Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIII

Und dann ist es wieder Frühling in Dänemark!

Schon lange ist er im Anmarsch gewesen, die Lerche kam, ehe noch der Frost aus der Erde heraus war, und dann tauchte der Star auf. Und eines Tages war die Luft plötzlich hoch und leicht geworden, so daß der Blick wieder einmal weit hinausschweifen konnte; es war eine eigene breite Luftigkeit in den Wind gekommen – das war der Atem des Lenzes. Er kam dahergestrichen mit Botschaft von jungen frischen Kräften, und die Leute reckten den Rücken und atmeten die Luft tief ein: »Ach, der Südwind!« sagten sie und erschlossen das Gemüt in Erwartung.

Und dort kommt er selbst von Süden her übers Meer geritten inmitten seines Gefolges aus übermütiger Jugend. So herrlich ist sein Einzug noch nie gewesen, gleicht er doch der strahlenden Sonne selbst! Das Meer glitzert unter goldenen Hufen, und die Luft ist zitternd voll von Strahlenspießen, die auf dem ausgelassenen Ritt ergriffen und geworfen werden. Juchhei – in halsbrecherischem Galopp über die Wogen dahin! Wer landet zuerst am dänischen Strand?

Gleich einem breiten Sturm saust der Lenz dahin über Inseln und Belte und umarmt das Ganze in übermütiger junger Kraft, er singt in den geöffneten Mündern der Kinder wie in einer Muschel und rüttelt mit luftiger Frische. Die Zähne der Frauen werden gesund von seinem Kuß und blitzen um die Wette mit ihren Augen; ihre Wangen glühen unter seinem Streicheln und sind doch kühl wie sonnenreife Früchte, die vom Morgen betaut sind. Und in dem Gehirn des Mannes wirbelt es von neuem, es weitet sich vor dem Lenzwinde zu einer reingeblasenen Wölbung aus, groß wie der Himmel selbst, und blaut in wirrer Erwartung. Hoch oben daran hin geht der singende Zug der wilden Vögel; ihn schwindelt ob seiner eigenen Unendlichkeit.

Barhäuptig und mit einem Lächeln aus Sonne geht er vor wie ein junger Riese, der sich einen Rausch an seiner eigenen Stärke getrunken hat, breitet die Arme aus und erweckt trällernd das Ganze. Nichts kann ihm widerstehen! Er kitzelt die schlafende Erde unters Herz und ruft ausgelassen hinab in ihren dunklen Schoß: Ruf einmal Kuckuck!

Und tief unten zappeln die Wurzeln des Lebens und erwachen; sie bringen die Säfte wieder in Umlauf, Stachelschwein und Feldmaus tummeln schlaftrunken hervor und fangen an, in der Hecke zu pusseln. Unten aus der Finsternis gärt und bubbelt es auf von all dem Alten, was da verwest, und das saure Wasser der Gräben fängt an, dem Meere zuzulaufen.

Die Menschen stehen wie aus den Wolken gefallen da und starren den freigebigen Riesen an, bis es auch in ihnen wächst und sie selbst alles mögliche vermögen. Alles das, was man unmöglich konnte, das kann man jetzt auf einmal – und noch mehr! Der Bauer hat schon lange den Pflug in der Erde, und der Sämann schnallt sich seinen Korb um, jetzt soll das Land wieder eingekleidet werden.

Die Tage werden länger und nehmen zu an Wärme, es ist herrlich, sie zu verfolgen und zu wissen, daß es aufwärts geht. Eines Tages entfernt Ellen die Vorsatztüren und schlägt die Türe nach dem Garten hinaus weit auf; es ist wie eine Befreiung. Aber wieviel Schmutz das Licht an den Tag bringt!

»Nun kriegen wir viel zu tun, Petra Drejer!« sagt Ellen. Die kleine verwachsene Näherin lächelt mit ihren traurigen Augen, und nun fangen die beiden an zu fegen und Fenster zu putzen; von Zeit zu Zeit kommt ein kleines Mädel aus dem Garten herein und beklagt sich, weil sie nicht mit Annas großer Puppe spielen darf. Aber Svend Trost ist vom Morgen bis zum Abend auf dem Felde; er hilft Großvater Stolpe die neuen Arbeiterwohnungen bauen. Das ist eine gute Hilfe! Wenn Ellen ihn zu den Mahlzeiten hereinholt, ist er so schmutzig, daß sie nahe daran ist, aus der Haut zu fahren.

»Gott weiß, wie es dem alten Brun gehen mag«, sagt Ellen plötzlich, während sie geht. »Wir haben jetzt, glaube ich, seit drei Tagen nicht von ihm gehört. Es ist traurig zu denken, daß er so weit weg ist. Wenn sie nur recht gut für ihn sorgen.«

Pelle hat gewaltig viel zu tun – sie sehen nicht viel von ihm. Jetzt hat die Bewegung seinen Gedanken allen Ernstes in Angriff genommen, und er soll jetzt über alles schalten und walten, da hat er denn alle Hände voll. »Hab' ich einen Mann – oder hab' ich keinen?« sagt Ellen, wenn sie seiner einmal habhaft wird.

»Jetzt wird es bald besser«, entgegnet er. »Wenn wir die Maschinerie nur erst ordentlich im Gange haben, läuft das Ganze von selbst.«

Morten ist der einzige, der nichts Ernsthaftes vornimmt. Er geht umher und duselt – und wirkt sonderbar abstechend mitten in all der Geschäftigkeit. »Er denkt!« sagt Ellen und hält mitten im Teppichklopfen inne. »Gott sei Dank, daß man kein Schriftsteller geworden ist!«

Pelle will ihn gern in das Unternehmen mit hineinziehen. »Da ist so vieles zu schreiben, so vieles, worüber Vorträge gehalten werden müssen«, sagt er. »Das alles könntest du viel besser als ich!«

»Nein, Pelle, ich kann nicht«, erwidert Morten. »Deine Arbeit wächst auch in mir, ich habe sie beständig in meinen Gedanken und habe ja auch selbst die Absicht gehabt, eine Handreichung zu geben – aber ich kann nicht. Wenn ich dazu komme, mein Scherflein zu deinem Riesenwerk beizusteuern, so wird es auf ganz andere Weise sein!«

»Du arbeitest auch nicht an deinem Werk von der Sonne«, sagt Pelle bekümmert.

»Nein, denn jedesmal, wenn ich daran arbeiten will, verschwimmt es mir so sonderbar mit deinem Werk. Ich kann die Gedanken nicht auseinanderhalten: zurzeit komme ich mir vor wie ein Maulwurf, der blind in der schwarzen Erde unter dem mächtigen Baum des Lebens herumwühlt. Ich grabe und suche, und jeden Augenblick stoße ich auf die schweren Wurzeln von diesem Gewaltigen über der Erde. Ich kann sie nicht sehen, aber ich höre es von da oben her tönen – und leide darunter, daß ich ihnen nicht in ihrem mächtigen Zusammenwachsen da oben im Licht hinauffolgen kann.«

Eines Sonntags vormittags zu Ende Mai saßen sie draußen im Garten. Die Wiege war in die Sonne hinausgestellt, Pelle und Ellen saßen jeder auf einer Seite davon und beredeten häusliche Angelegenheiten. Ellen hatte ihm viel zu erzählen, wenn sie ihn ganz für sich hatte. Der Kleine lag da und glotzte in die Luft hinauf mit seinen dunklen Augen, die Ellen wie aus dem Gesicht geschnitten waren; er war braun von Hautfarbe und rundlich. Man sah ihm an, daß er in Sonne und Liebe empfangen war.

Lasse Frederik saß für sich unter dem Dornbusch und malte ein Bild, das Pelle nicht sehen durfte, ehe es fertig war. Er besuchte jetzt die Zeichenschule und war tüchtig, er hatte einen scharfen Blick für Menschen – namentlich die Armen konnte er aufs Korn nehmen, wie sie gingen und standen. Er hatte eine leichte Hand, mit zwei, drei Strichen konnte er das geben, was der Vater sich mühselig hatte erarbeiten müssen. »Du sudelst,« pflegte Pelle halb verdrießlich zu sagen – »es verträgt nicht, daß man es in der Nähe betrachtet!« Aber er mußte zugeben, daß es ähnlich war.

»Nun, bekomme ich denn das Bild bald zu sehen?« rief er hinüber. Er war sehr neugierig.

»Ja, jetzt ist es fertig«, sagte Lasse Frederik und kam damit an. Das Bild stellte eine Straße dar, in der ein einsamer Milchwagen stand; hinter dem Wagen lag ein Milchjunge mit blutendem Kopf. »Er ist eingeschlafen, weil er so früh auf muß«, erklärte Lasse Frederik. »Und dann, als der Wagen weiterfuhr, ist er hintenüber gefallen.« Die Morgenöde in der Straße war gut wiedergegeben, aber das Blut war zu knallrot.

»Das ist so unheimlich«, sagte Ellen schaudernd. »Aber wahr ist es!«

Morten kam aus der Stadt nach Hause. »Hier ist Nachricht von Brun an dich!« sagte er und reichte Pelle einen großen Brief. Pelle ging in die Gartenstube, um ihn in Ruhe zu lesen, nach einer Weile kam er wieder heraus.

»Ja, große Neuigkeiten sind es diesmal«, sagte er bewegt. »Wollt ihr es hören?« Er setzte sich hin und las:

 

»Lieber Pelle!

Ich sitze in meinem Bett und schreibe an Dich. Es steht schlecht mit mir, und ist schon seit einigen Tagen so gewesen; doch hoffe ich, daß es nichts Ernstes ist. Wir schulden dem lieben Gott ja alle einen Tod, aber ich möchte die große Weltumseglung gern daheim von Euch aus antreten. Ich sehne mich nach der Morgendämmerung und nach Euch allen und fühle mich einsam; falls das Geschäft Dich einige Tage entbehren kann, würde ich mich freuen, wenn Du hierherkämst. Dann könnten wir zusammen nach Hause reisen, allein wage ich mich nicht auf den Weg.

Gerade jetzt geht die Sonne unter und sendet ihre letzten Strahlen zu mir herein; der ganze Tag ist grau und trübe gewesen, aber jetzt bricht die Sonne durch die Wolken und küßt die Erde und auch mich alten Mann – zum Abschied. Das gibt mir Lust, Dir etwas zu sagen, Pelle; denn so ist mein Tag ja auch gewesen, ehe ich Dir begegnete. Endlos lang und grau! Wenn man das letzte Glied eines aussterbenden Geschlechts ist, muß man auch die grauen Schicksale der anderen mit sich herumschleppen!

Ich habe oft daran denken müssen, wie wunderlich die verborgene Kraft des Lebens ist. Der Verkehr mit Dir ist wie eine Verheißung für mich gewesen, obwohl ich freilich wußte, daß ich nichts mehr ausrichten und mich auch nicht mehr fortpflanzen würde. Trotzdem fühle ich mich durch Dich im Bunde mit der Zukunft! Du stehst im Aufgange und siehst wohl auf mich wie auf etwas, das verschwindet. Aber sieh doch einmal, wie das Leben uns alle leben läßt – indem es jeden auf seine Weise benutzt! Bleibe Du stark in Deinem Glauben an die Zukunft, bei Dir ist die Entwicklung. Ich wünsche von ganzem Herzen, ich wäre ein erwachender Proletarier und stünde in der Morgendämmerung; aber ich freue mich doch, daß mir das Neue durch Dich die Augen zudrückt.

Ich ging umher und fand, daß das Leben langweilig und selbstverständlich sei – zu bekannt. Ich hatte es ja in meinen Katalogen alles geordnet! Und wie hat es sich dann erneuert! – Jetzt in meinen alten Tagen habe ich seine ewige Jugend erlebt. Früher hatte ich mir nie etwas aus dem Landleben gemacht, das war für mich eine Wanderung durch Staub und Schmutz. Die schwarze Erde erschien mir eigentlich schauerlich, sie rief nur Gedanken an den Friedhof in mir wach – so weit war ich von der Natur entfernt. Das Land war etwas, wo sich die Bauern betätigten, die derben, gefräßigen Geschöpfe, die einem im Grunde wie eine Art von Tieren vorkamen, die versuchten, unsereins nachzuahmen. Denkende Wesen konnten unmöglich da draußen leben. Das war ja die Auffassung in meinem Kreise, und ich hatte selbst ein Stück davon, wenn auch meine akademische Bildung selbstverständlich das Ganze ein wenig umschrieb und verschleierte. Dies mit unserem Verhältnis zur Natur kam mir, ästhetisch gesehen, sehr interessant vor, aber eigentlich als ein Gegensatz – um nicht zu sagen als feindliches – Verhältnis. Ich konnte nicht begreifen, wie jemand etwas Schönes in einem umgepflügten Acker oder an einem Grabenrand finden konnte. Erst als ich Dich kennen lernte, rührte sich etwas in mir und rief mich hinaus; da war etwas an Dir, was so war wie die Luft von da draußen.

Jetzt verstehe ich auch meine Vorfahren! Früher standen sie als harthäutige Kerle vor mir, die die Mittel zusammenschabten, von denen wir zwei Generationen gezehrt haben, ohne auch nur für zwei Schilling wirklich Nutzen zu schaffen. Sie haben uns doch instand gesetzt, das Leben zu leben, habe ich immer gedacht – und das als die einzige Entschuldigung dafür betrachtet, daß sie sich in der Familie vorfanden, saftig und robust wie sie waren. Jetzt sehe ich, daß sie gelebt haben, während wir nach ihnen bei all unserem Wohlbehagen nur ein Bett in dem Altenheim des Lebens gehabt haben.

Für das alles danke ich Euch. Ich bin glücklich, daß ich durch Euch die Menschen der neuen Zeit kennen gelernt habe und mein Vermögen zurückgeben kann. Es ist von allen denen geschaffen, die arbeiten, und von einigen wenigen zusammengehäuft; es ist etwas ganz einfach Selbstverständliches, daß ich es zurückgebe. Andere werden es in Zukunft ebenso machen wie ich – freiwillig oder notgedrungen – bis alles allen gehört. Und dann erst kann der Kampf um das Menschliche beginnen! Der Kapitalismus hat wunderbare Maschinen geschaffen, aber was für wunderbare Menschen erwarten uns nicht mit der neuen Zeit. Wer das erlebt haben könnte!

Ich habe Dir und Morten das Ganze vermacht. Es gibt bisher noch keine Stiftung, der ich es übergeben könnte, da müßt Ihr es denn im Namen der Genossenschaft verwalten. Ihr beiden seid die besten Vormünder des armen Mannes, und ich weiß, Ihr werdet es auf die beste Weise verwenden, ich gebe es ruhig in Eure Hände. Das Testament liegt bei meinem Rechtsanwalt, ich habe das Ganze vor meiner Abreise geordnet.

Einen Gruß an alle in der Morgendämmerung, an Ellen und die Kinder und Morten. Wenn der Kleine getauft wird, ehe ich wieder nach Hause komme, so wißt Ihr ja, daß er meinen Namen tragen soll. Aber nun hoffe ich, daß Du kommst.«


Ellen atmete tief auf, als er mit dem Brief fertig war.

»Wenn es nur nicht ernsthafter mit ihm ist, als er zugeben will«, sagte sie. »Du reist doch?«

»Ja, ich ordne morgen in aller Frühe das Notwendige im Betrieb und reise mit dem Vormittags-Expreßzug.«

»Dann muß ich mich wohl um deine Sachen kümmern«, sagte Ellen und ging hinein.

Pelle und Morten machten einen Gang am Hügelrand entlang, vorüber an den halbaufgeführten Wohnungen, deren rote Steine in der Sonne leuchteten.

»Kommst du dir nicht vor wie ein Glückskind, Pelle?« fragte Morten plötzlich.

»Ja,« antwortete Pelle – »mir hat nichts etwas anhaben können, und da ist es wohl richtig, was Vater Lasse und die anderen sagten, daß ich mit dem Siegerhemd geboren sei. Die Mißbräuche, unter denen ich als Kind gelitten, haben mich gelehrt, gut gegen andere zu sein; und in der Gefangenschaft gewann ich meine Freiheit – was mich zu einem Verbrecher machen sollte, machte mich statt dessen zum Menschen. Nichts hat mir schaden können! Da muß ich denn wohl ein Glückskind sein, wie du sagst.«

»Ja, das bist du, und nun habe ich meinen Stoff gefunden, Pelle! Ich wühle nicht mehr blind im Dunkeln herum – jetzt will ich ein großes Werk schreiben.«

»Glück auf damit! Wovon soll es denn handeln? Soll es ein Werk von der Sonne sein?«

»Ja, von der Sonne und von dem, das siegt. Es soll ein Werk über dich sein, Pelle!«

»Über mich?« fragte Pelle erschreckt.

»Ja – über den nackten Pelle mit dem Siegerhemd! Jetzt ist es wohl an der Zeit, den nackten Menschen wieder in das Licht hinauszurufen und ihn richtig anzusehen, jetzt wo er dasteht und die Zukunft übernehmen soll. – Ihr wollt ja am liebsten von Grafen und Baronen lesen, aber jetzt will ich eine Geschichte von einem Prinzen schreiben, der den Schatz findet und die Prinzessin gewinnt. Er hat in der ganzen Welt nach ihr gesucht – und sie war da nicht. Dann ist nur er selbst noch übrig, und da findet er sie, denn er hat ihr Herz verschluckt. Ist das nicht eine gute Geschichte?«

»Ich finde, es ist ein richtiger Blödsinn«, sagte Pelle lachend. »Und du mußt tüchtig Lügen hineinweben, wenn du mich zu einem Prinzen machen willst. Ich glaube nun nicht, daß du die Arbeiter bewegen kannst, es als richtiges Buch aufzufassen, dazu ist das Ganze zu bekannt und zu gewöhnlich.«

»Sie sollen darnach greifen – und vor Freude und Stolz weinen, weil sie sich selbst darin wiederfinden. Vielleicht nennen sie auch aus lauter Dankbarkeit ihre Kinder darnach!«

»Wie soll es denn heißen?« fragte Pelle.

»Es soll Pelle der Eroberer heißen!«

 

Ende.

 

Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.

 


 << zurück