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Pelle hatte seinen Arbeitstisch vor dem schmalen Pfeiler zwischen den beiden Fenstern der Wohnstube aufgestellt. Man konnte sich gerade zwischen dem Ende des Arbeitstisches und dem runden Tisch, der mitten im Zimmer stand, hindurchdrücken. An der Hauptwand stand ein eichengemaltes Büfett, das Ellens Stolz war, und gerade gegenüber an der entgegengesetzten Wand stand ihre Junge-Mädchen-Kommode mit dem Spiegel darüber und einer weißen gestickten Decke darauf. Auf der Kommode standen ein polierter Nähkasten, ein paar Photographien und einige Nippesgegenstände; mit ihrer weißen Decke glich sie einem kleinen Altar.
Pelle war nur jeden zweiten Tag bei Meister Beck, die übrige Zeit saß er daheim und spielte den kleinen Meister. Er hatte viel Bekannte hier draußen, lauter arme Leute, die ihr Schuhzeug bis auf die Strümpfe verschlissen, ehe sie es machen ließen; aber ein Tagelohn ließ sich doch damit verdienen. Aus Ellens Familie und ihrem Verkehr erhielt er auch Arbeit. Das war eine andere Art Leute; selbst wenn es ihnen schlecht gehen konnte, bewahrten sie immer den Schein und traten mit einer gewissen Flottheit auf. Ihre wunden Punkte behielten sie für sich.
Er hätte sicherlich reichlich Gesellenarbeit finden können, zog aber diese Ordnung vor, die die Grundlage zu etwas Selbständigem gab; es war mehr Zukunft darin. Es lag auch ein eigener Klang in der Arbeit, mit dem Heim als Hintergrund. Es verlieh dem Gemüt fruchtbare Wärme, den Blick von der Arbeit ins Zimmer hineinschweifen zu lassen, wo die Dinge so vertraulich standen und Gemütlichkeit um sich her verbreiteten, als hätten sie immer zusammengehört. Wenn die Morgensonne hineinfiel, lachte das Ganze, und mitten darin ging Ellen summend und geschäftig umher. Sie hatte das Bedürfnis, immer in seiner Nähe zu sein, und freute sich über jeden Tag, den er daheim verbrachte. Dann kürzte sie ihre Arbeit in der Küche soviel wie möglich ab und saß drinnen bei ihm. Er mußte sie lehren, Flicken aufzusteppen und eine Sohle aufzunähen, und sie half ihm bei der Arbeit.
»Nun bist du Meister und ich bin dein Geselle«, sagte sie froh. Sie verschaffte ihm auch Kunden; ihr Bestreben ging darauf hinaus, ihn immer zu Hause zu behalten. »Ich will dir schon helfen, soviel ich nur kann. Und eines schönen Tages hast du dann so viel Arbeit, daß du einen Lehrling annehmen mußt – und später einen Gesellen.« Dann nahm er sie in seine Arme, und sie arbeiteten um die Wette und sangen Lieder.
Pelle war ganz glücklich und hatte alle Sorgen und Bürden von sich geworfen. Dies war sein Nest, wo jedes Reis und jeder Strohhalm mehr wert war als alles andere auf der Welt. Sie hatten genug zu tun, es zusammenzuhalten und ein wenig weich auszufüttern, und Pelle ging in dieser Arbeit auf mit einer Freude, als habe er erst jetzt seine eigentliche Bestimmung gefunden. Hin und wieder trieben schwere Dünungen aus der Bewegung der Masse zu ihm hinein und versetzten sein Gemüt in starke Schwingungen. Dann redete er feurig in heftiger Empörung, oder sein Glück führte ihm lichte Bilder vor Augen, die er Ellen erklärte. Sie lauschte ihm stolz, und unter ihren verliebten Augen erkühnte er sich zu stärkeren Ausdrücken und Bildern, als es eigentlich seine Natur war. Wenn er dann endlich schwieg, fuhr sie fort, ihre dunklen Augen, die immer etwas in ihm zu sehen schienen, was er selbst nicht kannte, unverwandt auf ihm ruhen zu lassen.
»Woran denkst du jetzt?« fragte Pelle, der gern eine Unterhaltung darüber anknüpfen wollte, was sich in ihm regte. Es gab niemand weiter für ihn als Ellen. Er hatte das Bedürfnis, das Neue gerade mit ihr zu bereden und das wunderbare Glück zu empfinden, auch das zu zweien zu durchleben.
»Ich denke daran, wie rot dein Mund doch ist, wenn du redest! Er sehnt sich gewiß nach Küssen«, antwortete sie und flog ihm um den Hals.
Die Geschehnisse ringsumher interessierten sie nicht; sie konnte nur von ihrer Liebe sprechen und von dem, was sie selbst betraf. Aber das heftige Starren in ihrem Blick verlieh dem Leben einen tiefen Hintergrund. Ganz rätselhaft konnte es auf ihn wirken, wie ein Locken, das den unbekannten Seiten seines Wesens galt. »Der Pelle, den sie sieht, muß ein anderer sein als der, den ich kenne«, dachte er glücklich. Etwas Schönes und Starkes mußte es sein, das sie so fest hielt, daß sie litt, wenn sie sich nur einen Augenblick von ihm entfernte. – Wenn sie dann lange genug gestarrt hatte, preßte sie sich verwirrt an ihn und verbarg ihr Antlitz.
Ohne daß er es bemerkte, leitete sie seine Kräfte wieder auf sein eigenes Gebiet hin. Er konnte für zwei arbeiten, wenn sie ihm gegenüber am Tisch saß und ihn unterhielt, während sie half. Pelle fand eigentlich, daß ihr kleines Nest ganz gemütlich war, aber Ellen hatte den Sinn voller Pläne für Verbesserungen und Fortschritte auch dort. Zu dem Geschäft gehörte ein bürgerliches Heim mit weichen Möbeln und vielerlei Sachen, daran baute sie schon. Das Heim hier, das ihm wie ein liebes Gesicht war, das man sich überhaupt nicht anders denken kann, war für sie nur etwas Vorläufiges – Gegenstände, die allmählich durch schönere und bessere ersetzt werden sollten. Hinter ihrem traulichen Geplauder über alltägliche Kleinigkeiten erschloß sich eine große Perspektive. Er mußte sich anstrengen, wenn er all dem entsprechen wollte, was sie von ihm erwartete!
Ellen versäumte ihre Häuslichkeit keineswegs, es lief ihr überhaupt nichts zwischen den Fingern weg. Wenn Pelle in der Werkstatt war, stellte sie die ganze Geschichte auf den Kopf, scheuerte und schrubbte und hatte etwas Gutes für ihn zu Tisch bereit. Des Abends war sie draußen vor der Werkstattür und wartete auf ihn. Dann machten sie einen Spaziergang am Kanal entlang und über den grünen Wall, wo die Kinder spielten. Ellen hing schwer an seinem Arm. »Nein, Pelle, wie ich mich heute nach dir gesehnt habe!« sagte sie zögernd. »Jetzt habe ich dich ja, und doch tut es mir ganz weh in meinen Brüsten; sie wissen noch nicht, daß du bei mir bist.«
»Wollen wir heute abend nicht ein wenig arbeiten – nur eine Viertelstunde?« pflegte sie zu sagen, wenn sie gegessen hatten, »um so eher wirst du Meister und kannst es dir ein wenig gemütlicher machen.« Pelle hatte vielleicht mehr Lust, einen Abendspaziergang mit ihr durch die Stadt zu machen oder irgendwohin zu gehen und den Sonnenuntergang zu genießen, aber ihre dunklen Augen schlossen sich um ihn.
Sie war voller Tatkraft in all ihrer Liebe – und immer war er es, um den sich alles drehte. Es lag etwas in ihrem Wesen, das die Möglichkeit ausschloß, an sich selbst zu denken. Im Verhältnis zu ihr selbst war ihr alles gleichgültig, nur zusammen mit ihm wünschte sie – und für ihn! Sie war unberührt und mildtätig wie neue Erde; Pelle hatte die Liebe in ihr wachgerufen – als unaufhörliches Bedürfnis zu geben. Er fühlte demütig, daß alles, was sie hatte, das brachte sie ihm als Gabe, und er tat alles, um ihre Freigebigkeit zu vergelten.
Er hatte es abgeschlagen, die Leitung der Organisation zu übernehmen. Das Zusammenleben mit Ellen, die Aufrechterhaltung der neugegründeten Häuslichkeit ließ ihm keine Zeit zu einer anstrengenden Wirksamkeit nach außen hin. Ellen mischte sich nicht da hinein; aber wenn er nach Hause kam und seine Abende in Versammlungen zugebracht hatte, sah sie verweint aus. Es war eine Schwäche, daß er es nicht verstand, sich auf andere Weise zu betätigen, und so blieb er denn bei ihr zu Hause. Und er entbehrte nichts, Ellen gab ihm reichlichen Ersatz. Sie verstand es, das kleine Heim um ihn zu schließen und es zu einer Welt von reichem, innigem Leben zu machen. Ein größeres Glück gab es nicht, als sich ein festliches Ziel zu setzen – einen Blumentopf aus Porzellan, der mit dem Aspedistrum auf dem Fensterbrett stehen konnte. Dazu gehörte eine Woche Überlegen und Sparen, und wenn sie ihn dann bekommen hatten, gingen sie Arm in Arm auf die andere Seite des Kanals hinüber und guckten zu den Fenstern hinauf, um die Wirkung zu sehen. Und dann tauchte etwas Neues auf: eine Brotmaschine, ein graviertes Namenschild; jeder Sonnabendabend bedeutete eine kleine Neuerwerbung.
Der »Arbeiter« lag da und wurde nicht gelesen. Wenn Pelle seine Arbeit einen Augenblick weglegte, um hineinzugucken, war Ellen da und zwickte ihn mit ihren Lippen ins Ohr – seine freie Zeit gehörte ihr, und es war eine herrliche Zerstreuung von der Arbeit, sorglos zu spielen wie zwei junge Hunde, weit herrlicher, als die Last der Sklavenverhältnisse der großen Menge zu tragen. Dann wurde das Blatt gekündigt. Ellen bekam das Geld jede Woche für ihren Spartopf. Sie hatte sich eine Ecke in der Marktstraße ausersehen, wo sie einen Laden und Werkstatt mit drei, vier Burschen einrichten wollten – dazu sparte sie zusammen. Pelle mußte ihre Klugheit bewundern, denn das war eine gute Gegend.
Nach ihrer Verheiratung kamen sie nicht so viel zu den Schwiegereltern. Stolpe fand, daß Pelle im Begriff sei, abzukühlen, und neckte ihn ein wenig, um wieder Fahrt in ihn hineinzubringen. Aber da wurde Ellen böse, und sie platzten hart aufeinander – sie duldete keine Kritik an Pelle. Sie ging nur zu ihren Eltern, wenn Pelle es vorschlug; sie selber schien kein Verlangen nach ihren Angehörigen zu haben, sondern blieb am liebsten zu Hause. Oft taten sie, als seien sie nicht daheim, wenn die »Familie« klingelte – um allein miteinander zu sein. Und des Sonntags gingen sie am liebsten allein aus, nach dem Tiergarten oder auch nach Lyngby.
Von Lasse sahen sie nicht viel. Ellen hatte ihn ein für allemal eingeladen, zu Abend bei ihnen zu essen. Aber wenn er von der Arbeit nach Hause kam, war er zu müde, um die Kleider zu wechseln und sich fein zu machen, und Ellen war eigen mit ihrer kleinen Häuslichkeit. Er hatte großen Respekt vor ihr, fühlte sich aber nicht recht heimisch in ihrer Stube.
Er hatte Pelles alte Kammer behalten und bekam seine Kost und Verpflegung bei den drei Waisen. Sie hielten große Stücke auf ihn, alle ihre drollige Fürsorge für das große Findelkind Pelle hatten sie auf den alten Mann übertragen. Und hier fiel sie auf besseren Boden. Lasse war im Begriff, wieder Kind zu werden, und hatte das Bedürfnis, daß man ihn ein wenig verhätschele. Mit großer Andacht konnte er Mariens kleinen Sorgen lauschen und den Erzählungen der Knaben von allem, was sie erlebten. Dafür erzählte er ihnen aus den Erlebnissen seiner Knabenjahre, oder draußen vom Steinhauerplatz, und prahlte gehörig, um nicht zurückzustehen. Wenn Pelle kam, um den Vater abzuholen, pflegten die vier zu sitzen und irgendein Kinderspiel vorzuhaben. Sie zankten sich, wie es am besten gemacht werden müsse, denn Lasse wollte ja der Klügste sein. Der Alte entschuldigte sich:
»Du mußt nicht böse sein, Junge, weil ich euch vernachlässige; aber des Abends bin ich auch müde und gehe früh zu Bett.«
»Dann komm doch am Sonntag – und frühstücke mit uns, hinterher gehen wir dann aus!«
»Nein, Sonntag habe ich etwas vor – ein Stelldichein, Pelle«, sagte Lasse schelmisch, um weiteren Fragen zu entgehen. »Genießt ihr nur euer junges Glück, es hält nicht immer vor!«
Hilfe wollte er niemals annehmen. »Ich verdiene, was ich zu meiner Ernährung und für ein bißchen Kleider gebrauche; viel brauch ich von beiden nich', und ich bin ganz zufrieden.« »Hast wohl auch genug zu tun?« antwortete er beständig.
Lasse war immer sanft und freundlich und schien vergnügt, aber es lag ein eigener Schleier über seinen Augen, als fräße eine Enttäuschung an seinem Herzen.
Und Pelle verstand das sehr wohl – es war immer die selbstverständlichste Sache gewesen, daß Lasse seine alten Tage an seinem Herd verbringen sollte. In den Zukunftsträumen seiner Kinderjahre, so verschieden sie auch sein mochten, war Vater Lasse immer mit dabei und genoß die Ruhe seines Alters, als Dank dafür, was er getan hatte. So mußte es sein, in jedem armen Heim da draußen auf dem Lande saß ein Greis in der Ofenecke – Kinder sind der einzige Trost des Alters für arme Leute.
Vorläufig ließ sich das nicht einrichten, in ihren zwei kleinen Stuben war kein Platz. Es fehlte Ellen sicher nicht an Herz; sie dachte oft bei diesem oder jenem an den Alten, aber ihre heftige Liebe gestattete keinem Dritten, ihnen ganz nahe zu kommen. Es war ihr auch mit keinem Gedanken eingefallen, und Pelle fühlte, es würde, wenn er sie überredete, Vater Lasse ins Haus zu nehmen, das Wunderbare in ihrem Zusammenleben sterben. So reich wie er und sie von Stunde zu Stunde lebten – das war ein heiliges Glück, das nicht geopfert werden konnte, sondern das selber alle Opfer erforderte! Ihr Verhältnis war nicht das gewöhnliche praktische Sichliebhaben, sondern die große Liebe selbst – die sonst nur in schönen tragischen Liedern von unglücklich Liebenden über den Alltag armer Leute dahinstrich. Hier zu ihnen kam sie selber – als leuchtendes Wunder!
Und nun sollte Ellen ein Kind bekommen. Ihre Gestalt wurde voller und weicher. Allen anderen gegenüber bewahrte sie das Fremde, Kalte in ihrem Wesen. Aber Pelle gegenüber erschloß sie sich ganz. Die leise Zurückhaltung – die immer irgendwo in ihr gewesen war, als sei da irgend etwas, das nicht einmal er erobern konnte – verschwand. Ihr Blick starrte nicht mehr forschend, sondern legte sich hingebend in den seinen zur Ruhe. – Es kam ein wunderbar weiches Gleichgewicht über sie – als habe sie jetzt all das Ihre in Besitz genommen, und sie ward von Tag zu Tag schöner.
Pelle war stolz darüber, wie sie sich unter seinen Liebkosungen so reich entfaltete. Er hatte das Gefühl von unerschöpflicher Freigebigkeit, wie es ihm die Erde in seiner Kindheit plötzlich einflößen konnte; eine unendliche Zärtlichkeit erfüllte sein Gemüt. Es lag eine bestrickende Macht in Ellens verheißungsreicher Hilflosigkeit. Mit Freuden opferte er die ganze Welt, um ihr und dem zu dienen, was sie so wunderbar trug.
Er stand des Morgens selbst zuerst auf, brachte die Stuben in Ordnung und machte Kaffee, ehe er an seine Arbeit ging. Wenn er dann zurückkam und Ellen im Hause gescheuert und geschrubbt hatte, wurde er böse. Er verdoppelte sich selbst, um sie zu schonen, knapste sich den Schlaf ab und war rastlos tätig; sein Gesicht hatte ein stillstehendes Gepräge von Glück, das ihm das Aussehen gab, als sei er beschränkt, über die vier Wände hinaus gingen seine Gedanken nicht; Ellens gesegnete Gestalt nahm das Ganze in Beschlag.
Die Neuanschaffungen hörten auf, statt dessen machte Ellen sonderbare Einkäufe von Leinwand, Flanell und Stoff zu Windeln, und es fanden geheime Unterredungen zwischen ihr und der Mutter statt, von denen Pelle ausgeschlossen wurde; und wenn sie zu den Schwiegereltern hinauskamen, wühlte Frau Stolpe immer so geschäftig in Schubladen herum und gab Ellen kleine Päckchen mit nach Hause.
Die Zeit verging nur zu schnell. So ausschließlich sie für ihre eigenen Angelegenheiten lebten, schienen sie doch nicht mit allem fertig werden zu können. Und eines Tages war es dann, als solle alles um sie her zusammenbrechen. Ellen lag im Bett, sie wand sich und schrie, als habe ein böser Geist Wohnung in ihr genommen! Pelle stand mit einem hilflosen Ausdruck über sie gebeugt, und am Fußende des Bettes saß Frau Blom; sie saß und strickte und las in ihrer Zeitung, als sei nicht das geringste los. »Schreien Sie man, kleine Frau,« sagte sie von Zeit zu Zeit, wenn es ihr zu still wurde – »das gehört mit dazu!« Ellen sah sie gehässig an und preßte trotzig die Lippen zusammen, aber im nächsten Augenblick sperrte sie den Mund weit auf und brüllte wild. Unten am Fußende des Bettes war ein Strick befestigt, daran zog sie, während sie schrie. Dann fiel sie ermattet zusammen. »Du böser, böser Junge«, flüsterte sie mit einem schwachen Lächeln. Pelle beugte sich glücklich über sie, aber sie stieß ihn plötzlich fort; ihr schöner Körper verzerrte sich, der entsetzliche Kampf raste wieder in ihr. Auf einmal löste eine schwache Stimme sie ab und erfüllte das Heim mit einem neuen Ton. »Ein neuer Mund satt zu machen«, sagte Frau Blom und hielt das Neugeborene an einem Bein in die Höhe – es war ein Junge.
Mit rotem Kopf und ganz verwirrt ging Pelle umher, als sei ihm etwas widerfahren, wie noch kein anderer es erlebt hatte. In der ersten Zeit nahm er Meister Becks Arbeit mit nach Hause und besorgte den Jungen nachts selbst. Jeden Augenblick mußte er die Arbeit hinwerfen und zu den beiden hineinlaufen. »Du bist doch eine großartige Frau, so ein Kind für einen Kuß zu geben,« sagte er strahlend – »und obendrein ein Junge! Was für ein Mann soll aus dem werden!«
»Nee, ist es ein Junge!« sagte die Familie. »Seid ihr nich' ganz weg!«
»Das fehlte auch noch!« sagte Pelle überlegen.
Die weiblichen Mitglieder der Familie neckten ihn, weil er das Kind besorgte. »So ein Mann – er legte sich am Ende auch gern ins Wochenbett«, sagten sie foppend.
»Das laß ich noch gelten«, brummte Stolpe. »Aber er ist ja kurz davor, Idiot zu werden – und das ist viel schlimmer, und es tut einem leid, daß man es sagen muß, aber daran ist das Mädel schuld! Nu hat sie doch ihr ganzes Leben lang nur gehört, was gut und recht ist. Aber Frauenzimmer sind wie die Katzen, an denen bleibt nichts hängen.«
Pelle lachte nur über ihre Sticheleien. Er war über alle Maßen glücklich.
Jetzt konnte Lasse aber den Weg zu ihnen finden! Kaum hatte er die Meldung von dem Ereignis erhalten, als er sich schon einfand, so wie er ging und stand. Es war ein kühner Schwung über ihn gekommen. Er warf seine Mütze vor der Tür an die Erde und stürzte in das Schlafzimmer, als wolle ihn jemand zurückhalten.
»Ach, das kleine Wesen! Hat man wohl je so einen Engel Gottes gesehen!« rief er aus und fing an, über das Kind los zu schwatzen, so daß Ellen ganz rot wurde vor Mutterstolz.
Seine Freude, Großvater geworden zu sein, kannte keine Grenzen. »Denn kam es ja also doch, denn kam es ja also doch!« wiederholte er einmal über das andere. »Und ich war immer bange, daß ich ohne Stellvertreter in mein Grab gehen müßte! – Ach, so ein kleiner draller Deubel! Er hat was zuzusetzen, der! Er wird sicher ein Großbürger, Pelle! Sieh doch mal bloß, wie rundlich er ist! Vielleicht Kaufmann oder Fabrikant oder so was Ähnliches! Wer ihn doch in seiner Macht und Größe sehen könnte – aber das ist dem alten Vater Lasse nicht vergönnt!« Lasse seufzte. »Ja, ja, jetzt ist er also hier, und wie sieht er einen schon an! Der Bengel denkt gewiß, was für ein runzeliger und schrumpeliger kleiner Mann ist denn das, der da steht und mich in seinem alten Anzug begrüßt. Ja, das ist Vater Lasse, nu sieh ihn dir man an, er ist auf ehrliche Weise zu seinen Herrlichkeiten gekommen.«
Und dann ging er zu Pelle und tastete nach seiner Hand: »Na, du, das hab ich doch gar nicht zu hoffen gewagt – wie schön er ist, Junge! Wie er woll heißen soll?« Lasse kam beständig mit dieser Frage und sah den Sohn ängstlich dabei an. Sein alter Kopf wackelte jetzt ein wenig, wenn ihn irgend etwas bewegte.
»Er soll Lasse Frederik heißen,« sagte Pelle eines Tages, »nach seinen beiden Großvätern.«
Da freute sich der Alte. Er ging und trank sich zur Feier des Tages einen kleinen Rausch an.
Jetzt kam er fast täglich. Sonntag vormittags machte er sich umständlich zurecht, putzte und bürstete sich, um einigermaßen präsentabel zu sein. Wenn er von der Arbeit vorüberkam, guckte er ein, um zu fragen, ob der kleine Lasse gut geschlafen habe. Er hielt Lobreden auf Ellen, die einen so sonnigen und schönen Jungen in die Welt setzen konnte, und sie ward ganz verliebt in den alten Mann, infolge seiner Freude über das Kind. Sie betraute ihn sogar damit, neben dem Kleinen zu sitzen, und nie war er froher, als wenn sie ausgehen wollten und nach ihm schickten.
So brachte der kleine Lasse es gleich bei seinem Auftauchen fertig, Mißverständnisse zu zerstreuen, und Pelle segnete ihn. Er war schon jetzt ein verteufelt kleiner Bursche, führte er nicht eines Tages Vater Lasse und Ellen einander geradeswegs in die Arme! Pelle folgte dem Gang des kleinen Wesens in die Welt Schritt für Schritt. Er erlebte es, wie der Blick des Knaben zum erstenmal wache Erkenntnis zeigte, indem er einem Gegenstand folgte – und wie die Hand zum erstenmal nach etwas griff. »Ei, ei, seh mal einer! Nun will er schon seinen Anteil an den Sachen haben!« rief Pelle entzückt. Es war sein blonder Schnurrbart, nach dem der Knabe aus war – ja, er war früh entwickelt. Die kleine Hand hatte tüchtig gefaßt und war kaum wieder aufzukriegen; sie hatte kleine Grübchen an den Fingern und tiefe Falten um das Handgelenk. Da war Kraft in Ellens Milch!
Von Morten sahen sie nichts mehr. Im Anfang besuchte er sie, hörte dann aber auf, zu kommen. Sie waren damals so sehr voneinander in Anspruch genommen, und Ellens kühles Wesen hatte ihn vielleicht zurückgeschreckt. Er konnte ja nicht wissen, daß das ihre Art allen gegenüber war! Pelle konnte niemals eine müßige Stunde finden, um ihn aufzusuchen, vermißte ihn aber oft. »Kannst du verstehen, was es mit ihm ist?« fragte er Ellen verwundert. »Wir haben ja so viel Gemeinsames miteinander, er und ich. Ob ich mal kurzen Prozeß mache und ihn aufsuche?«
Ellen antwortete nicht darauf, sondern küßte ihn nur. Sie wollte ihn ganz für sich haben und umgab ihn mit ihrer Liebe; ihr warmer Hauch machte ihn glücklich und weich. Ihr Herz umschloß ihn von hinten wie eine Mauer; er hatte ein schwaches Gefühl dafür, rührte sich aber nicht. Er fühlte sich behaglich, wo er war.
Das Kind verursachte neue Ausgaben, und Ellen hatte genug zu tun; es blieb nicht viel Zeit für sie, ihm zu helfen. Er mußte gehörig hinter der Arbeit her sein, damit sie sich den flauen Winter vom Leibe halten und traulich in ihren vier Wänden sitzen konnten. Zeit zum Stillstehen und Nachdenken gab es nicht. Es war eine Tatsache, die das tägliche Leben selbst festnagelte, daß kleine Leute reichlich damit zu schaffen hatten, wenn sie ihre eigenen Angelegenheiten besorgten; das brauchte ihnen nicht einmal bewußt zu werden.
Keiner seiner Gedanken schweifte jetzt mehr da draußen umher. Es war im Grunde nur eine alte Gewohnheit, wenn er während der Frühstückspause in der Werkstatt dasaß und in das Butterbrotpapier hineinguckte – in alte Exemplare vom »Arbeiter«. Dann konnte es wohl sein, daß er etwas in der Luft über sich hinziehen fühlte, woran er keinen Anteil hatte – und den Kopf mit einem lauschenden Ausdruck erhob. Aber Ellen kannte das Fremde, das in seinem Blick auftauchte, und wußte es mit einer Liebkosung auszulöschen.
Eines Tages begegnete er Morten auf der Straße. Pelle freute sich, aber in Mortens Blick lag ein skeptischer Ausdruck. »Warum kommst du eigentlich nie mehr zu mir hinaus?« fragte Pelle. »Ich sehne mich oft nach dir, aber ich kann ja nicht gut von Hause fortkommen.«
»Ich habe mir eine Braut angeschafft – das nimmt einen ja ganz in Anspruch.«
»Hast du dir eine Braut angeschafft?« sagte Pelle lebhaft. »Erzähl mir ein wenig von ihr.«
»Ach, da ist nicht viel zu erzählen«, sagte Morten mit einem trüben Lächeln. »Sie ist so zerlumpt und verkommen, daß kein anderer sie haben wollte, – da hab ich sie genommen.«
»Das sieht dir wahrhaftig ähnlich!« Pelle lachte. »Aber allen Ernstes, wer ist das Mädchen, wo wohnt sie?«
»Wo sie wohnt?« Morten stierte ihn einen Augenblick verständnislos an. »Ja, da hast du im Grunde recht. Wenn man weiß, wo Leute wohnen, weiß man auch gleich das Ganze. Die Polizei stellt auch immer diese Frage.«
Pelle wußte nicht, ob Morten hinterhältig sprach oder in gutem Glauben – heute war gar nicht aus ihm klug zu werden. Sein bleiches Gesicht sah gequält aus. Es lag ein wunderlicher Schimmer in den Augen. »Irgendwo muß man bei dieser Winterkälte ja wohnen«, sagte er.
»Ja, da hast du recht! Und sie wohnt auf dem Gemeindeanger, wenn der Polizist sie da nicht 'rausschmeißt. Er ist der Vize für die Unglücklichen, weißt du! Es ist ja neulich Volkszählung gewesen – hast du wohl beachtet, wie man dabei vorgegangen ist? Es war befohlen, daß alle angeben sollten, wo sie in einer bestimmten Nacht wohnten. Wurden aber den Obdachlosen auch die Volkszählungslisten vorgelegt? Nein, alle, die in Schuppen, auf dem Gemeindeanger, in Neubauten und in den verschlossenen Mistgruben der Fuhrleute wohnen – die haben kein Heim und zählen folglich auch nicht mit. Das ist ganz schlau eingerichtet, weißt du, sie existieren überhaupt nicht. Sonst bekäme man ja eine häßliche Zahl mit auf die Liste – die Zahl der Obdachlosen. Nur einer in der Stadt hier hat Kenntnis davon, ein Straßenmissionar; und mit dem bin ich einige Nächte ausgegangen; es ist grauenerweckend, was wir da gesehen haben! Überall, wo nur ein Spalt ist, drängen sie sich hinein, um Schutz zu suchen, unter den eisernen Treppen liegen sie und frieren tot. Wir fanden so einen – einen alten Mann – und riefen einen Schutzmann herbei; der steckte seine rote Nase der Leiche gerade in den Mund und sagte: ›Am Suff gestorben?‹ Das steht da nun an der Stelle, wo es im Bericht heißen sollte: totgehungert! Es darf ja nicht heißen, daß hier in diesem Lande jemand wirklich Not leidet, verstehst du. Hier friert niemand, der sich rühren will; hungert jemand, so ist es seine eigene Schuld. So muß es notwendigerweise in einem der aufgeklärtesten Länder der Welt heißen, man ist zu kultiviert geworden, um die Not an seiner Seite frei dahingehen zu lassen; das würde die Genüsse schwächen und Einfluß auf die nächtliche Ruhe haben. Also muß man sie sich vom Leibe halten, sie abzustreifen ist ein wenig zu umständlich; aber die Polizei ist ja darauf dressiert, sie in die Ecken und Winkel hineinzujagen. Geh nach dem Trangraben und sieh, was sie in dieser Zeit an einem einzigen Tag an Land bringen – von dir ist es ja nicht weit bis dahin! Unglücksfälle, nicht wahr! Der Boden ist ja glatt, und die Leute kommen dem Kai zu nahe! – Neulich abends brachte eine Frau in einem offenen Torweg in der Norderstraße ein Kind zur Welt bei zehn Grad Kälte. Leute, die vorüberkamen, waren empört; es sei unverantwortlich von ihr, in diesem Zustand auszugehen – sie könne sich doch zu Hause halten. Es fiel ihnen nicht ein, daß sie kein Heim hatte. Nun ja, aber dann hätte sie sich ja an die Polizei wenden können, die muß sich doch der Leute annehmen. Im Gegenteil, als wir sie in die Droschke legten, schrie sie voller Schrecken: »Nicht ins Entbindungshaus!« Sie war ja schon einmal dagewesen. Sie muß einen Grund gehabt haben, dem Torweg den Vorzug zu geben – ebenso wie die anderen, die die Kanäle dem Armenhaus vorziehen.«
Morten fuhr fort, rücksichtslos, als müsse er einer inwendigen Qual Luft machen. Pelle lauschte staunend diesem Ausbruch zerrissenen Schmerzes mit einem beschämten Gefühl, daß er selbst eine Fettschicht um das Herz habe. Das Elend nahm wieder einen eigenen lebendigen, grausamen Schimmer an unter Mortens Rede.
»Warum erzählst du mir das alles, als gehöre ich zu den Oberklassen?« sagte er. »Ich kenne das ja ebensogut wie du.«
»Und dabei haben wir nicht mal ein Notjahr,« fuhr Morten fort – »es sind dies normale Zustände, wie sie die Jahreszeit immer im Gefolge hat. Gestern stahl ein armer Mann bei uns ein Brot vom Ladentisch und lief damit weg; nun soll er für sein ganzes Leben gebrandmarkt werden. Mein Gott, daß er sich um so wenig zum Dieb machen wollte, sagte die Frau des Meisters – um ein Brot zu fünfunddreißig Öre. Ist das wohl zu begreifen – fürs ganze Leben gebrandmarkt um ein Weißbrot!« »Er hungerte ja«, sagte Pelle dumpf.
»Hungerte? ja, natürlich hungerte er! Aber für mich ist es Wahnsinn, sage ich dir – ich fasse es nicht; und jeder andere meint, daß es so leicht zu verstehen ist. Warum ich dir das erzähle – fragst du, du weißt das alles ja selbst. – Nein, aber du weißt es doch nicht richtig, sonst müßtest du dich verrückt grübeln über den entsetzlichen Wahnsinn, daß diese beiden Worte: Brot und Verbrechen, zusammengehören können! Ist es denn nicht verrückt, daß die beiden Enden sich gegeneinander biegen und den Ring um ein Menschenleben schließen sollen? Daß man überhaupt Brot stehlen kann – Brot, verstehst du? Das sollte gar nicht gestohlen werden, was hat das mit Diebstahl zu tun, daß sich einer satt ißt? – Des Morgens lange vor sechs sammeln sich die Armen draußen vor unserem Laden an und stehen aufgereiht da, um zuerst zu dem alten Brot zu gelangen, das zum halben Preis verkauft wird. Die Polizei ordnet sie in Reihen, so wie an der Billettkasse im Theater, und einige kommen schon um vier und stehen zwei Stunden in der Kälte, um ihren Platz zu behaupten. Aber außer denen, die kaufen, finden sich immer eine Menge noch Ärmerer ein; sie haben nichts, wofür sie kaufen könnten, aber stehen doch da und starren, als interessiere es sie sehr, zu sehen, wie die anderen billig zu Brot kommen. Sie stehen da und warten auf das Wunder in Form einer Scheibe Brot. Man kann das an der Art und Weise sehen, wie ihre Augen jede Bewegung verfolgen, in derselben verzweifelten Hoffnung, wie sie in dem Blick der Hunde liegt, wenn sie an dem Schlachterwagen stehen und den Himmel anflehen, daß der Schlachter ein wenig fallen lassen möge. Sie begreifen nicht, daß nicht irgendeiner sich ihrer erbarmt. Nicht wir Menschen – du solltest ihre Überraschung sehen, wenn wir ihnen etwas geben –, sondern der Zufall, das Unglück. Großer Gott, Brot ist so billig, das billigste von allem Wichtigen auf dieser Erde, und doch können sie nicht einmal genug davon bekommen! Heute morgen steckte ich einer alten Frau ein Brot zu, und sie küßte es und weinte vor Freude. – Findest du, daß das zum Aushalten ist?« Er starrte Pelle an, es lauerte Wahnsinn in seinem Blick.
»Du tust mir unrecht, wenn du glaubst, daß ich es nicht auch fühle«, sagte Pelle still. »Aber wo führt ein schneller Weg aus diesem Übel heraus? Wir müssen langmütig sein und uns organisieren und auf die Zeit hoffen. Uns unser Recht nehmen, so wie sie das anderswo tun, dazu taugen wir nicht.«
»Nein, das ist es ja gerade! Man weiß, daß wir nicht dazu taugen – darum kann die Gerechtigkeit nicht gedeihen. Das Volk bekommt nur, was ihm zukommt, wenn die Leitenden wissen, daß sie es sich im schlimmsten Falle selbst schaffen können.«
»Ich glaube nicht, daß etwas Gutes aus einer Revolution kommen würde«, sagte Pelle hell. Er fühlte die alte Kampfbereitschaft wieder in sich.
»Darauf verstehst du dich nicht, wenn du es nicht in dir gefühlt hast!« antwortete Morten heftig. »Revolution ist Gottes Stimme, die Recht und Gerechtigkeit übt und über die sich nicht streiten läßt. Wenn sich die Armen erhöben und sich ihr Recht verschafften, so wäre das Gottes Urteil, und es würde wohl nicht umgestoßen werden. Die Zeit hat wohl das Recht, sich selbst wieder einzuholen, wenn sie in einer so ernsten Sache in Rückstand geraten ist; und das geschieht nur durch einen Sprung vorwärts. Aber sie erheben sich nicht, sie sind wie feuchtes Pulver! Du bist wohl auch einmal da unten in dem Keller des Eisenhändlers unter der ›Arche‹ gewesen und hast sein Lager von Lumpen und Knochen und altem eisernen Gerümpel gesehen? Das ist lauter Abfall vom Müllplatz her, Dinge, die die menschliche Gesellschaft einmal verbraucht und dann da hinausgeschickt hat. Er holt es wieder herein, und nun können die Armen es kaufen. Er kauft auch das Brot von den Soldaten, wenn sie auf den Bummel gehen wollen, und schmeißt es auf den Schmutzhaufen; es heißt, es sei Pferdefutter, aber die Armen kaufen es ihm ab und essen es. Der Müllplatz ist die Speisekammer der armen Leute – das heißt, wenn die Schweine genommen haben, was sie haben wollen. Die Amager Bauern mästen ihre Schweine dort, und die Gesundheitskommission denkt daran, das zu verbieten; aber mit den Kopenhagener Armen hat niemand Mitleid.«
Pelle schauderte. Es lag etwas Dämonisches in Mortens schrecklichem Wissen – er wußte ja mehr von der »Arche« als Pelle selbst. »Bist du denn auch unten in diesem widerlichen Lumpenkeller gewesen,« fragte er, »oder woher weißt du das?«
»Nein, aber ich weiß es nun einmal – das ist ja mein Fluch! Frag selbst nach, ob sie nicht Suppen aus den verfaulten Knochen von da draußen kochen. – Und nicht einmal die Giftstoffe des Müllplatzes können sie entzünden. Sie fressen es auf und langen nach mehr. Ich ertrage es nicht, wenn nicht irgend etwas geschieht! Jetzt hast du dich aus dem Staub gemacht, so geht es mit jedem, der etwas ausrichten sollte, mit einem nach dem anderen; weil sie zufrieden sind oder weil sie ihrem eigenen jämmerlichen Vorteil nachgehen. Die, die was taugen, kneifen aus, und nur die Elenden bleiben übrig.«
»Ich hab' euch nicht im Stich gelassen«, sagte Pelle warm. »Du sollst sehen, daß ich es nicht getan habe.«
»Es ist nicht zu verwundern, daß sie müde werden«, fuhr Morton fort. »Selbst Gott verliert die Geduld mit denen, die sich fortwährend niedertreten lassen, über Nacht träumte mir, daß ich zu denen gehörte, die hungern. Ich ging die Straße hinab und war betrübt über meinen Zustand, und da begegnete ich Gott. Er war gekleidet wie ein alter Kosakenoffizier und hatte die Knute um den Hals hängen.
›Hilf mir, lieber Gott!‹ rief ich und fiel vor ihm auf die Knie. ›Meine Brüder wollen mir nicht helfen.‹
›Was fehlt dir?‹ fragte er, ›und wer bist du?‹
›Ich bin einer von deinem auserwählten Volk, von den Armen‹, antwortete ich. ›Ich hungere!‹
›Du hungerst und kommst und klagst deine Brüder an, die Eßwaren im Überfluß für dich hingelegt haben?‹ sagte er ganz aufgebracht und zeigte auf alle die schönen Läden. ›Du gehörst nicht zu meinen Auserwählten – mach, daß du wegkommst!‹ Und dann schlug er mich mit der Knute über den Rücken.«
Morten ging trübselig dahin und sprach nicht mehr; es schien, als wenn er weder sehe noch höre, er war ganz zusammengebrochen. Plötzlich bog er ab, ohne sich zu verabschieden.
Pelle ging nach Hause; er war ärgerlich über Mortens Heftigkeit, die, das fühlte er, ein Angriff auf ihn war. Er wußte bei sich selbst, daß er nicht treulos war; das Glück, eine Familie zu stiften, sollte ihm niemand mißgönnen. Er war ganz empört – zum erstenmal nach langer Zeit. Hier kamen sie und stichelten auf ihn, der mehr für die Bewegung getan hatte als die meisten, nur weil er für eine Weile sich mit seinen eigenen Angelegenheiten befaßt hatte. Drinnen in ihm regte sich etwas Unbändiges, er empfand ein plötzliches Bedürfnis, um sich zu schlagen – einen gehörigen harten Kampf auszufechten und die häusliche Wärme aus dem Körper zu schütteln.
Unten an den Kanälen war man im Begriff, das Eis aufzuhauen, um dem Wasser Luft zu schaffen. Es war schon Vorfrühlingstrieb darin, es führte die Eisstücke von dannen, dem Meere zu, mit unglaublicher Langsamkeit. Das wäre im Grunde eine Arbeit für dich, dachte er ausweichend. Er fühlte, was eigentlich dahinter lag, ließ es aber nicht in sich aufkommen.
Sobald er innerhalb seiner vier Wände war, beruhigte er sich wieder. Ellen saß am Ofen, mit dem kleinen Lasse beschäftigt, der auf ihrem Schoß auf dem Bauch lag und zappelte.
»Sieh doch bloß einmal, was für ein süßes kleines Brötchen er hat,« sagte Ellen – »er ist auch nicht 'ne Spur wund!«