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Sonntag ½12-12 Uhr.
Ich komme bis an den Schloßgarten. Da tritt ein Oberst heran und spricht die zornigen Worte: »Herr Pfarrer, Sie haben Hallunken und Spitzbuben in Ihrer Gemeinde, denen muß sofort nach Gerechtigkeit gelohnt werden.« »Wieso? Was ist denn geschehen?« »Sonderbar, Sie wissen also nicht, daß die Einwohner von Fröschweiler auf unsere Truppen geschossen, Verwundete meuchlings ermordet, Toten die Augen ausgestochen, die Zunge, die Ohren abgeschnitten haben?« – »Herr Oberst, ich kenne unsere Bauern – es sind friedliche Menschen … Solche Greueltaten sind hier nicht geschehen, unmöglich – wo sind die Leute?« – »Da kommen sie herüber« … Eine Menge Soldaten wogt zusammen. »Platz da! … Hier sind die Schlachtfeldhyänen … Aufgeschaut! Der Pfarrer ist da! gebeichtet! kurz … das Armensündergebet …« Von allen Seiten tönt's: »Aufhängen! an den Füßen aufhängen … hier an diese Bäume …« – »Ich bitte um Gotteswillen, seien Sie menschlich … nur einen Augenblick … nur ein Wort: Die Leute sind ja nicht aus unserer Gemeinde …« »Nieder mit den Scheusalen! Aufgeknüpft das schändliche Franzosenvolk …« »Nein! Sie dürfen diese Schmach nicht auf unsere Gemeinde werfen! Um Ihrer Ehre willen … Sie dürfen Fröschweiler nicht ganz zugrunde richten …« – Das Racheschnauben wird einigermaßen gedämpft; die Flüche und Verwünschungen verstummen. Es wird möglich, die Beschuldigten zu betrachten. Welche Schreckensgestalten! Geknebelt an Händen und Füßen, die Köpfe blutrünstig geschlagen, das ganze Gesicht voll Kot, Beulen und Wunden, die Augen fürchterlich aus ihren Höhlen getrieben, die Zunge, vor Durst geschwollen, zum Munde heraushängend; alle Kleider in Fetzen zerrissen, alle Glieder, von dem bloßen Scheitel bis zur nackten Fußsohle, erbärmlich zermartert. Und welche Verzweiflung auf ihren Gesichtern! welche Höllenangst vor dem Tode! … »Wo seid ihr denn her?« – »Von Gunstett. – Sie kennen mich ja, Herr Pfarrer, ich bin der Sohn des Bürgermeisters!« – »Ja, ich kenne Sie.« – »Und mich kennen Sie auch, ich bin der Schullehrer!« – »»So, du bist der Schullehrer? Du schwarzes Aas! Du Schandfleck der Menschheit! Ist das dein Unterricht, dein Beispiel unter den Kindern? Wart, du sollst höher hängen als alle andern!«« »Habt ihr denn wirklich solche Verbrechen verübt?« »»Ja, ja, sie haben's getan! ich hab's gesehen, ich bin dabei gewesen, der Schulmeister hat mit zwei Flinten aus dem Keller geschossen – der Kleine, Schwarze dort (ein fünfzehnjähriger Knabe!) ist ertappt worden, wie er einem Verwundeten den Dolch in den Leib stieß.«« – »Nein, nein, wir haben nichts gemacht! So gewiß die Sonne am Himmel steht, wir sind unschuldig! O! o! wir müssen sterben! O nur noch eine Stunde leben! nur einen Trunk Wasser!« »»Nimmermehr! die Hunde dürfen kein Wasser kriegen … keinen Tropfen Wasser … Vergeltung für unsere Brüder!«« – »Soll ich den katholischen Feldprediger rufen, daß er mit euch bete?« – »Nein, nein, verlassen Sie uns nicht! Wenn Sie fortgehen, sind wir verloren! Die Herren sind ja Deutsche, Sie können gewiß Gnade für uns erlangen!« – »Ich fordere euch abermals auf, vor dem Angesichte Gottes, gebt der Wahrheit die Ehre! Habt ihr auf die Truppen geschossen oder Verwundete verstümmelt, so gesteht's doch, ehe ihr zum Tode geführt werdet und eure Seelen vor Gericht kommen?« – »Wir sind unschuldig! o meine arme Frau, meine armen Kinder!«
»»Das Ding währt zu lang … Adjutant, gehen Sie schnell zum kommandierenden General und fragen Sie, ob das Todesurteil vollstreckt werden soll?«« »Hört ihr's? Noch ein paar Minuten … Schnell abgemacht, ehe die Seele in die Ewigkeit fährt!« »»Hurra! baumeln soll die Teufelsbrut, daß ein Schrecken über alle Franzosen komme! Wir wollen fürs Vaterland sterben, aber nicht ermordet sein!«« – Jetzt naht der fürchterliche Augenblick … Der Adjutant ist fort, was wird er für Antwort bringen? … Zittern und Beben, Heulen und Zähneknirschen ergreift die Verurteilten. Einige brechen zusammen, andere erheben winselnd, schrecklich brüllend ihre Blicke und Hände gen Himmel: »Gute Nacht! Vater und Mutter! Gute Nacht! Frau und Kinder! O Jesus, Jesus!« – Mir wird schwindelig vor den Augen, das Herz möchte mir im Leibe erstarren. Aber es gibt einen letzten Versuch zur Rettung dieser Unglückseligen: »Meine Herren, die Schuld dieser Unglücklichen ist nicht erwiesen. Und welche Entscheidung auch der General treffe, tun Sie es nicht! Diese vierzehn Menschenleben sind in Ihrer Hand, geben Sie nicht zu, daß sie geopfert werden, ohne nochmalige gründliche Untersuchung. Sie haben einen großen Sieg erfochten, vergessen Sie nicht, des Siegers schönste Krone ist Erbarmen!« – Der Adjutant kommt zurück; er ruft von weitem: »Nicht hinrichten, nicht aufhängen! Abführen nach Sulz ins Hauptquartier des Kronprinzen!« – »Marsch!« – Die Gebundenen atmen auf aus dem Todesabgrund, machen kehrt und werden unter Flüchen und Mißhandlungen zum Lager hinausgestoßen. Was sie bis Sulz noch gelitten haben, hat niemand erfahren. Einer hat unterwegs den Geist aufgegeben, ein 80jähriger Greis, die andern wurden begnadigt.
Wenn ich jetzt zuweilen an die Stelle komme, wo ich mit ansah, wie jene verurteilten Missetäter ihre Galgenfrist zubrachten, da durchrieselt ein unaussprechliches Schaudern meine Seele und ich kann mich des Gedankens nicht erwehren: »O wie muß es doch so trostlos, so schrecklich in der Hölle sein!«
Fragt nun aber einer und wie unzählige Male ist an den Erzähler diese Frage schon gerichtet worden: Was hältst du von dieser Greuelszene? Haben die Einwohner von Gunstett und andern Orten (einer war von Birlenbach) diese Untaten wirklich verübt oder sind sie durch ein besonderes Mißgeschick, was ja auch möglich wäre, in diese gräßliche Todesgefahr geraten? – so bleibt die Antwort unabänderlich dieselbe: Die Geschichte steht hier vor einem Geheimnis, welches hier zu Lande wenigstens niemand zu lösen vermag. Die Anklagen der Offiziere und Soldaten waren so bestimmt, so hartnäckig, die Wut und die Mißhandlungen gegen die Unglücklichen so grenzenlos, daß auch der roheste Mensch zugestehen müßte, es wäre ein unverzeihliches Verbrechen, unschuldige, wehrlose Bürger so barbarisch zu martern! Man kann allerdings sagen, denn es ist leider wahr: In jedem Menschen schlummert ein wildes Tier; wenn das im Schlachtendonner seine Fesseln sprengt, wer kann es bändigen?
Andrerseits waren die Beteuerungen der Angeklagten auch angesichts des Todes so fest, so unerschütterlich, ihr Jammer- und Wehgeheul so haarsträubend, daß jeder Zuschauer sich sagen mußte: sie können doch unmöglich an der Schwelle der Ewigkeit ihre Seele noch mit Meineid belasten. Aber freilich kann auch hier nicht in Abrede gestellt werden: Der Fanatismus, der in diesem ganzen Krieg im Hintergrund spielte, ist eine heimtückische, blutdürstige Bestie, die vor keiner Missetat zurückschreckt. Wo ist die Wahrheit? Gott weiß es.