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Die württemberger Ärzte

Wenn doch nur einmal diese Truppenmärsche vorüber wären! Dieses ewige Tosen, Prasseln, Traben, Johlen, Tag und Nacht ohne Aufhören! Man wird ganz abgestumpft durch die immerwährende Betäubung. Wo sie nur alle herkommen? und fragt man, ob sie denn nicht bald alle da sind? so lachen sie und sagen: »Noch lange nicht; es kommen noch viele.« Und was sie alles mitschleppen! Wagen, Karren, Kisten, Fässer, Backöfen, Telegraphenstangen, Ochsenherden – eine ungeheure Kriegshaushaltung – o weh! die gehen sogleich nicht wieder nach Hause.

Endlich ist die Nacht doch auch wieder vergangen; walt's Gott, der neue Tag wird neue Hilfe bringen. Die schwerste Trübsal ist ja überstanden. Man gewöhnt sich auch nach und nach an dieses jämmerliche Leben; ja, fürwahr! man ergibt sich noch ziemlich rasch in die unvermeidliche Heimsuchung; wer das nicht könnte, müßte aufgerieben werden …

Während diese Hoffnungen und Morgengedanken unsere Seele bewegen, tritt zu uns herein ein kleiner, schon bejahrter Herr in württembergischer Uniform, gefolgt von mehreren jungen Leuten, wünscht: »Grüß Gott!« und sagt dann in befehlendem Tone: »Herr Pfarrer, ich muß sofort zehn bis zwanzig Scheunentore haben, wo kann ich die kriegen? Wo wohnt der Bürgermeister?« – »Scheunentore?« – »Ja, aber gleich, ich muß sie gleich haben!« – »Da nehmen Sie zuerst das meinige – dort unten, rechts wohnt der Bürgermeister – mit den Scheunentoren wird's aber nicht überall fix hergehen …« – »Nun, das bringen wir schon fertig – wer's nicht gutwillig gibt, dem schlagen wir's ein.« – Das ist kategorisch; aber der Mann hat recht, in solchen Zeiten kann man nur mit Gewalt etwas ausrichten. – »Was wollen Sie denn mit den Scheunentoren anfangen?« – »Das werden Sie gleich sehen.« – Es folgt eine unheimliche Pause. – »Was halten Sie denn von diesem Krieg?« – »Das will ich Ihnen sagen: Jetzt wird noch eine Hauptschlacht geschlagen, dann gehen wir nach Paris – dort konventionieren sie noch eine Zeitlang – schmeißen den Kaiser weg – wir nehmen die Stadt ein und die Geschichte ist fertig«, spricht's und geht zum Bürgermeister. Mir fährt der trockene Prophetenton durch alle Glieder. Wie oft hab' ich aber seitdem an das dicke Männlein gedacht! … Wie er beim Bürgermeister angekommen, welche Maßregeln er getroffen, um in den Besitz der verlangten Scheunentore zu gelangen, weiß ich nicht genau – es hat, glaub' ich, da und dort Auftritte gegeben – es währt aber keine halbe Stunde, so sind die Scheunentore schon alle im Schloßgarten. Dort werden sie auf große Pfähle gelegt, im Nu ist ein weites, luftiges Lazarett im Freien errichtet, und nun geht's an die Arbeit. Wo die Verwundeten in den Schloßräumen noch zu dicht beieinander liegen, werden sie aufgegriffen, hinausgetragen, auf Stroh gebettet, gewaschen, verbunden – wirklich ein herrlicher Gedanke! 's ist eine Freude zuzusehen, wie dieser Mann mit seinen Leuten, ohne sich um die französischen Ärzte zu kümmern, ohne sie im geringsten zu behelligen, kommt und geht und kommandiert und arbeitet mit einer Energie, mit einer Umsicht, die uns alle in Erstaunen setzt. Und aber auch eine Freude ist's zu sehen, wie den Kranken in dieser guten frischen Luft so wohl wird nach langem Schmachten in geschlossenen, mit Pesthauch erfüllten Schuppen und Ställen. Jetzt geht's besser! Jetzt geht's vorwärts! Glück zu, wir bekommen einen neuen Befreiungstag! – Unser Doktor ist aber mit seinem Lazarett im Schloßgarten nicht zufrieden. Nachdem dort das Wichtigste und Nötigste getan ist, geht er weiter in die Häuser, wo seit Samstag und Sonntag die Verwundeten in ihrem Blute liegen und noch keine ärztliche Hilfe empfangen konnten und fängt an, Franzosen so gut wie Deutsche, zu operieren, zu verbinden und zu pflegen. Man kann sich denken, wie froh und dankbar wir sind für diese unschätzbare Handreichung. Es ist wahrlich aber auch die höchste Zeit! Wir hätten es nie geglaubt, daß Menschenblut so rasch in Verwesung übergehen würde; daß Wunden an jungen, gesunden Körpern so schnell in Brand und Verjauchung geraten könnten. Aber es ist leider nur zu wahr. Viele, viele unserer Verwundeten sind heute schon buchstäblich mit Würmern bedeckt! Was wäre da entstanden, was hätte entstehen müssen, wenn nicht heute schon mächtigere Hilfe gekommen wäre!

Aber wir sollen des Trostes und der Freude noch mehr erfahren. Da rückt soeben eine Schar von zwölf Jünglingen an, den Tornister auf dem Rücken, freiwillige Krankenwärter aus Berlin. Sie sind in selbstverleugnender Nächstenliebe herübergeeilt und wollen hier, wo es not tut, Hand anlegen zur Rettung der verwundeten Brüder. Seid gesegnet, ihr edlen Fremdlinge, in dieser harten blutigen Schule des Lebens! Gehet hin mit den Ärzten in die Häuser zu den todesmüden Kriegern! Helfet reinigen, verbinden, pflegen, retten, was noch zu retten ist. Und sie gehen hin in den Schloßgarten, ins Schulhaus, in alle Häuser zu allen Verwundeten, und bald ist das erste Samariterwerk vollständig vollbracht; ist kein einziger mehr im Dorfe, dem nicht Linderung widerfahren wäre. Wir sind überglücklich: wir können nicht genug danken für all die Teilnahme und Hilfe, die uns heute schon geworden. Ja wir dürfen sagen: je höher die Sonne am Himmel steigt, desto mächtiger dringt die Liebe mit ihren Gaben und Opfern zu uns herüber. Unsere Freunde, unsere braven Landsleute kommen von allen Richtungen her, aus vielen Städten und Dörfern des Unterelsasses (wir können sie unmöglich alle nennen) und bringen Nahrungsvorräte, Rettungsmittel aller Art. Aus der Nähe von Weißenburg sendet einer ein ganzes Faß voll frischen Schweinefleisches nebst einem Fäßchen köstlichen Weines. Droben im Hanauerland ist ein andrer auf denselben Gedanken geraten. Was soll ich sagen? Schon tausendmal habe ich seitdem gedacht und gesagt: »So wie ihr mich damals mit meiner Gemeinde in fürchterlicher Drangsalshitze erquickt habt, so erquicke Euch der Herr im letzten Stündlein!« Auch von Straßburg sind wieder Vorräte angelangt: Reis, Kaffee, gedörrtes Gemüse und sonstiges für die Küche; auch ein großes Faß roten Weins. Es wird bekanntgemacht, die Einwohner sollen sich in den Pfarrhof begeben; die Liebesgaben werden ausgeteilt; jeder Notleidende, und das sind ja alle, empfängt wenigstens eine »Kochet«, und es hat auch so weit gereicht, daß jede Haushaltung einen Liter Wein erhält.

Unsere Wohltäter von Nah und Fern kommen aber mit ihren Wagen, denn sie wollen nicht bloß bringen, sondern auch mitnehmen – mitnehmen die Verwundeten (wir können sie doch hier nicht sorglich genug pflegen) in ihre Häuser, in ihre Betten, in ihre aufopferungsfrohe Liebeshut. Sie laden sie auf, der eine zwei, der andere vier, der dritte sechs, die andern zehn, je mehr je lieber, je mehr je besser, für die Kranken selbst und für uns alle. Und so wird denn die allergrößte Menge gelichtet; es gibt Luft, Befreiung an allen Enden – und morgen, gewiß morgen geht es wieder so und alle Tage, bis endlich die Verwundeten, zerstreut im ganzen Lande, ein gastfreundliches Obdach, eine liebevolle Pflegestätte gefunden haben. Dort können sie dann ruhen von der blutigen Arbeit, ruhen in Freundeshänden, an Freundesherzen, bis sie genesen und erstarken zu neuem fröhlichen Leben oder auch (ach so viele!) einschlafen, walt's Gott, zur letzten ewigen Ruhe. – Wir werden wohl noch einmal von ihnen reden; namentlich davon, wie sie in den Lazaretten der Umgegend gepflegt worden sind, und welche seelsorgerlichen Erfahrungen wir an manchem Kranken- und Sterbebett gemacht haben. Wir schreiten heute noch zu einem andern Rettungswerk, welches keine Stunde mehr länger aufgeschoben werden darf.


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