hat.
Wir aber wissen es, und wenn dem harmlosen Knaben damals niemand für seine Treue gedankt hat, so wird der jetzige Dragoner, sobald es not tun sollte, deswegen doch wieder neid- und furchtlos sein Leben in die Schanze schlagen.