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Freitag, den 5. August

Die Nacht vom 4. zum 5. August brachte ein düsteres Vorspiel. Wie die Windsbraut durch die Lüfte heult, so dröhnte und prasselte es an allen Orten und Enden und wie eine Meereswoge peitschend die andere vorwärts treibt, so drängte ein Heeresteil den andern mit Geschützen und Munitionswagen vorüber. Man kann sich denken, was für Ruhestunden uns geworden sind. Endlich graute der Morgen, und nun sollte, noch vor dem Kampfe, die Not erst recht anheben. Schon ganz frühe kamen die traurigen Überreste der bei Weißenburg geschlagenen Divisionen: entronnene Turkos und Liniensoldaten, Verwundete, am Stecken hinkend oder auf Maultieren hockend, Kanonen, zertrümmerte Wagen, Karren nebst einer Menge sonstiger Bagagen und Impedimente. Auf einmal stand der lange Troß da und wollte zum Dorf herein und mußte schleunigst ein Unterkommen geschafft werden. Das war wieder ein böser, erschütternder Augenblick. General D'hérillier war außer sich vor Ärger und Betrübnis. » Ce sont les bagages de Douay?« – » Oui mon général.« »Sind das die Überbleibsel Douays?« – »Ja, mein General«, – und ein verzweifelter Kraftfluch war die Antwort. »Wo soll ich denn hin mit den unglückseligen Trümmern?« Endlich wurden die Wagen und Karren und Kisten und Maulesel usw. usw. gerade vorm Pfarrhaus durchs Kölblingsgäßchen geschoben und hinter der Mauer des Schloßgartens zusammengestoßen. Die noch übrigen kampffähigen Mannschaften wurden wieder eingereiht und auf ihre resp. Position abgesendet.

Ganz frühe schon war auch der Marschall Mac Mahon hier eingetroffen und hatte sein Hauptquartier im Schloß Dürckheim genommen. Der Speisesaal war als Vorzimmer von Ordonnanzoffizieren und Adjutanten besetzt, und in dem daranstoßenden, gegen die Straße hinaus gelegenen großen Salon weilte mit einigen vertrauten Generälen der oberste Feldherr. Dort spazierte er auf und ab, oder saß, allen Blicken sichtbar, am offenen Fenster. Seine ersten Wünsche und Befehle betrafen auch die Karten (man möchte heute noch aus der Haut fahren!), und unser junger Reiter hatte sich beeilt, was gerade bei der Hand war, seiner Exzellenz zu unterbreiten. Was Mac Mahon in jenen verworrenen Stunden noch herausstudierte, hat den Preußen nicht viel Unheil und uns noch weniger Segen eingetragen. Das Studium der Geographie kam zu spät.

Vor dem Schloßhof, auf der Straße, stand ein außergewöhnlich großer geschlossener Wagen. Darauf stand geschrieben Cuisine du Maréchal: Küche des Marschalls. Nach oben hin bildete das massive Vehikel eine Art von Käfig, darin hausten allerlei lebendige Mundvorräte: Welschhühner, Fasane und sonstige edle Bissen in Menge. Diese Cuisine du Maréchal machte auf die Offiziere und Soldaten und auf uns alle einen seltsamen, peinlichen Eindruck, denn der Mangel an Lebensmitteln war infolge der zahlreichen Truppenansammlungen aufs höchste gestiegen. Es war nicht bloß eine angstvolle, peinliche, sondern in der Tat eine desperate, empörende Situation. Eine Armee, die jeden Augenblick den Kanonengruß des Feindes zu gewärtigen und nichts zu essen hat! Ein Getümmel, ein Murren und Verwünschen zum Vergehen! – Kein Wunder, wenn jetzt alle Ordnung vollends aufhörte und auch die letzten Schranken des Gehorsams durchbrochen wurden. Die Soldaten waren keine zivilisierten Menschen mehr, sondern hungerwütige Banden, die schonungslos plünderten und raubten, was sie erreichen konnten. Jetzt wehe unsern Kartoffeläckern, Gärten, Bäumen, Bienenstöcken, Hühnern, Gänsen, Höfen, Kellern! Weh allem, was noch übrig bleibt und nicht hinter mauerfesten Riegeln steckt. Sie kommen, brechen ein, nehmen, was ihnen unter die Hände fällt – und dabei lachen sie oder fluchen und drohen – daß Gott sich erbarmen möchte! Aber sie müssen es tun. Droben im Oberdorf sind schon mehrere Keller erbrochen worden; auch im Unterdorf geht's drunter und drüber, in allen Gassen Krawall und Gewalttat! Unsere Leute werden zur Verzweiflung getrieben; sie wissen sich nicht mehr zu schützen: sie können nicht zugleich im Stall, auf der Tenne, im Keller, im Garten Wache halten und sich wehren. Es hilft auch kein Wehren, kein Schelten, kein Jammern. Der entfesselte Strom nimmt seinen Lauf, und kein Gebot und kein Verbot ist mehr imstande, die losgelassenen, hungrigen Haufen zurückzuschrecken. Wohl macht der Bürgermeister den Versuch, dem Marschall Vorstellungen zu machen und um Schutz für die Gemeinde zu flehen, – er wird nicht vorgelassen!

Wohl nimmt unter dem allgemeinen Klagegeschrei auch der Pfarrer das Herz in die Hand und geht ins Schloß, um den Marschall zur Schonung, zur Hilfeleistung zu bewegen. Dem Adjutanten, jenem schönen Spahi-Offizier, welchem den andern Morgen eine Kugel das Herz unter dem feuerroten Mantel durchbohrte, ging unser Flehen zu Herzen. Er bat um Einlaß: aber der Pfarrer wurde nicht empfangen. Die herzbrechende Antwort war allemal: » nous ne pouvons rien faire«. (Wir können nichts tun.) Und es war so. Mit der Todesstrafe hätte man nichts mehr ausgerichtet. – O, es war ein Moment, den der Erzähler nie vergessen wird, als er zum Schloßhof heraustrat und jener rote Reiter ihn bis ans Tor begleitete. Dort standen unsere Generale, Obersten, Offiziere unter den Fenstern des Marschalls, die Tränen in den Augen, und weinten vor Weh und Entrüstung. Und als einer mir sagte: »Bedenken Sie doch, Herr Pfarrer, in welcher Lage sich jetzt Frankreich befindet« – nein, das werde ich nie vergessen; auch mir strömten die Tränen übers Gesicht herunter und ich konnte nichts erwidern als: »Nehmen Sie in Gottes Namen, was Sie bedürfen.« – Kaum war der Erzähler zu Hause, da kam ein ganzer Haufen Turkos und machte sich daran, den Hühnerstall und den Keller zu erstürmen, und wer hätte es gewehrt, wenn nicht unser Oberstabsarzt mit dem Revolver in der Hand, unter Gefahr seines eigenen Lebens, die wütenden Menschen zurückgetrieben hätte? Wir konnten nichts mehr tun als alles geschehen lassen und geben, was noch in unsern Kräften stand. Und welche Szenen aus jenen heißen Stunden jetzt noch in der Erinnerung leben! Nur einige Beispiele. Unter den Turkos gibt es eine Sekte, deren Anhänger besonders Wein usw. trinken. Ein alter Turko, so ein rechter Typus blutdürstiger Entschlossenheit und kalter Todesverachtung, hatte um eine Flasche Wein gebeten und sich, während wir dieselbe holten, rücklings auf das Stiegengeländer gelehnt, während ein ganzer Trupp seiner Genossen krächzend im Hof herumtummelte. Wie der die Flasche Wein bekam, stürzten alle andern über ihn her, begehrten auch Wein und heischten und schrien … Wir wollten dazwischen treten, sie beruhigen und andere Flaschen herbeischaffen – es war nicht mehr möglich – das Handgemenge hatte begonnen … Der Angegriffene lehnte sich noch mehr rückwärts, zog seinen Säbel, riß den Pfropfen aus der Flasche, streckte in der einen Hand sein Mordgewehr, in der andern die umgekehrte Flasche hinaus und blieb zähneknirschend liegen, bis der letzte Tropfen Wein auf den Boden gefallen war, sprang auf wie ein wildes Tier und rannte von dannen. Das war ein Bild! Ein andermal, am selben Tage, kam eine ganze Brigade Gendarmen in Zivilkleidern, Schrecken und Todesangst in allen Gliedern; sie flehten um Schutz und Herberge. Wir beruhigten und stärkten sie nach Vermögen und versteckten einen Teil davon auf gut Glück in einer dunkeln Kammer; gegen Abend aber nahmen sie das Weite, Gott weiß, was aus ihnen geworden ist. – Wiederum kam ein Gendarmerieoffizier in Uniform; der stöhnte und heulte und gestikulierte wie ein Wahnsinniger; ein großer, prächtiger Mensch, winselnd wie ein Missetäter. Er war verrückt von Hunger und Schrecken. Wir mußten ihn ergreifen, mit Gewalt niedersetzen; er wollte fort und schrie, daß es einen grausig überlief: Laissez-moi mourir! laissez-moi mourir! (Lasset mich sterben! lasset mich sterben!) Wie einem fieberkranken Kinde mußten wir ihm etwas Brühe einschütten. Er kam wieder zu sich wie aus einer andern Welt, wurde nach und nach ruhig und faßte Mut. O Panik, wen deine eisernen Fittiche treffen! – Nach dem Kriege ließ er uns grüßen und sagen: Wir hätten ihm das Leben gerettet.


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