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Pelle dachte oft mit Sorge an die drei Verwaisten in der »Arche«. Sie lernten nichts, was ihnen für die Zukunft zugute kommen konnte, sondern hatten genug damit zu tun, sich durchzuschlagen. Die schlechten Zeiten trafen auch sie, namentlich litt Karls Verdienst darunter; die Leute kargten mit den Trinkgeldern. In diesen Zeiten hatten sie nie mehr als einen Tag Vorsprung vor dem Mangel, das geringste Unglück brachte es ihnen auf den Leib. Aber sie ließen sich nichts davon merken, wurden nur ein wenig ernsthafter und stiller als sonst. Er hatte sich an verschiedenen Stellen erkundigt, um ihnen Hilfe zu schaffen, aber es ließ sich nicht machen, wenn sie nicht zugleich auseinandergerissen wurden. Alle, die imstande waren, ihnen zu helfen, würden auch gegen diese kleine Häuslichkeit einschreiten; und das würde das Schlimmste sein, was den Kindern zustoßen konnte.
Wenn er zu ihnen kam, hatte Marie immer genug zu erzählen und zu fragen; er war noch ihr einziger Vertrauter und mußte ihre häuslichen Sorgen anhören und ihr Rat erteilen. Sie schoß jetzt hoch auf und sah frischer aus als früher, seine Gegenwart brachte Freude in ihre Augen und machte ihr rote Wangen. Über Vater Lasse hielt sie Lobreden in gerührtem Ton, als sei er ein kleines hilfloses Kind; aber wenn sie nach Ellen fragte, blitzte ein wenig Schadenfreude in ihren Augen.
Eines Vormittags, als er daheim saß und arbeitete und Ellen mit dem Kinde aus war, schellte es. Er ging hinaus und öffnete. Im kleinen Briefkasten steckte eine Nummer des »Arbeiters« mit der Aufforderung, die Zeitung zu halten. Eifrig öffnete er das Blatt, während er sich wieder an den Arbeitstisch setzte; ein merkwürdiger Drang in ihm veranlaßte ihn, zu allererst die Unglücksfälle zu durchlaufen.
Er zuckte zusammen. Obenan in der Rubrik stand von einem vierzehnjährigen Jungen, der in einer Blechwarenfabrik arbeitete und dem die Finger der rechten Hand abgeschnitten waren. Eine Ahnung sagte ihm, daß das Unglück über die kleine »Familie« hereingebrochen sei; er zog schnell eine Jacke an und lief in die »Arche« hinüber.
Marie kam ihm unruhig entgegen. »Kannst du begreifen, was es mit Peter ist? Er ist über Nacht nicht zu Hause gewesen!« sagte sie bekümmert. »Viele Jungen streifen ja des Nachts auf den Straßen herum; aber so ist Peter bisher nie gewesen, und ich habe sein Essen bis Mitternacht warm gehalten. Vielleicht ist er in schlechte Gesellschaft geraten, dachte ich.«
Pelle zeigte ihr den »Arbeiter«. Binnen kurzem würden die Bewohner der »Arche« die Notiz bemerken und dann damit hereingestürzt kommen. Da war es doch besser, er bereitete sie vor. »Aber es ist ja gar nicht sicher«, sagte er ermunternd. »Vielleicht ist er es überhaupt nicht.«
Marie brach in Tränen aus: »Ja, natürlich ist er es! Ich bin so oft in Sorge umhergegangen, wenn er von den scharfen Messern erzählte, die immer zwischen ihren Fingern herumlaufen. Und ordentlich in acht nehmen können sie sich ja auch gar nicht, denn es muß schnell von der Hand gehen, sonst kriegen sie ihren Abschied. Ach, lieber, armer Peter!« Sie war auf dem Stuhl niedergesunken, saß da und wiegte sich über ihrem Schoß wie eine unglückliche Mutter.
»Sei nun erwachsen und vernünftig«, sagte Pelle und legte die Hand auf ihre Schulter. »Vielleicht ist es gar nicht so schlimm; die Zeitungen übertreiben immer. Nun will ich hinlaufen und sehen, daß ich ihn aufspüren kann.«
»Geh doch erst in die Fabrik,« rief Marie und erhob sich energisch – »da wissen sie es natürlich am besten. Aber du darfst auf keinen Fall sagen, wo wir wohnen – hörst du! Denk daran, daß wir nicht zur Schule gewesen sind – und er ist auch nicht beim Pfarrer angemeldet, um konfirmiert zu werden. Wir können bestraft werden, wenn man das entdeckt.«
»Ich will mich schon in acht nehmen«, sagte Pelle und eilte von dannen.
Draußen in der Fabrik erhielt er den Bescheid, daß Peter im Hospital liege. Er lief dahin und kam gerade noch rechtzeitig zur Besuchszeit. Peter saß aufrecht im Bett, die Hand in einer Binde; sie sah wunderlich verkrüppelt in der Binde aus. Und in das Gesicht des Knaben hatte der Gram schon die tiefen, unauslöschlichen Spuren hineingetreten, die so traurig die Invaliden der Arbeit kennzeichnen. Die fürchterliche Tragweite der Verstümmelung stand in seinem grübelnden Kinderblick geschrieben.
Er freute sich, als er Pelle sah, und machte eine unwillkürliche Bewegung mit der rechten Hand: dann besann er sich und reichte ihm die linke. »Nja, nun muß man ja die linke Flosse geben,« sagte er mit einem vergrämten Lächeln – »das wird mir noch schnurrig vorkommen. Wenn ich man überhaupt was tun kann, denn sonst –« er machte eine drohende Bewegung mit dem Kopf. »Das will ich dir man sagen, Marie und Karl werde ich nicht mein ganzes Leben lang zur Last fallen. Glaubst du, daß ich je wieder arbeiten kann.«
»Wir werden schon etwas für dich finden,« sagte Pelle, »es gibt auch gute Menschen. Vielleicht hilft dir irgend jemand, daß du studieren kannst!« Er wußte selbst nicht, wie ihm gerade dieser Gedanke kam; er selber hatte noch nie einen solchen Fall gesehen. Die Märchenträume seiner Kindheit erzeugten diesen ganzen Vorstellungskreis, der durch die Anekdoten von armen Knaben aus den Lesebüchern genährt war. Er stand dem Unmöglichen gegenüber und griff ganz einfach nach dem Unmöglichen.
Peter hatte keine Lesebücher hinter sich. »Gute Leute!« rief er höhnisch aus – »die haben ja selbst nie was, und ich kann ja nicht einmal lesen – wie soll man da studieren lernen? Karl kann lesen; er hat sich das aus den Schildern auf der Straße 'rausgetüftelt, wenn er Botengänge machte – er kann auch schreiben! Und Hanne hat Marie ein wenig unterrichtet. Aber ich bin ja mein ganzes Leben nur in der Fabrik gewesen.« Er starrte bitter vor sich hin; es war traurig, wie verzehrt sein Gesicht war – ganz eingefallen!
»Mach du dir nur jetzt keine Sorgen!« sagte Pelle zuversichtlich. »Wir finden schon etwas.«
»Aber verschon' mich mit der Armenpflege. – Lauf bloß nicht hin und bettele für mich«, erwiderte Peter zornig, »und Pelle«, – er flüsterte, damit niemand in der Stube es hören sollte – »hier ist es wirklich nicht amüsant. Über Nacht lag da ein alter Mann und starb dicht neben mir. Er starb am Krebs, und sie stellten nicht einmal einen Bettschirm davor. Die ganze Zeit lag er da und glotzte mich an! Aber in ein paar Tagen kann ich auch schon 'rauskommen. Dann muß ja bezahlt werden – sonst kommt die Sache an die Armenverwaltung, und die fangen gleich an zu schnüffeln – ich habe ihnen was aufgebunden, Pelle! Kannst du nicht kommen und mich auslösen? Marie hat Geld für die Hausmiete liegen – das kannst du ja nehmen.«
Pelle versprach es und eilte heim an seine Arbeit. Ellen war zu Hause. Sie ging umher und sah verwundert aus. Er machte sie mit der Sache vertraut. »Ein ganz prächtiger Junge ist er«, sagte er fast weinend. »Etwas zu ernst von all der Arbeit – und jetzt ist er ein Krüppel. Nur ein Kind und schon Arbeitsinvalide; es ist schrecklich, das auszudenken!«
Ellen trat an ihn heran und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter, beruhigend strich sie ihm über das Haar.
»Wir müssen etwas für ihn tun, Ellen«, sagte er dumpf.
»Du bist so gut, Pelle. Du würdest gern allen Menschen helfen; aber was können wir tun? Unsere Sparpfennige haben wir ja für die Wochenbettgeschichte aufgebraucht.«
»Wir müssen irgend etwas von unseren Sachen verkaufen oder versetzen.«
Sie sah ihn entsetzt an. »Pelle, unser liebes Heim! Hier ist ja auch nicht mehr als gerade das allernotwendigste. Und so wie du unsere armseligen Sachen liebst! Aber wenn du meinst, dann natürlich! Du tust ja doch schon was für ihn, indem du ihm deine Zeit opferst.«
Da schwieg er. Sie fing mehrmals von der Sache an als etwas, das überlegt werden müsse, aber er antwortete nicht. Ihr Gerede peinigte ihn – entweder handelte man oder man schwieg.
Am Nachmittag machte er sich in der Stadt zu tun und ging zur Fabrik hinaus. Er wandte sich an das Kontor, und es gelang ihm, den Fabrikanten selbst zu sprechen. Der Fabrikant war unangenehm berührt von dem Vorgefallenen, wußte aber geltend zu machen, daß es ausschließlich die Folge von Unvorsichtigkeit sei. Er riet Pelle, eine Sammlung unter den Arbeitern der Fabrik in Gang zu setzen, und eröffnete die Sammlung selbst mit einem Betrag von zwanzig Kronen. Außerdem stellte er in Aussicht, daß Peter, der ein zuverlässiger Junge sei, die Stelle als Bote und Einkassierer erhalten könne, wenn er genesen sei.
Peter war beliebt unter seinen Kameraden; es kam eine hübsche kleine Summe zusammen. Pelle bezahlte seinen Hospitalaufenthalt, und es blieb so viel übrig, daß er nach Hause gehen und unbekümmert ausruhen konnte, bis die Hand geheilt war und er den Platz als Bote der Fabrik antreten konnte. Der kleine Invalide war ganz guter Laune, weil er sein Auskommen gesichert wußte; er wandte die Zeit an, um in der Stadt herumzuschlendern, wo Musik war, um neue Melodien zu lernen. »Das sind die ersten Ferien, die ich gehabt habe, seit ich auf die Fabrik kam«, sagte er zu Pelle.
Den Platz als Bote bekam er nicht – es war ihm ein anderer zuvorgekommen, aber er erhielt Erlaubnis, wieder an seine alte Arbeit zu gehen! Mit den Überresten der rechten Hand konnte er die Blechplatte auf den Tisch niederdrücken, die linke mußte sich nun darin üben, sich zwischen den sich drehenden Messern herumzubewegen. Das erforderte nur Zeit und noch etwas mehr Aufmerksamkeit.
Das Unglück brannte sich in Pelles Seele ein und rief seinen ruhenden Gram wach! Der Zufall hatte ihm drei Verwaiste zu Geschwistern gegeben, und er fühlte Peters Schicksal so brennend, als habe es ihn selbst getroffen. Eine Schande war es, daß Kinder ihren Unterhalt durch lebensgefährliche Arbeit fristen mußten, um sich die abscheuliche Armenverwaltung vom Leibe zu halten. Was war das für eine Gesellschaftsordnung? Er empfand ein erstickendes Bedürfnis, daraufloszuschlagen.
Die Last von Dues Schicksal legte sich wieder auf sein Antlitz, vermehrt durch dies neue; Ellens weiche Hände konnten es nicht wegstreifen. »Sieh doch nicht immer so wütend aus – du machst das Kind ja bange«, sagte sie und reichte ihm den kleinen Lasse hin. Und Pelle versuchte zu lachen. Aber es ward nur ein grimmiges Lächeln.
Er empfand kein Bedürfnis, Ellen in seine blutende Seele hineinsehen zu lassen, und sprach mit ihr über gleichgültige Dinge. Sonst saß er da und schaute in die Ferne, wachsam nach jedem Zeichen spähend; das Gefühl, zu etwas Besonderem auserwählt zu sein, erfüllte ihn wieder. Er war sicher, daß eine Botschaft für ihn unterwegs war.
Und dann starb Schuster Petersen, und er wurde wieder aufgefordert, die Leitung des Fachvereins zu übernehmen.
»Was sagst du dazu?« fragte er Ellen, obwohl sein Beschluß unwiderruflich gefaßt war.
»Das mußt du ja selbst wissen«, erwiderte sie zurückhaltend. »Wenn du Vergnügen davon hast, dann natürlich!«
»Ich tue es nicht um meiner selbst willen«, sagte Pelle finster. »Ich bin ja kein Frauenzimmer.«
Er bereute sofort seine Worte und ging hin und küßte sie. Sie hatte Tränen in den Augen und sah ihn verwundert an.