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Viertes Buch


I

Mitten da draußen in dem offenen, fruchtbaren Land, wo der Pflug gerade damit beschäftigt war, die schwarze Erde um die vielen freundlichen kleinen Wohnungen aufzuwühlen, lag eine finstere Burg, die nach allen Seiten der lächelnden Welt öde Mauern entgegenstellte. Keine Fensterscheiben fingen die Morgen- und Abendröte auf und gaben sie bewegt zurück, drei Reihen eisenvergitterter Gucklöcher verschlangen unersättlich alles Licht des Tages. Immer gleich gierig sperrten sie die Mäuler auf, gegen den blauen Himmel gesehen wirkten sie wie Löcher in die ewige Finsternis hinein. Mit erdrückender Schwere ragte der Steinkoloß über den vielen, lächelnden Wohnungen auf, aber die friedliche Bevölkerung schien sich nicht bedrückt zu fühlen. Sie pflügte ihren Acker bis hart unter die öden Mauern; und so weit hinaus, wie man die Burg sah, richteten sich die Augen mit einem Ausdruck darauf, der besagte, daß man sich gerade wohl fühlte hier unter den starken Mauern.

Gleich einem Wahrzeichen ragte das mächtige Gebäude über allem anderen auf; es konnte sehr wohl einem Tempel ähneln, den eine dankbare Menschheit zu Gottes Ehre errichtet hatte – so imponierend war es. Aber in einer fernen Vergangenheit mußte das geschehen sein! So barbarisch baut man heute keine Wohnungen mehr – nicht einmal für den lieben Gott – als gelte es nur Licht und Luft auszuschließen! Das schwere Mauerwerk war ganz durchdrungen von der naßkalten Finsternis da drinnen, Jahrhunderte hatten die Oberfläche verwittert und darin üppige Kulturen aus Schimmel und Schwämmen gebildet, aber es schien noch eine Ewigkeit stehen zu können. – Das Gebäude war jedoch keine Festung, auch kein Tempel, in dessen Dunkel der unbekannte Gott wohnte. Näherte man sich dem großen, schweren Tor, das immer geschlossen war, so las man über der Wölbung das eine Wort Gefängnis, mit großen eisernen Buchstaben gesetzt. Darunter stand ein einfältiger lateinischer Vers, der recht anspruchsvoll besagte:

Bin aller Tugend und Weisheit Hort!
Gerechtigkeit gedeiht nur an diesem Ort.

Eines Tages mitten im Frühling tat sich die kleine Tür in dem Gefängnisportal auf, ein großer Mann trat heraus und sah sich blinzelnd um. Das Tageslicht schlug ihm in das bleigraue Gesicht, so daß er zurücktaumelte und sich gegen die Mauer stützen mußte; es sah aus, als wolle er wieder hineinflüchten. Er schöpfte tief Atem und wanderte dann in das offene Land hinaus.

Der Frühlingswind packte ihn mit einem gutgemeinten Griff, versuchte das zuchthäuslerisch geschnittene, graugesprenkelte Haar aufzuwühlen, das lockig und blond war, als er zuletzt darin zauste, und schlich sich wohltuend bis an den nackten Körper hinein, wie eine weiche, ein wenig kühle Hand. Willkommen hier draußen, Pelle! sagte die Sonne und sah ihm in die ausgeweiteten Pupillen, wo das Zellendunkel saß und lauerte. Aber er verzog keine Miene, das Gesicht war wie in Stein gehauen. Die Augen zogen nur die Hornhaut so gewaltsam unter dem Einfluß des Lichts zusammen, daß es weh tat, sie fuhren fort, suchend hinauszustarren. Jedesmal, wenn er einen Menschen erblickte, blieb er stehen und starrte gespannt – vielleicht in der Hoffnung, daß jemand kommen und ihn empfangen würde.

Als er auf die Landstraße einbog, wurde er angerufen. Er wandle sich in plötzlicher, hastiger Freude um, duckte dann den Kopf und setzte seinen Weg fort, ohne zu antworten – es war nur ein Strolch, der halb über einen Graben drinnen auf dem Felde hinausguckte und winkte. Er kam über den gepflügten Acker gelaufen und brüllte heiser: »So wart doch, zum Teufel auch! Hat man hier den ganzen Tag gelegen und auf Gesellschaft gelauert – da kannst du doch wohl einen Augenblick warten!« Es war ein breitschulteriger, ein wenig schwammiger Bursche mit flachem Rücken und einem dicken, steilen Nacken, der ganz gerade in die Mütze hinaufstieg, ohne den Hinterkopf hervortreten zu lassen, und den Gedanken unwillkürlich auf das Schafott hinführte. Das Nasenbein war in das blaurote Gesicht eingesunken und verlieh ihm eine bullenbeißerartige Mischung von Brutalität und dummer Neugier.

»Wie lange hast du gesessen?« fragte er keuchend und blieb stehen. Er hatte böse Augen.

»Ich kam damals rein, als der liebe Gott noch ein kleiner Junge war – dann kannst du es dir ja selbst ausrechnen«, antwortete Pelle kurz angebunden.

»Verdammt und verflucht, das war 'ne gehörige Zeit. Und warum haben sie dich verdonnert?«

»Ach, da war gerad' ein Platz frei. Da nahmen sie mich und steckten mich da hinein – damit er nicht leer bleiben sollt'!«

Der Strolch sah ihn schielend an. »Nee, das is zu dick aufgeschmiert – das glaubt dir doch keiner!« sagte er unsicher. Plötzlich blieb er vor Pelle stehen und steckte ihm seine Stierstirn ins Gesicht: »Nu will ich dir mal was sagen, mein Junge! Ich will ungern den ersten Tag, wo ich frei bin, Hand an jemand legen, aber du sollst dich doch ein wenig in acht nehmen und dich mit deiner verehrten Aufgeblasenheit an 'ne andere Adresse wenden, ja. Denn hier hab' ich nu seit heut morgen gelegen und auf Gesellschaft gelauert!«

»Ich hab' nicht die Absicht, irgendeinen Menschen zu beleidigen«, sagte Pelle geistesabwesend. Er sah so aus, als sei er noch nicht zu der Welt zurückgekehrt, und machte keine Miene zuzuschlagen.

»Na, also nich' – das is ein Glück für dich. Sonst könnt'st du mal darauf gefaßt sein, daß man einen Farbenabdruck von deiner betrüblichen Fratze nähme – so ungern man es auch täte. Übrigens soll ich dich von Mutter grüßen.«

»Bist du Ferdinand?« fragte Pelle und erhob den Kopf.

»Stell dich man bloß nich' an!« Ferdinand spie auf den Weg. »Man is wohl Großbürger vom Sitzen geworden, was?«

»Ich erkannte dich ja nicht«, sagte Pelle eindringlich; er war plötzlich ins Leben zurückgerufen.

»Na ja – wenn du es doch sagst. Da muß woll die Schnauze schuld an sein – die haben sie mir den Abend eingeschlagen, als ich Mutter in die Erde gebracht hatt'. Ich soll dich übrigens grüßen.«

»Danke!« sagte Pelle warm. Alte Erinnerungen aus der ›Arche‹ riefen nach ihm und brachten sein Blut wieder in Wallung. »Ist es lange her, seit deine Mutter starb?« fragte er teilnehmend.

Ferdinand nickte: »Na ja, es war übrigens recht gut, denn nu is da niemand mehr, um den man ein schlechtes Gewissen zu haben braucht. Ich hatt' mir ja in den Kopf gesetzt, daß sie verdient hätt', es auf ihre alten Tage ein bißchen anständig zu haben – und ich war mörderlich vorsichtig. Aber dann wurd' ich doch bei einem lumpigen Einbruch ertappt und kriegt acht Monate. Das war gleich nachdem sie dich eingelocht hatten – aber das weißt du wohl?«

»Nein, woher sollt' ich das wissen?«

»Ich hab' es dir doch 'rübertelegraphiert. Ich saß dir gerade gegenüber – Flügel A, und als ich deine Zelle ausgerechnet hatte, bestellte ich einen Abend die ganze Linie und klopfte dir einen Gruß 'rüber. Aber da saß ein Mucker von einem Pfarrer an der Ecke von deinem Flügel – einer von diesen Sittlichkeitkerls – na, das weißt du nich' mal? Ja, den hab' ich die ganze Zeit in Verdacht gehabt, daß er meinen Bescheid nich' weiterklopfte, obgleich da 'ne schreckliche Menge Gelehrsamkeit auf solch Rindvieh verschwendet is. Als ich dann 'rausgekommen war, sagt' ich zu mir selbst, daß die Sache nu ein Ende haben sollt', denn Mutter hatt' das fürchterlich mitgenommen. Ich versucht' in eine von den Straßen zu kommen, wo die anständigen Gauner wohnen, und wurd' Kolporteur – und das ging sehr ordentlich. Denn es wäre doch 'ne infame Niedertracht gewesen, wenn sie vor Hunger krepiert wär'. Und wir hatten es gewaltig gut, 'n halbes Jahr lang. Aber da schrummte sie doch ab, und darauf kannst du Gift nehmen, nie im Leben is Ferdinand in solcher Drecklaune gewesen wie den Tag, als er sie draußen auf dem Westfriedhof in die Erde gebracht hat. Na, nu liegt Mutter da und riecht von unten an dem Unkraut, und nu kannst du man gleich Schluß machen, sagt' ich zu mi selbst, denn nu hast du hier doch nichts mehr zu schaffen. Und ich ging ins Geschäft und verlangte sofortige Abrechnung. Und da beschuppsten sie mich um funfzig Abonnenten – die Spitzbuben.

Natürlich ging ich zur Polizei – ich war damals noch dumm genug dazu. Aber das is ja 'ne Bande, von Anfang bis zu Ende. Sie meinten ja, dem Ferdinand, dem könnt' man kein Wort glauben und wollten mich am liebsten gleich wieder einspunnen. Aber so viel sie auch schnüffelten, war da nichts, wo sie einhaken konnten. Verteufelt, wie gut er sich diesmal aus der Schlinge zu ziehen weiß, der Kerl! sagten sie da und ließen mich laufen. Aber sie sollten bald ihren Willen kriegen, denn nu nahm ich die Sache selbst in die Hand, und du kannst mir glauben, das Geschäft zog den kürzeren bei diesem Arrangement. Denn, siehst du, es gibt zwei Arten Leute, kleine Leute, die bloß ehrlich sind, wenn sie sich plündern lassen – und denn die anderen. Zum Teufel auch, wozu soll man wie 'n geschorenes Schaf 'rumlaufen und nich' wieder plündern! Na, aber 'mal fällt man ja rein – drei Jahre, bitte schön! Das nächste Mal krieg' ich Zuchthaus!«

»Das kommt doch ganz auf dich selbst an«, sagte Pelle langsam.

»Na ja, etwas kann man natürlich dazu tun. Aber siehst du, die Polizei wird immerzu durchtriebener, und der Mann is wohl noch nich' geboren, der nich' früher oder später in die Falle geht.«

»Du solltest versuchen, wieder in eine anständige Beschäftigung hineinzukommen. Du hast ja doch gesehen, daß es geht!«

Ferdinand pfiff. »Auf die lumpige Art und Weise! Besten Dank, sehr freundlich von dir, mir solche flotte Anweisung zu geben. Ich sollt' den Großbürgern ihre fetten Gänse hüten, was? Und denn auf der Treppe sitzen und trocken Brot zu dem Geruch von dem Braten essen? Nee, ich danke! Und selbst wenn man wollte, meinst du, daß es geht? Du kannst dich darauf verlassen, daß sie gut aufpassen, versucht man ein ehrliches Geschäft, denn währt es nicht zwei Tage, bis die Vergangenheit wieder da is. ›Was is das mit Ferdinand? Ich hör', er hat etwas auf dem Kerbholz. Es tut mir sehr leid – denn er is sehr brauchbar gewesen, aber es is wohl das beste, wenn er sich nach was anderem umsieht.‹ Siehst du, das sind die Anständigen, die anderen warten einfach, bis man seinen Arbeitslohn haben will, und denn knöpfen sie einem ganz einfach was davon ab – weil man einmal gesessen hat. Sie können ja nie wissen, ob man bei ihnen nich' auch lange Finger gemacht hat – wie? Und darum is es wohl am besten, wenn sie sich bei Zeiten sichern! Macht man Schwierigkeiten, denn kriegt man den ›Dieb‹ direkt ins Gesicht geschleudert – du kannst mir glauben, Ferdinand hat sich das ausprobiert. Aber nu kannst du es ja selbst 'mal versuchen.

Natürlich kommt man wieder dahin, wenn man erst einmal da gewesen is – und das nächste Mal krieg' ich also Zuchthaus! Die Schweinerei is bloß, daß die Strafe mit jedem Mal schärfer wird; ein Kerl wie ich kann fünf Jahr für einen Einbruch von fünf Kronen kriegen – das is doch 'ne Gemeinheit. Denn kann man doch lieber gleich sehen, daß man was tut, was hinlangt. Ich pfeif' auf das Ganze, wenn man die ganze Blase 'mal ordentlich gefaßt kriegen könnt! Siehst du, was schert mich das nu, seit Mutter krepiert is? Da weint ein Gör, aber den Deubel um mich! Glaubst du, daß sich eine Menschenseele die Augen aus dem Kopf weinen wird, wenn Ferdinand seinen Kopf auf den Block legen müßt'? Sie würden angerannt kommen und glotzen, das würden sie tun – und denn käm' man doch wenigstens 'mal ordentlich in die Zeitung.

Schlecht, jawohl schlecht bin ich! Manchmal kommt man sich vor wie ein fressendes großes Geschwür – und kriegt Lust, ihnen die ganze Bescherung gerade ins Gesicht zu spritzen. Warme Hände gibt es nicht – das sind ausgestunkene Lügen! Folglich schuldet man Gottlob niemand was. Ich hab' es mehrmals, während ich da in dem Kasten saß, darauf angelegt, den Aufseher totzuschlagen – bloß um auf etwas loszudreschen; denn er hatte mir ja nichts getan. Aber dann dachte ich, daß es doch dumm sei. Soll Ferdinand den Kopf auf den Block legen, meinetwegen gern – es ist doch immer amüsanter zur Veränderung, als sein ganzes Leben zu sitzen. Aber denn will ich erst 'mal so ausholen, daß die ganze Bescherung ins Wackeln gerät! So, nu weißt du Bescheid mit mir!«

Sie trabten schnell dahin, das Gesicht auf den Rauchnebel der Stadt weit vor ihnen gerichtet. Ferdinand kaute im Gehen auf seinem Priem und spie alle Augenblicke einen großen Strahl auf den Weg; sein verhärtetes Bullenbeißergesicht mit den blutunterlaufenen Augen drückte gar nichts aus, jetzt, wo er schwieg.

Ein Bauernbursche kam, aus vollem Halse singend, auf sie zu. Er mochte wohl zwölf bis vierzehn Jahre alt sein.

»Warum bist du so vergnügt, Bengel?« fragte Ferdinand und hielt ihn an.

»Ich hab' eine Kuh in die Stadt getrieben und dafür hab' ich zwei Kronen gekriegt«, antwortete der Junge und lachte über das ganze Gesicht.

»Denn bist du auch früh auf den Beinen gewesen, mein Freund«, sagte Pelle.

»Ja, ich bin über Nacht um drei von Hause fortgegangen. Aber nu hab' ich auch meinen Tagelohn verdient und hab' den ganzen übrigen Tag frei«, antwortete der Junge, warf das Zweikronenstück in die Luft und fing es wieder.

»Gib du acht, daß es dir nich' wegkommt«, murmelte Ferdinand und folgte der Münze mit gierigen Augen.

»Ach was!« Der Junge lachte ausgelassen.

»Laß 'mal sehen, ob es auch echt is. Auf dem Viehmarkt gibt es ganz mörderliche Spitzbuben.«

Der Junge reichte ihm das Geldstück. »Ei, sieh doch, das is ja so eins, das man zerbrechen kann, so daß zwei daraus werden«, sagte Ferdinand und machte allerlei Taschenspielerkunststücke. »Das eine schenkst du mir doch wohl?« Sein Ausdruck war ganz lebhaft geworden, er blinzelte Pelle boshaft zu und stand da und spielte mit der Münze, so daß es aussah, als seien es zwei. »Hier, da hast du dein Zweikronenstück!« sagte er und drückte das Geldstück fest in die Hand des Jungen, »paß nur gut auf, sonst kriegst du Schelte von Muttern!«

Der Junge öffnete verwundert die leere Hand. »Gib mir meine zwei Kronen!« sagte er und lächelte unsicher.

»Zum Teufel auch – die hast du ja schon gekriegt!« Ferdinand stieß ihn brutal von sich und fing an zu gehen.

Der Junge folgte ihm und verlangte hartnäckig sein Geld. Dann fing er an zu weinen.

»Nu fängt die Geschichte an langweilig zu werden – gib ihm jetzt sein Geld!« sagte Pelle finster.

»Langweilig?« Ferdinand blieb jäh stehen und sah ihn an, wie aus den Wolken gefallen vor Verwunderung, »meinst du, daß ich um Kleingeld spiele? Was geht der Bengel mich an, er kann sehen, daß er sich trollt – ich bin doch sein Vater nich'!«

Pelle sah ihn einen Augenblick an, ehe er begriff; dann zog er ein Papier mit etwas Silbergeld aus der Westentasche und gab dem Jungen zwei Kronen. Der Bursche stand anfänglich wie aus den Wolken gefallen da, riß dann hastig das Geld an sich und lief davon, so schnell er konnte.

Ferdinand brummte wütend vor sich hin und zwinkerte mit den Augen. »Das will ich dir doch für die Zukunft sagen,« rief er plötzlich und blieb stehen – »wenn du es nicht wärst und weil man sich nu 'mal nich' gern diesen Tag ruinieren will, denn hätt' ich dir den Schädel eingeschlagen. Denn so was hat mir weiß Gott noch keiner geboten. Hast du mich verstanden?« Er blieb von neuem stehen und schüttelte seine dicke Stirn dicht vor Pelles Gesicht.

Schnell wie der Blitz packte ihn Pelle an den Kragen und in die Hosen und schlug ihn schwer in einen Chausseesteinhaufen nieder. »Das ist heute das zweitemal, daß du mir damit drohst, mir den Schädel einzuschlagen«, sagte er verbittert und drückte Ferdinands Kopf in die Steine nieder. Eine Weile hielt er ihn fest nieder, half ihm dann aber wieder auf die Beine. Ferdinand war blaurot, er stand da und taumelte, bereit, sich auf Pelle zu stürzen, während der Blick, nach einer Waffe suchend, umherschweifte. Dann zog er widerstrebend das Zweikronenstück aus der Tasche und lieferte es ab als Zeichen der Unterwerfung.

»Behalt' es nur«, sagte Pelle herablassend.

Ferdinand steckte es schnell wieder in die Tasche und machte sich daran, sich den Schmutz abzubürsten. »Die Graupensuppe da drinnen hat scheinbar nich' weiter an deinen Kräften gezehrt«, sagte er und schüttelte sich gemütlich, indem sie weitergingen. »Dir sitzt noch 'ne niederträchtige Faust am Leibe. Ich begreif' bloß nich', warum du dich für einen so flaumbärtigen Windhund ins Zeug legst – der kommt, weiß Gott, ohne uns durch die Welt.«

»Du legtest dich ja auch 'mal für einen kleinen Burschen ins Zeug, als man ihm sein Geld wegnehmen wollte. Nicht wahr?«

»Ach so, den kleinen Burschen aus der ›Arche‹ meinst du, der Medizin für die Mutter holen sollt'? – Das is schon so lange her!«

»Du gerietest seinetwegen in Karambolage mit der Polizei! Das war das erstemal, daß du mit der Obrigkeit in Berührung kamst, soviel ich weiß.«

»Ja, denn der Junge hatte ja nichts getan – ich hatt' es selbst gesehen. Da gab ich dem Polypen, der mit ihm abschleppen wollt', 'ne Kopfnuß. Na ja, seine Mutter war krank – und meine eigene Alte lebte noch. Und ich war damals noch ein großes Rindvieh! Du wirst auch noch sehen, daß du nich' weit kommst mit übertriebener Barmherzigkeit. Schulden wir den anderen vielleicht was?«

»Ja, ich schulde ihnen was«, sagte Pelle und erhob plötzlich das Gesicht zum Licht empor. »Aber du hast wohl keinem was Rechtes zu verdanken!«

»Solch verdammter Blödsinn!« rief Ferdinand aus und glotzte ihn an. »Sind sie gut gegen dich gewesen, wie? – auch als sie dich ins Gefängnis warfen? Du spielst wohl das feine Fräulein, was? Nee, das laß man sein. Damit mußt du weiter aufs Land hinaus. Du hätt'st also deine Zeit Besserungshaus verdient, während unsereins bloß dasaß und bitteres Unrecht litt? Unsinn! Sie wissen wohl, was sie tun, wenn sie Ferdinand die Haare kurz abscheren; aber dich hätten sie ruhig laufen lassen können. Du brachtest fünfzigtausend Mann auf die Beine, und was habt ihr denn groß getan? Nich' so viel Störung habt ihr verursacht, wie 'ne Maus in 'ner Damenhose! Die Großbürger haben viel mehr Angst vor Ferdinand als vor dir und all deinen Pappenheimern zusammen. Unrecht getan – nee, komm mir damit nich'! Du hast ja noch Sabbel auf deinem Latz, Krischan! Man gibt keinen Pardon – und denn nimmt man auch keinen an; das is das Ganze. – Und du könnt'st mir übrigens 'n Gefallen tun und deine zwei Kronen wiedernehmen. Ferdinand mag keinem was schuldig sein.«

»Dann kannst du sie ja leihen«, sagte Pelle. »Ganz ohne Geld kannst du doch nich' in die Stadt kommen.«

»Nimm sie nu, so nimm sie doch!« bettelte Ferdinand. »Du kriegst schwerer Arbeit als unsereins, und die Art und Weise, wie ich sie von dir kriegt', war auch gerade nich' fein. Du hast da gesessen und sie zusammengeschabt, vier Öre per Tag – und hast dir am Ende nich' mal 'nen Priem gegönnt – und denn sollt' Ferdinand sie dir wegnehmen? – Pfui Deubel! – Und Mutter hast du auch noch was zugesteckt – das hätt' ich beinah vergessen. – Ich pfeif' auf die paar Groschen; ich weiß 'ne Stelle, wo 'n guter Coup zu machen is.«

Eine Strecke oberhalb des Dammhaussees schlugen sie einen Richtweg ein, der nach Norden führte, um von der Norderseite in die Stadt zu gelangen. Weit unten zur Rechten lag ein dichter Rauchnebel und schwebte in der Luft; das war der Dunstkreis der Großstadt. Der Ostwind riß Fetzen davon ab und führte sie ganz bis hier hinaus. Da steckte Ferdinand seine Bullenbeißernase in die Höhe und schnob die Luft ein. »Wer nu in der › Bluttasse‹ bei einem Pferdesteak mit Zwiebeln säß'!« sagte er.

Es war ziemlich spät am Nachmittag. Sie brachen sich Stöcke von einer Hecke und schritten kräftig zu, an Deichen und Grabenrändern entlang, so gut es ging. Draußen über die Äcker schnitt der Pflug seinen Weg, hin und wieder zurück, und kehrte die schwarze, fruchtbare Erde an das Tageslicht, während Saatkrähen und Seevögel in den frischen Furchen kämpften. Die Pflugführer hatten die Zügel um die Taille; jedesmal, wenn sie an das Ende des Weges kamen und den Pflug herumgeworfen und eine neue Furche angeschnitten hatten, ließen sie die Gäule ein wenig verschnaufen und starrten lange den beiden sonderbaren Frühlingswanderern nach. Wieviel fremde Luft denen in den Kleidern hing, es waren offenbar zwei von derart Leuten, die auf ihren eigenen Füßen von Land zu Land gehen – dachten sie und riefen ihnen fremde Sprachbrocken nach, um auch auf der Höhe zu sein. Ach ja, einigen war es ja beschieden, sich in der Welt umzusehen! Morgen waren die beiden vielleicht schon wieder im fremden Lande, während sie hier gingen und nie vom Fleck kamen.

Sie kamen an einem weißen Landhaus vorüber, das vornehm zurückgezogen zwischen alten Bäumen lag, eine hohe, dichte Dornenhecke deckte den Garten nach dem Wege zu. Ferdinand warf einen hastigen Blick über die Pforte hinein – vor allen Fenstern waren die Vorhänge herabgelassen! Er fing an, unruhig zu werden; als sie ein wenig weiter gekommen waren, schmiß er sich plötzlich hinter einen Zaun und wollte nicht weitergehen. »Ich hab keine Lust, mich mit leeren Händen da drinnen sehen zu lassen!« sagte er. »Der Abend ist auch die beste Zeit, um angestiegen zu kommen. Laß uns hier warten, bis es dunkel geworden is, ich kann riechen, daß da in der Villa Silberzeug liegt.«

»Komm jetzt und laß den Unsinn fahren«, sagte Pelle eindringlich. »Von heute an beginnt ein neues Leben! Ich will versuchen, dir zu einer redlichen Arbeit zu verhelfen.«

Ferdinand brach in schallendes Gelächter aus: »Herr du meines Lebens! – Du und anderen zu Gange helfen! Du hast es wohl nich' ausprobiert, was es heißt, von der Anstalt zurückzukehren; es wird dir wohl schwer werden, selbst irgendwo anzukommen, Freundchen. Ein neues Leben, ha! Nee, bleib du man hier, denn machen wir ein feines Stück Arbeit zusammen, sobald es dunkel is. – Die Villa sieht gar nich' so übel aus. Und denn können wir heut' Abend in die › Bluttasse‹ gehen und einen mächtigen Heimkehrschmaus halten und die heimgekehrten Amerikaner spielen, es is auch nich' gerade fein, nach Hause zu kommen, ohne was für die Familie mitzubringen. Bleib du man hier! Du sollst bloß Laura mit dem Arm tanzen sehen! Das is mein Freßschatz, weißt du. Die kann auf 'm Tisch tanzen, der voll Bierflaschen steht, mit verbundenen Augen, ohne einen Tropfen zu verschütten. Da soll auch ein kleines Mä'chen für dich abfallen. – Den Deubel auch, du bild'st dir doch am Ende nich' ein, daß du anderswo willkommen bist? Nee du, da steht keiner und winkt dem Heimkehrenden. – – Na, denn scher dich zur Hölle, du Rindvieh, und grüß deine Großmutter! Wenn du es satt hast, an den Brüsten des Familienlebens zu saugen, so is meine Adresse die › Bluttasse‹ da kannst du nach mir fragen!« Die letzten Worte rief er mit der Hand vor dem Munde, seine heisere, hohle Stimme bildete einen Mißton in der reinen Frühlingsluft.

Pelle schritt schnell dahin, als gelte es, etwas hinter sich zu legen. Er hatte in seinem stillen Sinn die wahnsinnige Hoffnung genährt, daß ihm irgendein freundlicher Empfang zuteil werde, wenn er herauskam – singende Kameraden vielleicht, oder eine Frau und zwei Kinder, die auf der weißen Landstraße standen und warteten! Und dann war da nur Ferdinand, der ihn in Empfang nahm! Na, das war 'ne kalte Dusche, und nun schüttelte er die Enttäuschung ab und holte aus, um vorwärts zu kommen; der frische Gang brachte das Blut in belebende Bewegung. So wie heute hatte der Himmel noch nie geleuchtet, die Sonne schien ihm gerade ins Herz hinein. Es lag ein lächelnder Gruß in allem, in dem Wind, der sich ihm gerade in die Arme warf, und in der frischen, schwarzen Erde und dem rinnenden Wasser der Gräben: Willkommen im Freien, Pelle!

Wie weit und wie lieblich doch die Welt ist, wenn man Jahre zwischen vier kahlen Wänden verbracht hat! Da unten im Süden glich der Wolkenhimmel der Brust eines großen, hellen Vogels, so wie sie jedes Jahr von weither kommen, den Sommer in ihrem starken Flügelschlag, und zu allen Seiten lagen offene, weiße Wege und zeigten hinaus mit lichten Verheißungen.

Zum viertenmal zog er aus, um die Welt zu erobern, und diesmal war es bitterer Ernst. Bisher hatte sich immer wieder etwas dahinter gezeigt, aber nun fühlte er verhängnisvoll, daß die Wanderung entscheidend war; gewann er jetzt, so eroberte er die Ewigkeit. Diesmal mußte es biegen oder brechen. Alles, was er besaß und hatte, führte er jetzt ins Feld – so schwer war er noch nie zuvor gerüstet gewesen. Weit hinter sich gewahrte er noch die Kuppel des Gefängnisses; gleich einer mächtigen Mühle lag es dort über dem Abstieg zur Unterwelt und mahlte das Elend zu Verbrechen – im Namen der Menschlichkeit. Jeden, der von des Lebens Unsicherheit erfaßt war, sog es an sich; er hatte selber in dem Trichter über dem Auge der Mühle gehangen und gefühlt, wie der Wirbel sog.

Aber Pelle war ja reich ausgestattet; bisher hatte er glücklich alles in Auftrieb umgesetzt, und er nahm dies mit. Sein Haar war nicht mehr blond, dafür aber war sein Sinn magisch erfüllt von einem geheimen Wissen über das Wesen der Dinge. Er hatte ja an der Wurzel von allem gesessen und es sich aus der Einsamkeit herausgelauscht; in dem dunklen Berg hatte er gesessen und geträumt wie der Glücksprinz, während ihm die Ewigkeit von dem großen Rätsel vorsang. Die bösen Mächte hatten ihn in ihren Bann gezogen, das war das Ganze, und nun ließen sie ihn wieder in das Tageslicht hinaus, in dem Glauben, daß er ein Kobold geworden war, wie alle seine Vorgänger. Aber Pelle war nicht verhext! Er hatte schon viel zu seinem Wachstum verbraucht und nahm dies mit. Was bedeutete wohl ein wenig Eingesperrtsein im Verhältnis zu dem dumpfen Tropfenfall von Jahrhunderten – er war ja mit dem Siegerhemd geboren, das Stahl und Gift widerstand.

Er setzte sich auf einen hohen Punkt, warf die Mütze von sich und ließ sich den frischen Wind um die Stirn streichen. Der war voll von reichen Verheißungen; auf seiner Frühlingswanderung über die Erde hatte er alles Erbauliche und Starke aufgesammelt und warf es ihm in den Schoß. Sieh um dich, Pelle!

Zu allen Seiten gingen sie und bestellten den Boden, das Pfluggespann nickte über den weichen Hügelzug hinüber und verschwand nach der anderen Seite. Ein schwacher Brodem entstieg der schwarzen Ackererde – es war die letzte Kälte, die in dem sinkenden Lenztage verdampfte. Eine gute Strecke abwärts lachten ein paar rote kleine Häuser dem Sonnenuntergang zu, und noch weiter draußen lag die Stadt mit ihrem ewigen Rauchnebel über sich.

Wie würde sich seine Zukunft da unten gestalten? Und wie standen die Angelegenheiten – war das Neue fortgeschritten, oder sollte er sich wieder unter einen Aussauger stellen, sich das Notdürftigste aus seiner Arbeit herauspressen und den Rest in die Tasche eines anderen wandern sehen? Es waren viele neue Fabriken da unten entstanden; sie bildeten jetzt einen ganzen Schutzgürtel vor der Stadt und streckten Hunderte von Riesenschornsteinen zum Himmel empor. Aber was konnte da los sein, da sie nicht rauchten? – Ein Lohnkampf?

Nun mußte er also einen Plan für sein Leben machen, es wieder aufbauen auf dem tiefen Grund, der in der Einsamkeit gelegt war. Und hier saß er und wußte nicht das allergeringste über den Zustand da unten! Nun, er hatte ja Freunde zu Zehntausenden, die Stadt lag ganz einfach da und wartete mit offenen Armen auf ihn – ihm noch mehr zugetan um alles dessentwillen, was er gelitten hatte! In all seiner Unwissenheit hatte er doch vermocht, sie eine Strecke Weges zu führen, die Entwicklung hatte ihn zu ihrem blinden Werkzeug erkoren, und das war gut gegangen. Aber nun wollte er sie ganz in das Land hineinführen, denn nun hatte er die Schwere des Lebens in sich.

Ach, saß er nun nicht hier und stieg in die Luft auf, genau so wie in alten Zeiten – und vergaß alles, was ihn die Zelle so bitter gelehrt hatte! Das Wohlergehen der anderen – jawohl, er war umhergelaufen voller Sorgen für die Tausende von Familien – und hatte nicht einmal vermocht, sein eigenes Heim aufzubauen. Humbug! Da unten saßen drei verschmähte Wesen und führten Anklage gegen ihn, und was nützte es, daß er sich unter dem Wohlergehen der Vielen barg. Was half es, daß er mit den Lobreden von Zehntausenden auftrat und die ganze Welt ihn Wohltäter nannte, wenn die drei, deren Wohl und Wehe ihm an vertraut war, ihn anklagten, daß er sie im Stiche gelassen hatte. Er hatte oft genug versucht, sie zu übertäuben, aber da drinnen ging es nicht an, etwas durch Lärmen zum Schweigen zu bringen.

Pelle zweifelte noch immer nicht daran, daß er ausersehen war, etwas für die Vielen auszurichten, aber das erschien so untergeordnet im Verhältnis dazu, daß er sein Teil von dem, was einem jeden obliegt, vernachlässigt hatte. Er hatte Groß und Klein miteinander verwechselt und geglaubt, daß, wenn er etwas ausrichtete, was kein anderer konnte, er sich dafür ein wenig leicht über die gewöhnlichen Alltagspflichten hinwegsetzen dürfe. Aber das Leben legte verhängnisvoll seine Schwere gerade dahin, wo alle beteiligt waren. Und nun kam er wie ein elender Bettler – der alles erobert hatte, ausgenommen das Eigentliche, und der deswegen nichts besaß – und mußte um Gnade und Barmherzigkeit flehen. Als Verbrecher gestempelt, mußte er nun wieder von vorne anfangen und das ausführen, was er in den Tagen seiner Macht nicht fertig gebracht hatte. Es würde sicher schwer werden, sein Heim unter diesen Verhältnissen aufzubauen – und was sollte ihm dabei helfen? Die drei, die für ihn hätten gutsagen können, hatte er im Stiche gelassen – als Strafe für ein Versehen, das bei Licht betrachtet sein eigenes war.

Nein, so arm war er denn doch noch nie ausgezogen. Er kam nicht einmal als einer, der etwas zu verzeihen hatte – nichts hatte ihm die Zelle gelassen. Er hatte da drinnen Zeit genug gehabt, das Ganze zu durchdenken, und alles das bei Ellen, was zu beachten er früher zu sehr in Anspruch genommen gewesen war, oder was er als stummen Kampf gegen seine Unternehmungen empfunden hatte, trat jetzt hervor und formte sich wider seinen Willen zu dem Bilde einer Frau, die niemals an sich selbst dachte, sondern lauter Fürsorge für ihre kleine Welt war, und nur verstand, sich aufzuopfern. Er war nicht in der Lage, auf etwas von seinem Recht in dieser Beziehung zu verzichten, und führte alle seine Anklagen gegen sie ins Feld, kam mit hergebrachten Sitten und mit Moral. Aber das alles rüttelte nicht an dem Bilde, diente nur noch mehr dazu, die Stärke in ihrem Wesen zu unterstreichen. Sie hatte alles für ihn und die Kinder geopfert, war nur davon erfüllt gewesen, sie gedeihen zu sehen. Ein jeder seiner Angriffe spülte nur eine neue Schicht nicht dahingehörenden Schmutzes weg und ließ das Opfer in ihrer Handlung schärfer hervortreten. Gerade weil sie so unsinnlich und keusch war, konnte sie handeln, wie sie getan hatte. Ach, sie hatte blutig für sein Versäumnis büßen müssen, es war die Mutter, die in der äußersten Not ihre Brut mit dem eigenen Körper ernährte.

Pelle wollte sich nicht ergeben, sondern kämpfte rasend dagegen an. Man hatte ihn der Freiheit und des Rechts beraubt, Mensch zu sein wie andere, jetzt wollte ihm die Einsamkeit das Letzte entreißen, was ihn noch aufrechthielt. Selbst wenn sich alles um ihn herum zusammenrottete – er hatte nicht unrecht – er wollte nicht unrecht haben. Er hatte den großen Kampf auf Kosten seines Eigentums zu Ende geführt – und er hatte Ellen beim Ehebruch ertappt! Seine Gedanken klammerten sich an dies Wort an und schrien es heiser heraus, Ehebruch! Ehebruch! Ehebruch! bis ins Unendliche. Er verband nichts damit, wollte aber nur alles das übertäuben, was von allen Seilen an ihm herumhackte, um ihn noch nackter, noch elender zu machen.

Im Anfang kamen hin und wieder Briefe an ihn – wahrscheinlich von alten Kampfgenossen, vielleicht auch von Ellen; er wußte es nicht, denn er weigerte sich, sie anzunehmen. Er haßte Ellen, weil sie die Stärkere war, haßte aus ohnmächtigem Trotz alles und alle. Weder sie noch irgend jemand sonst sollten die Genugtuung haben, ihm zum Trost zu gereichen; hatte man ihn eingesperrt wie einen Unreinen, so war es auch am besten, wenn er sich ganz für sich hielt. Er wollte seine Strafe noch brutaler machen, und mit unerbittlichem Willen vertiefte er seine Verlassenheit noch mehr, entfernte in Gedanken alles das, was ihm nahe stand, und zog das Böse stark in den Vordergrund. Ellen hatte ihn natürlich über einem anderen vergessen – und vielleicht auch den Sinn der Kinder von ihm abgewandt; es war ihnen sicher verboten, das Wort ›Vater‹ zu nennen. Er konnte ganz deutlich die drei traulich um die Lampe sitzen sehen; und wenn dann irgendeine Wendung drohte, das Gespräch auf ihn hinzuführen, wurde es plötzlich kalt und totenstill in der Stube. Er füllte sein ganzes Ich unbarmherzig mit durcheisender Erkenntnis und glaubte, daß er sich räche, indem er die todbringende Kälte einatmete.

Im Anschluß hieran bekam er Wutanfälle, ging blindlings auf die Wände los und schrie, daß er hinaus wolle. Zur Beruhigung wurde ihm die Zwangsjacke angelegt, und man steckte ihn in ein stockfinsteres Loch. Er gehörte überhaupt zu den sogenannten trotzigen Gefangenen, die eine Ehre darein setzten, wider den Stachel zu löken – und er wurde dementsprechend behandelt.

Aber eines Nachts, als er dalag und nach einer Bestrafung wimmerte, erblickte er Gottes zorniges Antlitz im Dunkeln und wurde plötzlich still. »Bist du ein Mensch?« sagte es – »und kannst nicht einmal ertragen, ein wenig zu leiden!« Pelle stutzte, er wußte nicht, daß es etwas so besonders Menschliches sei zu leiden. Aber seit jener Nacht bewegte er sich still, mit einem lauschenden Ausdruck, als höre er etwas quer durch die Mauern hindurch. »Jetzt hat er sich beruhigt«, sagte der Schließer, der ihn durch das Guckloch beobachtete. »Er is im Begriff, blödsinnig zu werden.«

Aber Pelle war nur nach der anderen Seite aufgetaucht; er ging umher und starrte tapfer in das Dunkel hinein, um Gottes Antlitz abermals, aber besänftigt, zu sehen. Das erste, was er erblickte, war Ellen wieder; sie saß da, schön und gerechtfertigt, begehrenswert aufsteigend aus allen seinen Anklagen. So groß und verhängnisvoll all das Kleine ihm hier wiedererschien! Was half es, sich zu wehren, sie war sein Schicksal, und er mußte sich auf Gnade und Ungnade ergeben. Er begriff sie noch immer nicht, aber er ahnte größere Gesetze für das Leben, Gesetze, die sie hoben und ihn klein machten. Sie ging offenbar rein hindurch mit ihrer Sache, da, wo er in dem Schmutz der Oberfläche steckengeblieben war!

Sie wuchs für ihn hier drinnen und führte seine Gedanken um die Oberfläche herum, dahin, wo sie nie zuvor gestreift hatten. Ihr sie nie im Stiche lastendes Muttergefühl war wie ein lebender Puls, der aus dem Unsichtbaren aufragte und auf verborgene, mystische Kräfte zurückwies, auf den fühlbaren Rhythmus eines mächtigen Herzens, das verborgen hinter allem pochte. Es lag in ihrer Fürsorge etwas, das an Gott Vater selbst erinnerte; sie war den Quellen des Lebens näher als er.

Die Quellen des Lebens – durch sie wurde dieser Ausdruck zum erstenmal lebendig für ihn. Es war überhaupt, als schaffe sie ihn von neuem; indem er sich mit ihrem beständig gleich rätselhaften Wesen beschäftigte, wurden seine Gedanken tiefer und tiefer nach innen geführt. Er ahnte starke Ströme, die das Ganze trugen, und zuweilen war es ihm, als könne er durch die Stille der Zelle hindurch das Dasein rinnen und rinnen hören wie einen breiten Strom, und es sich da draußen ergießen hören, wohin sich seine Gedanken niemals gewagt hatten. Wo blieben wohl die Tage und die Jahre mit ihrem ganzen gelebten Inhalt? Ellen, die dem Unsichtbaren selbst nie einen Gedanken geschenkt hatte, war immer zugegen und stellte Pelle von Angesicht zu Angesicht mit der Unendlichkeit.

Während dies alles in ihm arbeitete, sangen sie eines Sonntags bei dem Gefängnisgottesdienst Grundtvigs Kirchenlied: Verronnen sind die alten Tage. Der Gesang enthielt alles, was er selbst umnebelt gedacht hatte, und ergriff ihn stark; die Verse kamen über ihn in seinem engen Stuhl wie Wogen eines mächtigen Ozeans, der in einförmiger Gewalt Zeitalter an den Strand rollte. Er fühlte plötzlich und stark den Gang der Geschlechter über die Erde und erkühnte sich festzustellen, was er bisher nur verborgen geahnt hatte: seinen eigenen Zusammenhang mit all dem übrigen, mit denen, die heute lebten, und allen den vielen, die voraufgegangen waren. Wie klein war sein eigener Gedanke des Zusammenschlusses gewesen, wenn er ihn mit dieser ungeheuren Gemeinschaft der Seelen maß! – und welche Verantwortung zum Vorwärtsstreben jeder einzelne mit sich herumschleppte! Jetzt begriff er, wie verhängnisvoll es war, rücksichtslos zu handeln, zu brechen und seiner Wege zu gehen. Man ging überhaupt von nichts weg; selbst das Geringste, um das man sich drückte, saß da und erwartete einen am nächsten Meilenstein als großes Schicksal. Und wer war wohl imstande, eine Handlung zu übersehen? Man mußte beständig nachsichtig sein, und dann würde es sich schließlich zeigen, daß man Nachsicht mit sich selbst geübt hatte.

Pelle saß da und fing Weisheit ein, und sein eigenes Herz bestätigte sie. Ellen erfüllte sein Gemüt immer mehr, er hatte sie verscherzt – und konnte sie doch nicht aus seinem Dasein streichen! Liebte sie ihn noch? Das ward eine immer brennendere Frage, die ihn Tag und Nacht verfolgte. Das Leben selbst hing davon ab. Er hatte ein Gefühl, als müsse er als verfehlt in die Brockenkiste geworfen werden, wenn er sie nicht wiedergewann, und starrte fragend in die Einsamkeit hinein. Neue Welten wuchsen dort für ihn empor, den großen Zusammenhang von allem ahnte er, und es war ihm, als könne er sehen, wie die Wurzeln des Lebens tief hinabreichten und Nahrung aus der Dunkelheit selbst sogen, in der er sich bewegte. Aber hierauf erhielt er keine Antwort.

Ihr zu schreiben konnte ihm nicht in den Sinn kommen. Gottes Schickungen mit der Seele gingen ihren eigenen Weg, in den man nicht eingriff. Es mußte auf demselben Wege kommen wie das andere, und er lullte sich in eine törichte Hoffnung, daß Ellen kommen und ihn besuchen würde, jetzt hatte er ja den rechten Sinn, um sie zu empfangen. Des Sonntags lauschte er gespannt dem schweren Dröhnen des Portals. Da war Besuch für die Gefangenen, und wenn sich der Wächter da draußen auf der Galerie mit seinen Schlüsseln rasselnd näherte, hämmerte sein Herz und war nahe daran, ihn zu ersticken. Dies wiederholte sich eine Reihe von Sonntagen; dann sank er zusammen und ergab sich in sein Schicksal.

Aber schließlich erbarmte sich der Zufall seiner und sandte ihm einen Gruß.

Pelle nahm keinen persönlichen Anteil an dem Pochen, das jeden Abend, wenn das Licht ausgelöscht war, durch die ungeheure Anstalt schallte, als ob tausend Totenwürmer an der Arbeit seien. Er hatte genug an seinen eigenen Angelegenheiten und klopfte nur die Telegramme weiter, die über seine Zelle gingen. Aber eines Tages rückte ein neuer Gefangener in die Zelle neben ihm ein und weckte ihn, ein alter Stammgast, der sich gleich daran machte, seine Ankunft nach allen Seiten zu verkünden. Es war der Suff-Walde, der »Witwe« Rasmussens Nichtsnutz von Schatz, der den Winter hindurch daheim in der Haustür im Kapellenweg zu stehen und über die Schnauze seiner blanken Holzschuhe hinweg zu spucken pflegte.

Ja, Walde kannte die Familie sehr gut, sein Schatz hatte ja die Kinder gehütet, als Ellen während des großen Kampfes auf Arbeit gegangen war. Ellen schlug sich tapfer durch, trug noch die Nase hoch; sie nähte ja Schuhblätter und hatte ein paar Lehrlinge zu Hilfe, es ging gewiß gar nicht so übel. Mit jemand verkehren tat sie nicht, nicht einmal mit ihren Angehörigen; immer saß sie bei den Kindern.

Walde mußte jeden Abend an die Wand kommen, selbst die unbedeutendste Einzelheit war von verhängnisvoller Bedeutung. Pelle sah Ellen leibhaftig vor sich, bleich, immer schwarz gekleidet, immer ernsthaft. Sie hatte mit den Eltern gebrochen, alles hatte sie ihm zum Opfer gebracht! Es wurde sogar daheim von ihm gesprochen, damit die Kinder ihn nicht vergessen sollten, bis er zurückkam. »Sie glauben ja, daß du verreist bist, die kleinen Schafsköpfe«, sagte Walde.

So war denn das Ganze glücklich und gut! Es wirkte wie Sonne ins Herz hinein, zu wissen, daß sie dasaß und treulich auf ihn wartete, obwohl er sie verstoßen hatte. Alle Kälte mußte schmelzen und heraus, er war ein reicher Mann trotz allem.

Trug sie denn auch seinen Namen? fragte er gespannt. Das könnte ihr ähnlich sehen, so recht trotzig Pelle mit großen Buchstaben auf die Türplatte zu setzen, unerschrocken wie sie war.

Ja, natürlich – da war nichts, was sich verstecken hieß, bei ihr. Und wie die Gören wuchsen! Lasse Fredrik und Schwester waren ja jetzt groß, und der kleine Svend Trost war ein ganz mörderliches Stück von einem Mann für sein Alter, ein richtiger Dicksack. Den mußte man in seinem Kinderwagen sitzen und seine Rolle spielen sehen, wenn sie am Sonntag hinausschoben, das war ein Anblick für Götter!

Pelle stand wie von einem Keulenschlag getroffen im Dunkeln da. Svend Trost – ein kleiner Junge, der im Kinderwagen saß? Und es war kein Pflegekind, Walde ging so selbstverständlich davon aus, daß es seines war. Ellen! Ellen!

Er ging nicht wieder an die Wand. Walde klopfte ohne Erfolg, sein halbes Jahr ging zu Ende, ohne daß Pelle es merkte. Diesmal lehnte er sich nicht auf, sondern duckte sich unter ein Gefühl, verflucht zu sein; die Vorsehung mußte ihm ja feindlich sein, da derselbe Schlag zweimal gegen ihn gerichtet wurde. Am Tage suchte er Schutz in harter Arbeit und Lektüre, des Nachts lag er da und weinte auf seiner schmutzigen Matratze, die nach Schimmel und dem scharfen, laugenartigen Gestank geiler Entleerungen früherer Gefangenen roch. Er versuchte nicht mehr, Ellens Bild herabzustürzen, das war ja hoffnungslos; tragisch überschattete sie noch immer das Ganze. Sie war sein Schicksal und beherrschte auch fernerhin seine Vorstellungen, aber nicht glanzvoll; etwas leuchtend Großes gab es überhaupt nicht mehr, nur die zwingende Notwendigkeit!

Und dann die Arbeit! Für einen Mann gab es immer Arbeit, zu der er seine Zuflucht nehmen konnte, wenn das Glück nicht standhielt. Pelle klemmte sich allen Ernstes dahinter; der Beamte, der die Schuhmacherei der Anstalt unter sich hatte, hatte Freude an ihm, er richtete viel mehr aus, als verlangt wurde. In seiner freien Zeit las er fleißig, er stürzte sich mit Eifer in den Gefangenen-Unterricht und lernte namentlich Geschichte und Sprachen; der Gefängnisprediger und die Lehrer nahmen sich seiner an und verschafften ihm Werke, die sonst den Gefangenen nicht zugänglich waren.

Wenn er dann so richtig mürbe geklopft von Müdigkeit war, ließ er die Gedanken Ruhe suchen, indem er sich mit seinem Heim beschäftigte. Die Müdigkeit breitete einen versöhnenden Schimmer über alles, und er konnte auf seiner Pritsche liegen und sich ganz gemütlich mit den Kindern zusammenleben – auch mit diesem Kuckucksjungen, der ihn immer mit einem wunderlich spottenden Ausdruck ansah. Nur Ellen kam er nicht nahe. So schön wie jetzt in ihrer Unnahbarkeit war sie niemals gewesen, aber sie ging da und schwieg rätselhaft zu allen seinen Versicherungen, starrte ihn nur an mit ihrem unergründlichen Blick. Er hatte sie und das Heim im Stiche gelassen – er wußte das ja selber recht gut; aber tat er denn nicht auch Abbitte? Es war doch ihr Kind, das er auf dem Schoß hielt, und er wollte das Ganze schon wieder aufbauen. Er hatte genug davon bekommen, heimatlos zu sein, und sehnte sich nach einem Herzen, an dem er den müden Kopf ausruhen konnte. – – –

Das alles waren Träume, aber nun war er also auf dem Wege hinab, um von neuem wieder anzufangen. Er hatte keinen großen Mut, die Ungewißheit umschloß so viele Möglichkeiten. Gediehen Ellen und die Kinder, und warteten sie noch immer auf ihn? Und die Kameraden – wie würde sich sein Schicksal gestalten?


Der ungewohnte Aufenthalt in der frischen Luft nahm Pelle sehr mit, sehr gegen seinen Willen saß er da und schlief ein, den Rücken gegen den Erdwall gelehnt. Die Sehnsucht, an das Ende des Weges zu gelangen, ließ ihn träumen, daß er weiterwanderte und seinen Einzug in die Stadt hielt; er konnte sie nicht wiedererkennen, so verändert war alles. Die Leute gingen in ihren guten Kleidern spazieren, sie wollten in den Wald oder sie wollten einen Vortrag hören.

»Wer arbeitet denn?« fragte er einen Mann, dem er begegnete.

»Arbeiten«, sagte der Mann verwundert aus. »Das tun doch natürlich die Maschinen! Wir haben jeder drei Stunden Tageswache dabei, aber das wird bald auf zwei herabgesetzt, denn die Maschinen werden klüger und klüger. Es ist herrlich zu leben und zu wissen, daß es keinen anderen Sklaven gibt als die toten Maschinen, und das haben wir einem Mann zu verdanken, der Pelle heißt.«

»Das bin ich ja«, rief Pelle aus und lachte vergnügt.

»Du? bist du verrückt? Du bist ja ein junger Mann, und dies da ist schon viele Jahre her.«

»Ich bin es aber doch! Kannst du nicht sehen, daß ich graue Haare habe, und daß meine Stirn gefurcht ist? Das hab' ich im Kampf für euch bekommen. Kennt ihr mich denn nicht mehr?« Aber die Leute lachten nur über ihn, und er mußte gehen.

»Ich will zu Ellen gehen«, dachte er niedergeschlagen. »Sie muß für mich eintreten!« Und im selben Augenblick stand er in ihrer Stube.

»Setzen Sie sich bitte«, sagte sie höflich. »Mein Mann wird gleich kommen.«

»Aber das bin ich doch!« rief er, dem Weinen nahe. Sie aber starrte ihn kalt und fremd an und ging nach der Tür.

»Ich bin ja Pelle«, sagte er und streckte flehend die Hand nach ihr aus. »Kennst du mich denn nicht mehr?«

Aber Ellen öffnete den Mund, um zu schreien, und im selben Augenblick stand der Mann drohend in der Tür. Hinter ihm guckten Lasse Frederik und Schwester ängstlich hervor, und Pelle stellte mit einer gewissen Befriedigung fest, daß da nur die beiden waren. Aber das Entsetzliche war, daß der Mann er selbst war, der richtige Pelle mit einem flotten blonden Schnurrbart, der Glückslocke in der Stirn und dem Ausdruck des Drauflosgehers! Als er das entdeckte, brach das Ganze für ihn zusammen, und er versank rettungslos.

Pelle erwachte mit einem Ruck, in Schweiß gebadet, und erblickte dankbar die Felder und die helle Luft – er lebte also doch auf alle Fälle noch! Er erhob sich und wanderte mit schweren Schritten abwärts, während der Lenzwind kühlend seine Stirn trocknete.

Weit draußen nach Norden hinaus gelangte er, hinter ihm versank die Sonne, es mußte jetzt um Feierabend sein. Aber die zahlreichen Fabriken pfiffen nicht, kein geschwärzter Menschenstrom wälzte sich aus den Seitengassen heran. In den kleinen Wirtschaftsgärten saßen Arbeiterfamilien mit Kinderwagen und Eßkobern; sie waren im Sonntagsstaat und genossen den Frühlingsabend. War da doch etwas an seinem Traum gewesen? Dann war es festlich heimzukehren! Er fragte einige Leute, was hier vor sich gehe, und erfuhr, daß heute Wahltag sei. »Heut erobern wir die Hauptstadt!« sagten sie und lachten siegesgewiß.

Von dem Rondell bog er auf den Assistenzfriedhof ein und ging die düstere Pappelallee bis nach dem Kapellenweg entlang. Gerade am Ende der Allee sah man die beiden kleinen Fenster im dritten Stockwerk; in seiner heftigen Sehnsucht meinte er, Ellen stehe da oben und winke. Nun lief er, nahm die Treppe in Sprüngen.

Als er den Glockenzug ziehen wollte, hörte er fremde Stimmen da drinnen und blieb stehen, wie gelähmt. Die Tür sah kalt und gleichgültig aus, ein Namenschild war da nicht. Er ging langsam hinab und erkundigte sich im Grünwarenkeller, ob nicht im dritten Stockwerk zur Linken eine Frau wohne, die nähe? Sie sei von ihrem Mann verlassen und habe zwei Kinder, drei, verbesserte er sich demütig. – Wo sie denn geblieben war?

Der Vizewirt war neu im Hause und konnte keinen Bescheid geben. Dann ging er wieder ins Haus hinauf und erkundigte sich von Stockwerk zu Stockwerk, aber ohne Ergebnis! Arme Leute pflegen nie lange in einem Hause zu wohnen.

Pelle schlenderte aufs Geratewohl die Straße entlang. Er dachte nicht daran, sich um Ellens Adresse zu bemühen, sondern sank nur mutlos in sich zusammen; in seinem verkommenen Zustand hatte er den Eindruck, daß man ihn mied, und das drückte ihn nieder. Seine Seele war krank nach einem freundlichen Wort oder einer Liebkosung – und niemand nahm ihn in Empfang! Kein Auge leuchtete freundlich, weil er wieder frei war, und hier ging er und stöberte vergeblich die Treppen auf und nieder nach einem mitfühlenden Wesen. Da stieg ein plötzlicher Haß in ihm auf, eine böse Lust, auf das Ganze loszuschlagen und rücksichtslos seinen Weg zu gehen.

Es dämmerte. Unter der Kirchhofsmauer bei der Kreuzkirche spielten einige Kiosk-Jungen Haschen auf Fahrrädern. Sie tummelten ihre Maschinen wie Zirkuspferde und glichen kleinen Gauchos, warfen sich hintenüber und fuhren mit dem Hinterrad allein und setzten springend über Hindernisse. Die Taschen hatten sie auf den Rücken geschnallt, die blauen Mützenbänder klatschten ihnen um die Ohren wie Wimpel.

Pelle setzte sich auf eine Bank und verfolgte zerstreut ihr rücksichtsloses Spiel, während die Gedanken zu seiner eigenen Knabenzeit zurückschweiften. Ein Bursche von zehn, elf Jahren führte mit halsbrecherischen Kunststücken an, während er rief und kommandierte; er war der Führer der Bande und hielt seine Stellung mit harter Hand aufrecht. Das Gesicht mit der Stutznase strahlte von frischer Unverschämtheit, die Mütze ritt auf zwei gehörigen Klappohren.

Die Jungen fingen an, den Fremden zur Zielscheibe ihres Übermutes zu machen. Während sie vorübersausten, taten sie so, als verlören sie die Herrschaft über ihre Maschine, so daß sie seinen Beinen einen Stoß versetzte, und plötzlich riß ihm der Anführer die Mütze ab. Pelle nahm sie ruhig wieder auf, aber als der Junge in vorsichtigen Windungen zurückgekreist kam, als sinne er auf einen neuen Gaunerstreich, sprang er auf und packte ihn im Nacken.

»Jetzt sollst du ein paar Hiebe haben, du Schlingel!« sagte er und hob ihn vom Rad. »Aber es ist ja wohl ebenso gut, wenn deine Eltern das besorgen. – Wie heißt dein Vater?«

»Er hat gar keinen Vater«, schrien die anderen Jungen und schlossen drohend einen Kreis um sie: »Laß ihn gehen!«

Der Junge öffnete den Mund, um eine Flut von Schimpfworten zu entsenden, hielt aber mitten darin inne und starrte Pelle entsetzt an. Die Angst leuchtete ihm aus den Augen; er wand sich wie ein Rasender, um frei zu kommen. Pelle ließ ihn verwundert los und sah ihn taumelnd das Rad besteigen und brüllend davonsausen. Die Kameraden jagten hinter ihm drein, sie glichen Schwalben, die sich auf der Flucht befinden. »Wart doch 'mal, Lasse Frederik!« riefen sie. Er stand da und starrte ihnen nach, duckte dann den Kopf und schlenderte langsam in die Norderbrückenstraße hinein.

Es war sonderbar, wieder in dieser Straße zu gehen, die so kräftig in sein Dasein eingegriffen hatte. Der Verkehr war hier schwerfälliger als anderswo, und das Pflaster setzte hart gegen hart; dieser Straße, wo jeder Schritt mit dem Gewicht der Arbeit kam, war eine eigene, eisenharte Zuverlässigkeit eingeprägt.

Die Läden waren dieselben, er erkannte auch mehrere von den Kaufleuten wieder. Er suchte sich in den Strom hineinzufinden, spähte nach den Gesichtern der Leute und sann darüber nach, ob wohl jemand ihn wiedererkennen würde; er wünschte und fürchtete es zugleich. Aber sie eilten vorüber, der eine oder der andere stutzte nur ein wenig über seine fremdartige Erscheinung. Er selbst erkannte die meisten, leibhaftig, als sei es gestern gewesen, daß er mit den Zehntausenden zu tun hatte – die dazwischenliegenden Jahre hatten ja keine neuen Gesichter zwischen ihn und die alten geschoben! Da gingen einige von seinen Leuten auf dem Bürgersteig mit Muttern unterm Arm, andere standen als Kutscher und Schaffner auf der Straßenbahn. Schlappe Kerle und schneidige Burschen – das war sein Heer. Er konnte sie bei Namen nennen und kannte ihre Familienverhältnisse. Nun, es war ja seitdem eine Menge Wasser ins Meer gelaufen.

Er ging in ein kleines Wirtshaus für reisende Handwerksburschen und bestellte Logis.

»Ah, dir kann man es ja ansehen, daß du einen Tag oder zwei außer Land gewesen bist«, sagte der Wirt. »Bist du weit herum gewesen, Kamerad?«

Ach ja – ein wenig von der Welt hatte Pelle ja gesehen. Und hier in der Heimat hatte sich ja auch allerlei verändert – wie ging es mit der Bewegung?

»Großartig, Kamerad – gewaltig gut! Die Partei hat mächtige Fortschritte gemacht – heute erobern wir die Stadt!«

»Dann kommt wohl jetzt ein anderer Gang in die Geschichte?«

»Na – das will ich gerade nicht behaupten. Die Arbeitslosigkeit nimmt ja mit jedem Jahre zu, und es is eigentlich ganz egal, wer in der Bürgervertretung und im Reichstag sitzt. Aber wir haben ja große Fortschritte gemacht – so mit dem Tarif.«

»Sagen Sie mir doch einmal – vor einigen Jahren nahm ein Mann an der Bewegung teil, der Pelle hieß! Was ist eigentlich aus dem geworden?«

Der Wirt kraute sich den Scheitel: »Pelle – Pelle? Ja, das is auch wahr! Was war es doch noch mit ihm – hat er nich' falsches Geld gemacht oder aus der Kasse gestohlen? Mir is beinah so, als wenn er im Zuchthaus oder im Landarbeitshaus geendet hätt' … Ja, schlechte Elemente gibt's ja bei jeder Bewegung.«

Ein paar Arbeiter, die da saßen und gebratene Leber aßen, mischten sich in die Unterhaltung. »Vor ein fünf, sechs Jahren«, sagte einer von ihnen kauend, »war er sehr im Schwung. Aber es war nichts Rechtes dahinter, er hatte zu viel Phantasie!«

»Ein verdammt gutes Mundwerk hatt' er nu aber doch«, sagte der andere. »Ich erinner' mich noch ganz genau an ihn von dem großen Lockout her; er konnt' einem weiß Gott einreden, daß man ein verteufelter Kerl wär'. Ja, das war damals! Prost Kamerad und wohl bekomm's!«

Pelle erhob sich schweigend und ging. Er war vergessen; er hatte keine Spuren hinterlassen, trotz allem, was er gekämpft und gelitten hatte. Es war wohl seither so viel anderes über ihre Köpfe hingegangen, und da hatten sie ihn nur ausgeschwitzt.

Er ging dahin und wußte nicht, was er mit sich anfangen sollte, heimatloser hier in dieser Straße, die mehr als jede andere die seine sein sollte, als irgendeine Stätte sonst. Es war schwarz von Menschen, aber der Strom riß ihn nicht mit sich fort, er war wie einer dieser Gegenstände, die auf die Seite gespült werden und liegenbleiben.

Alle Menschen waren in ihren guten Kleidern. Die Arbeiter kamen in Scharen, sie waren hingewesen, um zu stimmen, oder sie wollten hin. Einige wurden auf der Straße angehalten und von eifrigen Kameraden an die Wahlurne geleitet. Man rief einander von Bürgersteig zu Bürgersteig zu, die Hand wie ein Schallrohr vor dem Munde: »Heda, Petersen! Du hast doch wohl gestimmt?« überall herrschte Spannung und gehobene Stimmung – die Stadt sollte erobert werden!

Er folgte dem Strom über die Königin Louisen-Brücke und in die Stadt hinein, hier drinnen war die Stimmung eine andere, die Ansichten waren geteilt, die Leute kamen einander mit groben Worten. Vor den Zeitungsredaktionen stand die Volksmenge dicht gedrängt, sperrte den Wagenverkehr und wartete geduldig auf die Ergebnisse, die im Fenster angeschlagen wurden. Jedesmal, wenn ein Wahlkreisergebnis im Fenster erschien, ging eine wogende Bewegung durch die Menge und steigerte sich zu einem mächtigen Brausen, wenn ein Sieg errungen war. Es ging verhältnismäßig friedlich zu, die Leute scharten sich vor den Redaktionen der Blätter, die ihre Parteifarbe trugen. Nur die Händelsuchenden stellten sich bei den Gegnern ein, um einen auf den Hut zu kriegen. Drinnen in den Redaktionsbureaus jagten die Mitarbeiter hin und her, hängten die Ergebnisse heraus und änderten die Zahlen.

In den Cafés und Restaurants wimmelte es von Gästen. Das Telephon klingelte unablässig. Boten kamen mit Listen von den Telegraphenbureaus. Man kämpfte um die Ergebnisse vor dem schwarzen Brett, erwog die Chancen an den Tischen, trieb Kannegießerei.

Pelle hatte nie die Stadt in einer solchen Erregung gesehen, nicht einmal während des großen Lockouts. Wie geballte Fäuste standen die einzelnen Stände einander gegenüber, die Arbeiter noch eifriger als die Oberklassen, sie waren Politiker geworden, die sich sehen lassen konnten. Er begriff, daß die Bewegung den Schwerpunkt hierher gelegt hatte, es galt, Mandate zu erobern; heute erwartete man, den Sieg in der Stadt und festen Fuß draußen auf dem Lande zu erringen. Mehrere von den alten Führern saßen schon in der Volksvertretung und warfen bei den Debatten ihre praktischen Erfahrungen in die Wagschale: jetzt galt es kein geringeres Ziel, als die politische Macht zu erobern. Dies war kühn genug – sie mußten doch Erfolg gehabt haben! Er hatte noch sein altes feines Ohr für das, was als gesammelte Kraft aus dem Ganzen aufstieg, und er spürte eine Veränderung in dem öffentlichen Ton selbst. Der war breiter, demokratischer geworden. Selbst die Oberklasse beugte sich jetzt vor der Wahlurne und ließ sich somit herab, um die Stimmenmehrheit zu kämpfen.

Aber er vermißte den Platz für sich selbst in diesem Kampf. »Heda – du hast doch wohl gestimmt?« rief man ihm im Vorübergehen zu. Gestimmt? Er hatte ja nicht einmal Stimmrecht! In dem Kampf, der jetzt gekämpft wurde, hatte der alte Führer nicht einmal Erlaubnis, als gewöhnlicher Gemeiner teilzunehmen.

Weg von der Bahn! Sie kamen in kleinen, taktfesten Gruppen auf dem Wege nach der Wahlurne oder dem Versammlungshaus und füllten den ganzen Bürgersteig aus, und Pelle machte ihnen freiwillig Platz. Diesmal kam er nicht angestiegen wie ein Königssohn, zu dessen Empfang alle Welt am Strande versammelt war.

Ein Ausgestoßener war er – weder mehr noch weniger – einer, der beiseitegelegt und vergessen war. Und wenn er sich in Erinnerung brachte, so erreichte er nur, daß man die Geschichte von einem Verbrecher hervorholte. Da war das Haus, wo Stolpes gewohnt hatten, vielleicht kannten die Ellens Wohnung? Aber was ging ihn die übrigens an? Er entsann sich sehr wohl Lasse Frederiks entsetzten Gesichts. Und da war ja das Eckhaus, in dem Morten das Geschäft geleitet hatte – ja, es war lange her, seit sich ihre Wege trennten! Morten hatte ihn in Wirklichkeit immer beneidet, er hatte sein kolossales Glück nicht ertragen können. Jetzt konnte er ja frohlocken!

Er war verstimmt, verwirrt, bitter. Es legte sich wie ein Nebel über sein Gehirn, die Gedanken schwankten hervor aus der Feindseligkeit wie kopflose Händelsucher. Durch Jahre hindurch hatte das Bedürfnis, mit Menschen zu verkehren, sich entsetzlich in ihm angehäuft; nun stürzte das Ganze zusammen. Er hätte über irgendeinen Beliebigen herfallen und Streit anfangen können, nur um nicht hier umherzugehen und sich aller Welt gegenüber gleichgültig zu verhalten. – Warum ging er nicht in die ›Bluttasse‹? Da wurde er doch auf alle Fälle erwartet.

Vor der Griffenfeldstraße hatte sich ein Auflauf angesammelt. Man hatte einen Kreis um einen Kohlenarbeiter gebildet, der dastand und einen Laternenpfahl mit den Schnauzen seiner Holzschuhe mißhandelte, während er lallend sein Mundwerk gebrauchte. Er war gegen den Pfahl gerannt und hatte sich ein Loch in die Stirn geschlagen. Die Leute amüsierten sich über ihn.

Als der Laternenschein auf das kohlenbestaubte Antlitz des Betrunkenen fiel, erkannte Pelle ihn; es war der fröhliche Jakob! Wütend drängte er sich vor und packte ihn bei den Schultern. »Was ist das mit dir, Jakob, bist du ein Jammerlappen geworden?« fragte er empört. »Was soll das?«

»Keiner soll herkommen und sich gegen einen organisierten Arbeiter was 'rausnehmen«, lallte Jakob und stieß mit dem Fuß in die Luft, zum großen Ergötzen der Zuschauer, die ihn ermunterten, nur immer drauflos zu hauen. »Ich bin Mitglied meiner Organisation und schulde nichts – da könnt ihr selbst sehen!« Er wühlte ein kleines Buch in schwarzem Lederfutteral aus der Brusttasche heraus und stand da und blätterte darin herum. »Seht doch selbst nach, Kollegen, Mitgliedsbeitrag bezahlt, was? Streikbeitrag bezahlt, was? Am Eingang vorgezeigt, was? – Kommt mir bloß nich' damit! Nehmt es doch und laßt es bei den Leuten 'rumgehen, wir müssen die Papiere in Ordnung haben. – Ihr stützt doch den Wahlfonds, Leute? Hin an die Urne und stimmt! Zum Teufel auch! Wer sein Scherflein nich' hergibt, is ein jämmerlicher Kamerad. – Wer sagt Dieb? Hier is keiner nich', der stiehlt, verstanden! Der fröhliche Jakob is ein redlicher, organisierter …« Plötzlich fing er an zu schluchzen, der Speichel floß ihm aus dem hängenden Mund herab auf die Jacke, das fuselumnebelte Gesicht schnitt gräßliche Fratzen.

Pelle führte ihn auf einen Hof und wusch ihm die Wunde unter dem Wasserhahn ab. Das kalte Wasser machte ihn erzittern, der Kopf hing tot herab. »So ein rotziger Streikbrecher«, murmelte er. »Ich will dem Vorsteher sagen, daß er ihm ordentlich einen im Blatt auswischt!«

Plötzlich erkannte er Pelle. Ein Zucken durchlief seinen Körper, in seinen schlaffen Zügen kämpfte das Bewußtsein um die Übermacht. »Nee, bist du das, Großmeister?« sagte er beschämt und griff nach Pelles Hand – »also bist du zurückgekommen? Du findst wohl, daß ich ein Schwein bin, aber was zum Teufel!«

»Komm jetzt nur!« sagte Pelle hart; er war kein Freund von den vielen Zuschauern.

Sie gingen die Meinungstraße hinab, Jakob stolperte schweigend dahin und schielte zu seinem alten Anführer hinüber. Er war ein wenig unbeholfen im Gang, aber das kam von Überarbeitung. Das Zusammentreffen mit Pelle hatte ihn fast nüchtern gemacht. »Du findest gewiß, daß ich ein Schwein bin«, wiederholte er endlich in einem jämmerlichen Ton. »Aber wenn da nu' doch keiner is, der einen ein bißchen aufrichten kann.«

»Das ist eine Schweinerei mit dem Branntwein!« sagte Pelle kurz.

»Ja, das sag' man noch 'mal! Aber man hat hin und wieder auch ein gutes Wort nötig, und denn muß man es wohl nehmen, wo man es kriegen kann. Die Kollegen sehen auf einen 'runter, will ich dir sagen – und wollen einen nicht unter sich dulden.«

»Was is da denn los?« fragte Pelle.

»Was da los is? Da sind die fünfmal sechs Tage, weil man seinen alten Vater damals unterm Lockout nich' sitzen und hungern ließ. Damals war ja alles schön und gut: Jakob war ein guter Sohn! Sie pfiffen auf die schmierigen Geldbeutel der Großen und auf das bißchen Wasser und Brot – und den Teufel und seine Großmutter. Aber nu geht's nach 'ner anderen Melodie: der da, der hat ja wegen Diebstahl gesessen! – Und damit basta! Warum, da fragt keiner nach – man is ja Großbürger geworden, verstehst du! In alten Zeiten hieß ich immer der fröhliche Jakob, und die Kameraden mochten gern mit mir zusammen arbeiten. Weißt du, wie ich nu heiß'? Stehl-Jakob. Ja, sie sagen es ja nich' geradeheraus, denn dann könnten sie wohl drauf gefaßt sein, daß einer ihnen den Schädel einhaute, aber es is doch mein Name. Na, sagt man zu sich selbst, damals hast du das Ganze wohl verkehrt beurteilt; am Ende bist du doch nichts als ein gemeiner Dieb. Und denn mußt ich trinken, um wieder ein ehrlicher Mann zu werden.«

»Und gegen die Laternenpfähle wüten! Sollt'st du nich' lieber nach denen auslangen, die dir was tun?«

Jakob schwieg und duckte den Kopf; der starke, unverzagte Bursche war ein Hund geworden, den jeder mit Füßen treten konnte. War es so schlimm, mit den fünfmal sechs Tagen unter seinesgleichen herumzugehen – was sollte Pelle dann sagen? »Was macht dein Bruder?« fragte er, um Jakobs Gedanken auf etwas Lichteres hinzulenken – »er war ein Prachtkerl!«

»Er hat sich aufgehängt,« erwiderte Jakob finster, »er konnt' es nich' aushalten. Wir verübten den Einbruch ja zusammen, damit der eine dem anderen nichts vorzuwerfen hatt'; und der Krämer schuldete meinem Alten ja Geld. Er hatte Arbeit dafür geleistet und sollt' nu darum betrogen werden, das war die Absicht. Und da saßen die beiden Alten und hungerten – frieren taten sie auch. Da schafften wir ihnen ihr Recht, und das war ja so über alle Maßen großartig gemacht. Aber hinterher, wenn da auf dem Arbeitsplatz etwas im Gange war, Agitations- und Wahlspektakel und dergleichen neue Einrichtungen, dann gingen sie ganz zierlich um mich und ihn herum. Wir gehörten nich' mit dazu, versiehst du – wir hatten ja kein Stimmrecht. Er konnt' nich' auf andre Fasson damit fertig werden, als daß er 'n Strick um den Lampenhaken schlang. Ich hab' die Sache selbst hin und her gedreht, aber da is nich' klug aus zu werden!« Jakob ging eine Strecke. »Willst du es nu ordentlich in Schwung bringen? – Hier is ein gutes Wort nötig.«

Pelle antwortete nicht; dies legte sich zu schwer auf ihn. Er hörte die Frage gar nicht.

»Deine Worte waren ja hauptsächlich schuld daran, daß wir an eine neue Zeit glaubten«, fuhr Jakob hartnäckig fort. »Sonst hätten mein Bruder und ich es am Ende anders angefangen, und dann wär' es uns beiden also besser gegangen. Na, du hast ja selbst natürlich auch da'an geglaubt! Aber was sagst du nu – glaubst du noch an dieses Neue? Denn man möcht' ja gern wieder ein ehrlicher Mensch sein.«

Natürlich glaubte Pelle noch immer daran.

»Ja, denn da sind nämlich nich' mehr viele, die noch einen roten Heller für die Geschichte geben. Aber wenn du es sagst, zu dir hab' ich immer noch Fiduz. Man selbst hat ja nich' Grips genug, um was auszutüfteln; und für uns kleinen Leute is es, ich möcht' sagen, so gewesen, als wenn der Pfropfen abging, damals als du wegkamst. Das Ganze stand da und wurd' zu abgestandenem Fusel. Geschehen tut da nichts, so daß wir armen Deubels es sehen können, und jedesmal, wenn man an zu jammern fängt, wird einem gleich ein Stimmzettel in die Faust gesteckt: Geh hin und stimm, Kamerad, denn wird es schon anders werden. Aber zum Teufel auch, das kann nich' zünden bei einem Burschen, der von klein auf nichts gelernt hat. Für mich hatten sie nu mörderlich fein gesorgt mit Wiederherstellung meiner Ehre, damit ich mein Stimmrecht wieder gebrauchen konnt'; aber mich zu einem machen, auf den keiner 'runter sieht, das können sie nich'. Und darum bedank' ich mich auch dafür! Aber wenn du noch da 'an glaubst, denn tu ich es auch, verdammt und verflucht, denn zu dir hab' ich nu mal Fiduz. Hier hast du meine Hand da 'auf.«

Jakob war noch derselbe einfältige, gutmütige Bursche wie in alten Zeiten, als er auf dem Boden der »Arche« hauste. Ein wenig mehr Böses hätte immerhin in ihm sein können! Aber seine Worte wärmten Pelle das Herz, hier war doch ein Mensch, der seiner bedurfte – und der noch an ihn glaubte, obwohl er im Kampf zum Krüppel geschlagen war! Dies war der erste Invalide: Pelle war darauf vorbereitet, mehr zu treffen und ihre Anklage hinzunehmen. Allerlei würde sich gegen ihn wenden, gerade jetzt, wo er machtlos dastand – aber er mußte das mitnehmen! Es war ihm, als habe er jetzt Kräfte dazu.

Pelle ging wieder auf die Straße, er überließ den Füßen die Richtung und dachte an Vergangenheit und Zukunft. Sie waren so fest überzeugt gewesen, daß eine neue Zeit gleich für sie anbrechen würde! Die neue große Wahrheit war so selbsteinleuchtend gewesen, daß man meinte, all das Alte müßte vor ihr fallen wie vor einem Zauberwort – und nun hatte der Alltag auch ihr den Glanz abgenutzt! So weit ersehen konnte, war nichts Wesentliches geschehen, und was sollte auch wohl geschehen? Es ging nicht so ohne weiteres, Systeme zu stürzen. Aus dem Urteil des fröhlichen Jakob konnte er sich sein eigenes bilden, aber er war nicht mehr verzagt. Mochte jetzt kommen, was kommen wollte. Er würde nichts dagegen haben, die Auffassung der alten Kameraden sogleich herauszufordern und seine Stellung ins reine zu bringen.

Er war durch mehrere Seitengassen gekommen und stand plötzlich vor einem großen, erleuchteten Gebäude; die breite Treppe hinauf strömten Leute. Es war eins der Arbeiterversammlungshäuser; man feierte ein Fest wegen des Wahltages. Pelle folgte aus alter Gewohnheit dem Strom.

Er hielt sich im Hintergrund des Saales und gebrauchte seine Augen, als sei er eben von einem anderen Erdball heruntergefallen; wunderliche Gefühle sprudelten in ihm auf, als er wieder mit den Vielen zusammen war. Einen Augenblick stürmte es in ihm wie von einem heftigen Verlangen zu rufen: hier bin ich wieder! und die Arme nach ihnen allen auszubreiten. Aber er bezwang das schnell, das Gesicht nahm wieder seine versteinerte Ruhe an.

Das also war sein Heer von dem Kampf. Sie waren beträchtlich besser in Kleidung als an dem Tage, als er sie im Triumph in die Stadt hineinführte, als ihre wahren Bürger; sie trugen auch den Kopf höher, verkrochen sich nicht hintereinander, sondern forderten Platz. Mehr Essen bekamen sie, das konnte er sehen, die Gesichter waren blanker davon geworden. Und die Augen waren träge im Ausdruck geworden, sie standen nicht mehr hungrig in das Ungewisse hinausgrabend da, sondern bewegten sich ruhig und natürlich von einem Punkt zum anderen. Man hatte sich offenbar wieder auf einen langen Marsch eingerichtet, und vielleicht war das gut; große Dinge vollzogen sich nicht im Handumdrehen.

Er wurde dadurch aus seinen Gedanken erweckt, daß die Nächsten sich umwandten und ihn anstarrten. Immer mehr Gesichter drehten sich nach ihm um. Pelle ist hier! ging es wie ein Murmeln durch die Versammlung. Hunderte von Augen waren auf ihn gerichtet, fragend und forschend, einige in offener Erwartung, als müsse gleich auf der Stelle etwas Ungewöhnliches geschehen.

Es gestaltete sich zu einer ganzen Bewegung, zu einer Welle, die ihn widerstandslos in den Vordergrund des Saales und auf die Rednertribüne hinauftrug. Ein mächtiges Brausen stieg um ihn auf wie eine Brandung und betäubte sein empfindliches Gehirn, wo die Stille hörbar saß und ununterbrochen eine feine, neue Welt zusammenfügte, von der sonst niemand wußte. Und auf einmal wurde es still, so still, daß er wieder die Einsamkeit in seinem Ohr kochen hörte.

Pelle redete, still und vertraulich. Seine Worte wurden ein Gruß an sie aus einer Welt, die sie noch nicht kannten, aus der großen Einsamkeit, wo der Mann seinen Weg allein gehen muß ohne laute Kameraden, die ihm Mut einflößten – und sich vorwärts lauschen muß, bis er sein eigenes Herz da drinnen schlagen hört. Er sitzt wieder in einer Zelle wie der erste, ursprüngliche Lebenskeim, allein und verlassen, über ihm zieht eine Spinne ihr kunstfertiges Netz. Im Anfang ist er böse auf das geschäftige Tier und zerreißt das Netz, aber das Tier fängt unverdrossen wieder von vorne an. Und dies wird plötzlich eine trostreiche Lehre für ihn, niemals seine Sache aufzugeben; er gewinnt schließlich dies kleine, aufmerksame Wesen lieb, das sein Gewebe so kunstfertig anlegt, als habe es eine große Verantwortung – und er fragt sich selbst, ob er überhaupt für die Spinne existiert. Hat sie vielleicht Mitleid mit ihm in seiner Verlassenheit, da sie sich nicht an einen anderen Ort begibt, sondern nachsichtig ihr Gewebe wieder aufbaut, feiner und feiner – als würde es nur heruntergerissen, weil es nicht gut genug ausgeführt ist. Er bereut bitter sein Vorgehen und würde viel geben für ein Zeichen, daß ihm das kleine Tier nicht zürnt, denn niemand ist so gestellt, daß er den anderen von sich stoßen kann, selbst das kleinste Gewürm hat eine verhängnisvolle Bedeutung für dich! In der Einsamkeit der Zelle, da lernt man die Solidarität. Und eines Tages, als er dasitzt und liest und die Spinne eifrig beschäftigt ist, einen Faden dicht an ihm vorüberzuführen, läßt sie sich vertraulich herab und benutzt seine Schulter zum zeitweiligen Stützpunkt. Nie zuvor war ihm ein solches Vertrauen bewiesen worden trotz allem, das kleine Tier wußte, wie ein verhärteter Gefangener behandelt werden mußte. Es lehrte ihn, daß er ein Herz und auch eine Seele hatte, auf die er achtgeben mußte! – Ein Gruß an die Genossen aus der großen Stille, die darauf wartete mit ihnen zu reden, mit einem nach dem anderen.

Er sprach geradeheraus aus dem Ernst seiner Seele und sah die Verwunderung in ihren Gesichtern. Zum Kuckuck auch, wollte er sie nun alle zusammen ins Zuchthaus haben, bloß weil er selbst da gesessen hatte? Und waren das die Überreste von dem alten Pelle, von dem Blitz, wie er damals genannt wurde? Er war verdammt lahm geworden, dem hatte man den Kamm gründlich geschoren! Sie fielen schnell ab und fingen an, halblaut miteinander zu reden; nur hier und da aus den Ecken ertönte vereinzelt Klatschen.

Pelle empfand die Enttäuschung und die Gleichgültigkeit, er lächelte; er bedurfte nicht mehr des orkanartigen Beifalls, jetzt lauschte er auf den da drinnen in sich selber. So viel hatte er begriffen, während er da oben stand, daß er mit denen da unten noch nicht fertig war – jetzt erst sollte das Eigentliche beginnen. Sein Werk war heruntergefegt, wohlan, dann baute er ein neues, das besser war; er hatte in der Zelle gesessen und Langmut gelernt.

Er saß unterhalb der Rednertribüne zwischen den Leitern der Versammlung und fühlte, daß er hier eigentlich ein Unbefugter war. Aus Mitleid hatte man ihn zu dem Feste hinzugezogen; er las in ihren Augen, daß die getane Arbeit ohne ihn ausgeführt war, und daß er ungelegen kam. Sollten sie nun wieder anfangen, mit ihm – dem Phantasten – zu rechnen, oder war es seine Absicht auszuwandern? – Ach, er brachte gewiß keine übereilte Fahrt in die Bewegung, sie sollten nur wissen, wie er da drinnen gesessen und Besonnenheit angesammelt hatte!

Er sprach nicht, sondern saß abwesend da und suchte, sich um den Lärm herumzulauschen, um ein wenig von einem ewigen Ton aufzufangen. Sie lachten, stießen miteinander an und hielten Reden, auch auf ihn; aber das alles war ja gar nicht nötig! Sicher waren sie geworden, sie redeten offen heraus aus allen Schleusen, es war eine gewisse Befreiung über ihr Gesamtauftreten gekommen – als Masse wirkte es gut. Aber das Wunder? – Das Unfaßliche? Er vermißte ein wenig Angst hinter dem Wohlsein, etwas von dem tiefen, stummen Wägen, das verraten sollte, daß sie in eine neue Welt gestarrt hatten. Hörten sie denn gar nicht den Ton, da sie so viel lärmten? Den ewigen, leisen Rhythmus, der ihm selbst beständig ins Ohr klang und das Ganze in sich schloß? Die Stille der Zelle hatte sein Ohr empfindlich gemacht. Er litt bei diesem robusten Lachen, das ihrer Lebensfreude Ausdruck verlieh.

Oben an einer großen Tafel stand einer der Führer und rechnete die Siege des Tages auf unter dem Jubel der Versammlung; Pelle schlich unbemerkt hinaus. Er stand auf der Treppe und atmete die ruhige Nacht in tiefen Zügen ein, als ein junger Mann kam und die Hand nach ihm ausstreckte; es war der Schwager, Friedrich Stolpe. »Ich wollte dich nur willkommen bei uns heißen, hab' auch Dank für deine Worte da drinnen«, sagte er.

»Wie geht es Ellen?« fragte Pelle mit leiser Stimme.

»Das ist wohl so so. Sie wohnt Viktoriastraße zwanzig und wäscht; ich glaube, sie würde sich freuen, dich zu sehen.«

Er sah Pelle prüfend an. »Wenn du es wünschest, will ich gern dafür sorgen, daß ihr euch bei mir treffen könnt.«

»Danke,« sagte Pelle, »aber ich gehe morgen früh zu ihr hinaus!« Er bedurfte keiner Umwege mehr.


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