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Die Schreckensnacht

Alle diese Begebenheiten: die Plünderung, der Triumphzug des Kronprinzen – der Tränenzug der Gefangenen waren schnell aufeinander gefolgt und hatten uns dermaßen betäubt und erschüttert, daß niemand eines klaren Gedankens oder Handelns mehr fähig war. – Das Menschen-, Pferde- und Wagengetümmel war auch so groß, daß sich niemand ohne Lebensgefahr auf die Straße hätte hinauswagen können. Und so griffen denn die Flammen im Kirchturm immer weiter um sich und die Verwundeten wären bei lebendigem Leibe verbrannt, wenn nicht ihr Jammergeschrei endlich durch Mauern und Menschenmassen herzzerreißend gedrungen wäre. »Rettet uns! Traget uns fort! Habt Erbarmen! wir müssen des Feuertodes sterben!« – Und gottlob! es war noch Zeit. Die beiden Söhne des Grafen, mein Bruder, die Schloßknechte und einige andere beherzte Männer, auch deutsche Soldaten, drangen in die Kirche, erfaßten die Unglückseligen und schleppten sie in den Schloßhof hinüber. Dort waren alle Räume schon überfüllt durch Hunderte von Verwundeten, und es blieb keine andere Möglichkeit, als die Geretteten unter freiem Himmel auf die Kirchenbänke und zwischen die Kirchenbänke auf die nackte Erde zu betten. Und doch wie froh und dankbar waren sie jetzt in frischer Luft, dem gräßlichen Feuertode entronnen! Doch es will Abend werden. Gottlob, daß dieser Schreckenstag sich endlich neigt und die Nacht ihre dunkeln Fittiche über den Greuel der Verwüstung breitet! Nun wird's doch Ruhe werden, und wär's auch nur für einige Stunden, und Frieden, solange die Finsternis die streitenden Völker deckt … Ja, Ruhe! daß Gott sich erbarmen möchte … Auf den Schreckenstag folgt eine Schreckensnacht, deren schauerliches Andenken oft jetzt noch wie ein Alp auf unserer Seele lastet … Da stehen wir in unsern zerschossenen, ausgeplünderten Häusern: Welch eine grauenerregende Aussicht: Feuer in Elsaßhausen, Feuer im Oberdorfe, Feuer in der Kirche, Flammen überall, die weit ins Tal hinab, ins Land hinein, die Kunde von unserm Jammer tragen! Ach, was müssen sie jetzt empfinden, unsere Entflohenen, Verirrten, die vom Gebirge, aus den Oberbronner Steingruben herüber die Rauch- und Feuersäulen in der Heimat sehen! »Ist's mein Vaterhaus? ist's deine Hütte?« – Gewiß, sie möchten vergehen vor Herzeleid, und es kann doch niemand sie suchen, noch trösten. Ja, Ruhe! Draußen auf der Straße, welch ein Getümmel … Wie die Heeresmassen unaufhörlich vorüberfluten! Wagen, Reiter, Fußvolk, Kanonen, Munitionskolonnen … Vorwärts! Vorwärts … 's ist gerade, wie wenn unsichtbare Heerführer den Kriegsmarsch durch die Berge bliesen … Und wieder kommen neue Regimenter, als seien Hunderttausende von Rachegeistern herangezogen, um mit dem Schwert der Vergeltung dem Feinde nachzustürmen … O weh, weh, wenn diese verbündeten Germanen, die mit solcher Begeisterung, mit solchen Waffen vorwärtsdringen, den Störenfried Europas ereilen … Das sind furchtbare Menschen …, die haben eine Liebe zum Vaterland, eine Treue zu ihren Fürsten, die wir gar nicht kennen. Da heißt's: Einer für alle, alle für einen! – Ist's aber möglich? Vor kurzer Zeit, da war's so stille, so heimlich hier oben … Frieden, tiefer Frieden und jetzt? wer hätte das geahnt? Krieg und Kriegsgeschrei und Blutvergießen, Brand und Verheerung … O ihr ruhmsichtigen Toren, kommt heran und weidet eure verdüsterte Seele an diesem entsetzlichen Schauspiel!! Vielleicht erfaßt euch doch ein mächtiges Grauen und euer leichtsinniges Herz lernt erbeben vor dem fluchwürdigen Werk eurer Hände!

Sind sie bald alle vorüber? Meint man nicht, die Erde habe sich aufgetan und wälze einen Heereshaufen nach dem andern vorwärts, immer vorwärts das Land hinein, dem Feind in den Rücken? … Aber da tönt ja durch das Kriegsgetümmel von allen unsern Feldern herüber Musik und Lobgesang zu unsern Ohren. Horch, wie seltsam, wie erhebend, wie überwältigend rauscht das über das Schlachtfeld hin in die Mitternacht hinein! Es wird uns unaussprechlich weh und doch wieder so selig zumute … Es zieht unsere erschrockenen Gemüter unwillkürlich, mächtig himmelwärts … Das sind ja unsere Lieder! »Bis hierher hat mich Gott gebracht durch Seine große Güte.« »Ein' feste Burg ist unser Gott, ein' gute Wehr und Waffen.« »Allein Gott in der Höh' sei Ehr'.« »Nun danket alle Gott« usw. Das sind ja unsere Lieder! Das sind Heimatklänge aus vergangenen Tagen … Das sind Dankes- und Siegespsalmen, die einst unsere deutschen Väter gesungen, und die auch unserem Herzen lieb geblieben … Was soll das bedeuten? Sollte Gott der Herr, der Lenker der Weltgeschichte, etwas Großes vorhaben mit unserm elsässischen Volke und dasselbe unter schmerzlichem Losreißen wieder zurückführen zum alten Mutterland? O, das wird lange und peinliche Kämpfe geben … Er tue, wie's Ihm wohlgefällt.

Aber es tönen auch Trauerpsalmen in diesen nächtlichen Stunden, gewiß über offenen Gräbern, über gefallenen teuern Kameraden. Ach, so manches junge Leben liegt, im Streite geopfert, so manches Bruder- und Freundesauge im Tode geschlossen. Schauderhaft ist ja die Ernte gewesen, welche heute der unerbittliche Schnitter unter beiden Völkern dahingemäht hat … Wir werden sie sehen die Scharen von Eltern, Geschwistern, Witwen und Waisen, die herüberpilgern werden zu unsern Höhen, um die Gräber ihrer Lieben zu suchen und einen Kranz, mit schwarzem Flor umwunden, auf ihre Ruhestätte zu legen. Und wie viele von den Tausenden Verwundeten, die jetzt auf dem Schlachtgefilde liegen, deren Wehgeschrei in dieser Nacht zu unsern Ohren dringt, werden in den nächsten Tagen oder nach langen, bangen Leidenswochen ihr Leben noch aushauchen? – Es ist 1 Uhr. – Noch immer stehen wir da am Fenster und schauen hinaus in die tosende, flammenerleuchtete Nacht. Die Feuersbrunst hat allmählich das ganze Kirchengebäude umschlungen. Der Zeiger an der Uhr ist stehen geblieben, er sagt nichts mehr … Die alte Zeit ist vergangen. Die Glocken sind in feurigen Strömen heruntergeflossen; ihr Mund ist verstummt; Schlachtendonner war ihr letzt' Geläute … Der ganze Turm ist schon eingestürzt, – er zeigt nicht mehr nach oben, er schaut nicht mehr ins Tal hinab. Jetzt senkt sich auch das Schiff und stürzt zusammen. Ein fürchterliches Krachen und die Rauchwolken dampfen schwarz empor! Die Flammenzungen flackern durch die Lüfte … noch einige Stunden und

»In den öden Fensterhöhlen
  Wohnt das Grauen –
Und des Himmels Wolken schauen
  Hoch hinein!!«

O Schreckensnacht! wann wirst du fliehen? O ausgereckte Gotteshand! nehmen die Zornesschalen kein Ende? – So – jetzt ist unsere Trübsal grenzenlos. Jetzt stehen wir da, eine verscheuchte, hilflose Herde – und auch unsere geistliche Heimat liegt in Trümmern. Was soll aus uns werden? Wie jetzt die Gemeinde sammeln, trösten, pflegen, daß sie nicht vollends zugrunde gehe in dieser eisernen, schrecklichen Zeit?

Du aber mein Herze, du zage nicht …
Aus Nacht, aus Nacht der Morgen bricht,
Es muß aus Tränen und Mühen
Eine Freudenernte erblühen …

Die Nacht ist hin! Dort drüben, überm Liebfrauenberg, geht der Morgenstern auf und die Sonne wirft ihre ersten Strahlen auf unsere Dächer. Wir müssen fort und sehen, was der gestrige Tag uns draußen gebracht, was er draußen angerichtet hat.


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