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Wenn der Frost es gestattete, arbeitete man mit voller Kraft an der Ausgrabung des Grundes zu den neuen Arbeiterwohnungen. Brun war ganz erfüllt von der Arbeit und ging da draußen vom Morgen bis zum Abend herum und fror. Er hatte einen großen Mantel an, den er über den Überrock ziehen konnte, und trug Fausthandschuhe über den pelzgefütterten Handschuhen. Ellen hatte ihm einen großen Schal gestrickt, den er vor den Mund binden sollte; sie gab vom Fenster her acht auf ihn und mußte ihn von Zeit zu Zeit hereinholen, um ihn aufzutauen. Aber ihn im Hause zu halten, war unmöglich, er war zu sehr gespannt, die Arbeit fortschreiten zu sehen. Wenn der Frost die Erde verschloß und die Arbeit hemmte, trippelte er trotzdem da draußen herum, ruhelos und schlechter Laune.
An den Wochentagen war Pelle ja nie bei Tageslicht zu Hause, aber des Sonntags mußte er mit hinaus und sehen, was geschafft war, sobald nur der Tag graute. Der Alte kam und klopfte an seine Tür.
»Na, Pelle, kommst du noch nicht bald aus den Federn?«
»Er muß doch wirklich so lange liegenbleiben, bis er seinen Kaffee getrunken hat«, erklärte Ellen von der Küche aus.
Dann lief Brun noch einmal rund um das Haus herum, um sich die Zeit zu vertreiben, er war nicht eher zufrieden, als bis er Pelle das Ganze gezeigt und dieser die Veränderungen gutgeheißen hatte. So, hatte er sich gedacht, sollte der Weg einmal laufen, und dort, wo sich die Wege kreuzten, würde sich ein kleiner Park mit Kunstwerken gut ausnehmen! Neue Ideen sproßten beständig aus dem Unternehmen auf, die Phantasie des Bibliothekars zauberte eine ganze Stadt aus den kahlen Feldern hervor, mit Freischule, einem Theater und traulichen Aufenthaltsorten für die Alten.
»Einen Konsumverein und eine Klein-Kinderschule errichten wir gleich«, sagte er. »Allmählich, wenn wir erst mehr geworden sind, wird all das andere schon kommen! Nur für ein Armenhaus und ein Gefängnis, denke ich, werden wir keine Verwendung haben.«
Sie konnten den ganzen Vormittag damit hinbringen, da draußen umherzugehen und Pläne zu machen, Ellen mußte sie hereinholen, wenn sie essen sollten. Sie fand sie in der Regel in eifriger Unterhaltung über irgendeinem Loch stehen – über einem ganz gewöhnlichen viereckigen Loch in der Erde – mit Schneeschlamm oder Eis auf dem Grunde. So wurde der Platz für jedes Haus ausgegraben, aber die beiden redeten darüber, als sei es der Anfang zu einer ganz neuen Erde!
Am Tage entbehrte er Pelle und sah ebenso eifrig nach ihm aus wie Ellen, wenn die Zeit herankam, wo er von der Arbeit zurückerwartet werden konnte. »Ich werde wirklich ganz eifersüchtig auf ihn«, sagte Ellen und zog Pelle durch die Küchentür mit sich hinein, um ihm unter vier Augen guten Tag sagen zu können. »Wenn er es könnte, nähme er dich mir ganz weg.«
Wenn Pelle aus gewesen war, um einen Vortrag zu halten, pflegte er erst nach Hause zu kommen, wenn sich Brun schon zur Ruhe begeben hatte, und des Morgens, wenn er fortging, war der Alte noch nicht auf. Brun fuhr sonst niemals in die Stadt, er schützte das schlechte Wetter vor, wußte in Wirklichkeit aber nicht, was er da drinnen mit sich anfangen sollte. Wenn einige Tage vergangen waren, ohne daß er Pelle gesehen hatte, kam eine Unruhe über ihn; er verlor das Interesse an den Erdarbeiten und trippelte rastlos herum, ohne jedoch etwas vorzunehmen. Und plötzlich zog er die Halbstiefel an und arbeitete sich über die Felder hinweg bis an die Straßenbahn. Dann stand Ellen am Fenster und beobachtete mit einem gerührten Lächeln seine Eile – sie wußte ja, was ihn zog.
Man hätte glauben sollen, daß zwischen den beiden geheime Bande des Blutes beständen, so hingen sie aneinander. »Was macht der Alte?« war Pelles erste Frage, wenn er zur Tür hereinkam; und wenn Brun sein Vater gewesen wäre, hätte er ihn nicht mit rührenderer Bewunderung in seinen Greisenaugen verfolgen können, als er es tat. Wenn Pelle weg war, ging der Alte mit einem Ausdruck umher, als suche er beständig etwas.
Ellen war nicht damit zufrieden, daß er da draußen in allem Wetter bei den Erdarbeiten herumlief. Am Abend legte sich ihm die Stubenwärme auf die Brust und verschlimmerte seinen Husten.
»Es endet, weiß Gott, noch mit einer tüchtigen Erkältung«, sagte sie dann. Sie wollte, daß er ein paar Tage im Bett bleiben solle, damit er die Erkältung los würde, ehe sie sich ganz festgesetzt hatte.
Das war eine stehende Streitfrage zwischen ihnen, und Ellen ruhte nicht, bis sie den Sieg davontrug. Und als er der Erkältung erst dies Zugeständnis gemacht hatte, brach sie auch allen Ernstes los; die Bettwärme taute die Kälte aus seinem Körper heraus, so daß Nase und Augen liefen.
»Ein Glück, daß wir Sie noch rechtzeitig eingefangen haben«, sagte Ellen. »Und nun kommen Sie nicht aus dem Bett, bis der ärgste Frost überstanden ist – und wenn ich Ihnen Ihre Kleider verstecken soll.« Sie pflegte ihn wie ein Kind und kochte ihm »Kameltee« von Blumen, die sie im Sommer gesammelt und getrocknet hatte.
Als er erst wieder sitzen durfte, fand er sich gut da hinein, sein alter Körper fand sich leicht im Bett zurecht. Er lag da und genoß es, umgebettet zu werden, und ersann bald dies, bald jenes, um von Ellens Händen gepflegt zu werden.
»Jetzt machen Sie sich gewiß auch elender, als Sie sind«, sagte sie und lachte ihn aus.
Brun lachte selbst mit. »Ich bin auch noch nie verhätschelt worden«, sagte er. »Seit ich geboren wurde, haben meine Eltern Menschen gedungen, um für mich zu sorgen – darum bin ich ja so ausgedörrt. Alles habe ich für Geld kaufen müssen. Nun, es liegt eine gewisse Gerechtigkeit darin, daß das Geld die Liebe tötet – sonst bliebe einem ja auch nichts mehr zu wünschen.«
»Ja, es ist gut, daß man das Beste nicht für Geld kaufen kann!« sagte Ellen und stopfte ihm die Bettdecke an den Füßen ein.
Brun wurde mit aufgestapelten Kissen gestützt, so daß er im Liegen arbeiten konnte. Er hatte eine Karte des Hügelhofes neben sich liegen und machte Entwürfe zu einer planmäßigen Bebauung des Terrains. Seine Gedanken darüber schrieb er in ein Heft nieder, das als Beilage zu den Plänen dienen sollte. Er arbeitete, sobald es hell wurde, bis um die Mitte des Tages; während der Zeit hatte Ellen ihre liebe Not, die Kinder unten zu halten, jeden Augenblick war Svend Trost auf dem Wege nach oben zu dem Alten.
Am Nachmittag, wenn sie in der Küche fertig war, kam sie eine Stunde mit ihnen herauf. Dann bekamen sie ein Bilderbuch und wurden an Bruns großen Arbeitstisch gesetzt; Ellen setzte sich mit ihrem Strickzeug an das Fenster und unterhielt den Alten. Von ihrem Platz aus konnte sie die Erdarbeiter draußen auf dem Felde verfolgen und mußte ihm umständlich erzählen, wie weit sie mit jedem einzelnen Grund waren.
Da draußen standen immer einige hundert Mann und sahen den Arbeitern zu – eine frierende Schar, die sich beständig ergänzte. Es waren Arbeitslose, die ausgekundschaftet hatten, daß hier draußen etwas im Gange war. Lange vor Tagesgrauen stellten sie sich ein, in der Hoffnung, Glück zu haben, und den ganzen Tag wanderte der Strom ein und aus, eine endlose Kette von traurigen Männern. Sie konnten sehr wohl hoffnungslos Verdammten gleichen, die ein ungeheures Rad traten; über die Felder hinab lief eine breite Spur von ihren Füßen.
Brun lag da und quälte sich bei dem Gedanken an diese Tausende von Männern, die ganz bis hier heraus stöberten, um Arbeit für einen Tag zu bekommen, und mit einem abschlägigen Bescheid wieder gehen mußten. »Wir können ja nicht noch mehr Männer für das annehmen, was schon im Gange ist – sonst stehen sie einander nur im Wege«, sagte er zu Pelle. »Aber am Ende könnten wir schon jetzt einige Zukunftspläne ausführen! Könnten wir nicht damit anfangen, Wege abzustecken und dergleichen – damit die Menschen was zu tun bekommen?«
Nein, darauf wagte Pelle nicht einzugehen.
»Zum Frühling brauchen wir Kapital, um den Gerbern mit einer Genossenschaftsgerberei in Gang zu helfen«, sagte er. »Das wird in ihrem Fachverein an einem der ersten Tage angenommen werden – unter der Voraussetzung, daß wir Geld dazu vorschießen – und ich halte es für sehr wichtig, die Sache vorwärts zu bringen. Unsere Gegner benutzen es als Waffe gegen uns, daß wir unsere Rohstoffe aus dem Auslande beziehen. Das ist auch auf die Dauer unhaltbar, und jetzt muß es ein Ende haben. So wie die Sache jetzt liegt, hängt die Fabrik in der Luft; man kann uns den Bezug der Rohstoffe abschneiden, und dann sind wir fertig. Haben wir aber erst unsere eigene Gerberei, so ist der eine Betrieb bis auf den Grund durchgeführt und kann nicht umgerannt werden! Dann können wir einem Lockout in unserem Fach mit Ruhe entgegensehen.«
»Die Häute!« wandte Brun ein.
»Da sind wir bei der Landwirtschaft angelangt, die ist bereits kooperativ organisiert und läßt sich gewiß nicht gegen uns gebrauchen. Da müssen wir überhaupt anknüpfen, sobald wir einigermaßen im Gange sind – müssen Vieh kaufen und selbst schlachten, so daß wir uns außer mit Häuten auch selbst mit gutem und billigem Fleisch versorgen.«
»Ja, ja, aber die Gerberei verschlingt doch nicht unser ganzes Vermögen. Zu einigen Wegeanlagen müßte doch wohl noch genug übrigbleiben.«
»Nein, das geht nicht«, erklärte Pelle bestimmt. »Vergessen Sie nicht, daß wir auch an die Konsumvereine denken müssen – sonst ist all unsere Arbeit auf Sand gebaut; das eine zieht das andere nach sich. Es hängt zu viel von dem ab, was wir vorhaben, wir dürfen unser Unternehmen nicht mit toten Werten belasten, die es auf den Grund ziehen. Erst die Menschen – dann die Wege! Die Arbeitslosen von heute müssen sehen, wie sie ohne uns beide fertig werden!«
»Du bist ein wenig hart, finde ich!« sagte Brun und trommelte auf das Oberbett – verletzt durch Pelles Unerschütterlichkeit.
»Es ist nicht das erstemal, daß ich der Härte in dieser Verbindung angeklagt werde – aber darin muß ich mich finden!« erwiderte Pelle ernsthaft.
Der Alte hielt ihm die Hand hin. »Entschuldige! Es war nicht meine Absicht, dich anzugreifen, weil du nicht kopflos handelst. Selbstverständlich dürfen wir den Sieg nicht opfern aus Mitgefühl für die, die kämpfen. Es war nur eine vorübergehende Weichheit bei mir – aber freilich einer von den Augenblicken, die das Ganze aufs Spiel setzen können, das gebe ich zu! Aber es ist auch nicht leicht, ruhiger Zuschauer bei allen diesen verkehrten Zuständen zu sein. Man behauptet, die Arbeiter wollten lieber eine Hungerunterstützung annehmen als etwas tun; und nach allem, was sie jetzt aus der Arbeit herausgebracht haben, könnte man es sehr wohl verstehen, wenn das wahr wäre. Aber in diesem Monat, seit die Erdarbeiten hier vorgenommen werden, haben sich jeden Tag mindestens tausend Arbeitslose hier eingefunden, um zuzugreifen. Und die bezahlt man, damit sie es unterlassen, etwas zu tun! – Sie können zur Not Unterstützung erlangen, aber um keinen Preis Arbeit! Das ist doch so wahnsinnig wie nur möglich! – Man bekommt Lust, der Maschinerie einen kleinen Stoß zu versetzen, um sie wieder in Gang zu bringen.«
»Dazu gehört ein kräftiger Stoß«, sagte Pelle. »Es ist keine Kleinigkeit, um die es sich hier handelt.«
»Lächerlich gering sieht es auf alle Fälle aus. Die Arbeiter leiden ja keine Not, weil es ihnen an Arbeit fehlt, so wie unsere Sozialdemokraten uns einreden; aber ihnen fehlt die Arbeit, weil sie Not leiden: so verkehrt greift man das Ganze an! Der Zug der Arbeitslosen ist eine Schmach und Schande für die menschliche Gesellschaft; welch eine Vergeudung von Werten auch vom rein kaufmännischen Standpunkt aus – während das Land und die Nation vernachlässigt werden! Würde ein Privatgeschäft von solchen Grundsätzen getrieben, so wäre es ja im selben Augenblick zum Tode verdammt.«
»Ja, wenn das Elend seinen Ursprung nur im verkehrten Angreifen der Dinge hätte, so würde die Sache ja wieder schnell in die Reihe gebracht«, sagte Pelle. »Aber den Leuten, die über das Ganze bestimmen, kann man auf alle Fälle keinen Mangel an kaufmännischem Sinn zum Vorwurf machen – hätten sie nur das andere ebenso gut in Ordnung! Sie können mir glauben, es fällt kein Sperling vom Dach, falls nicht die Geldmacht ihren Vorteil darin erblickt; wenn es sich, rein kaufmännisch gesehen, für sie bezahlte, daß Land und Volk in der schönsten Ordnung wären, so würden sie schon dafür sorgen, daß es auch so bliebe. Aber das läßt sich ganz einfach nicht machen; allgemeines Wohlsein und die Anhäufung von Werten bei dem Einzelnen, das sind unvereinbare Gegensätze. Ich glaube, es ist ein wunderlicher Ausgleich in die Menschheit niedergelegt, so daß sie zu jeder Zeit genau so viel hervorbringen kann, wie zur Befriedigung aller ihrer Bedürfnisse erforderlich ist; und wenn einer zu viel mit Beschlag belegt, so entsteht anderswo ein Mangel. – Auf diese Erkenntnis hin wollen wir ja übrigens die anderen absetzen und selbst die Leitung übernehmen.«
»Ja, ja, ja, ja! Es ist keineswegs meine Absicht, das Bestehende rechtfertigen zu wollen; laßt die, die in der Leitung sitzen, die Verantwortung übernehmen. Aber ich habe hiergelegen und darüber nachgedacht – könnten wir nicht ein Verfahren ausfindig machen, wie all dies Vergeudete zu sammeln wäre, damit es dem Genossenschaftsbetrieb zugute käme?«
»Wie sollten wir das wohl machen? Wir sind ja doch nicht in der Lage, die Arbeitslosen zu beschäftigen.«
»Nicht gegen Lohn! Aber sowohl die Bewegung als auch der Staat haben ja angefangen, sie zu unterstützen – wäre es nicht natürlich, daß man als Entgelt dafür Arbeit von ihnen verlangte? Wohlverstanden müßte es ihnen selbst aber zugute kommen.«
»Sie meinen, daß zum Beispiel arbeitslose Maurer und Zimmerleute Wohnungen für Arbeiter bauen sollten?« fragte Pelle lebhaft.
»Ja, zum Beispiel das! Aber die Häuser müßten gegen Privatspekulation gesichert werden – auf ähnliche Weise wie die, die wir bauen – und für alle Zeiten den Arbeitern gehören. Da wir nicht in den Verdacht der Ausbeutung geraten können, könnten wir sie passenderweise verwalten – das würde Wind in den Segeln der Genossenschaft sein. Auf diese Weise würde der Abfall von der alten Zeit Dünger für die neue Saat.«
Pelle saß in Gedanken versunken da; der Alte lag in seinem Bett und betrachtete ihn gespannt. »Nun, schläfst du?« fragte er endlich ungeduldig.
»Das ist ein schöner Gedanke«, sagte Pelle und erhob den Kopf. »Die Organisation bekommen wir, glaube ich, auf unsere Seite – sie fangen ja schon an, sich für die Kooperation zu interessieren. Wenn sie nun den Ausschuß gewählt haben, will ich Ihren Plan vorlegen. Aber der Gesellschaft bin ich nicht so sicher, Brun! Die hat gelegentlich Verwendung für die große Hungerreserve, darum erhält sie sie so eben am Leben – sonst ließe man sie wohl bald den Hungertod sterben. – Ich glaube nicht, daß die Gesellschaft damit einverstanden ist, daß sie sich sozusagen gegen sich selbst wendet.«
»Du bist ein unverbesserlicher Schwarzseher«, sagte Brun halb ärgerlich.
»Ja – dem Alten gegenüber«, erwiderte Pelle mit einem Lächeln.
So erwogen sie die Möglichkeiten der Zukunft in Anknüpfung an die Ereignisse des Tages, wenn Pelle des Abends oben bei dem Alten saß – beide gleich erfüllt davon. Zuweilen fühlte der Alte, daß er aus der Spur lief. »Das ist das Blut,« sagte er mißmutig – »ich gehöre doch nicht so ganz zu euch. Es ist so lange her, seit meine Familie ihre Körperkräfte gebraucht hat, daß ich es ganz vergessen habe.«
In dieser Zeit beschäftigte er sich viel mit seiner Vergangenheit und hatte jeden Abend irgend etwas von sich selbst zu erzählen. Es war, als müsse er mit Macht und Gewalt ein Gesetz finden, das ihn an Pelles Seite stellte.
Brun gehörte einer alten Familie an, die sich mehrere hundert Jahre zurückführen ließ, bis auf einen Mann, der ein Schiff führte und Handel an der Küste von Trankebar sowie auch Seeräuberei betrieb; der Stammvater der Familie, dessen Gewerbe auch Walfischfang und Seeräuberei war, wohnte in einem Hause an den Kristianshafener Kanälen; wenn das Schiff in der Heimat war, ging es an dem Bollwerk gerade vor der Haustür vor Anker. Das Brunsche Haus wurde von Vater auf Sohn vererbt und erweiterte sich allmählich zu einem ganzen Palais; im Laufe von vier Generationen arbeitete es sich bis zu einem der ersten Handelshäuser der Hauptstadt empor. Zu Ende des achtzehnten und zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts waren die meisten Mitglieder der Familie in die Börsen- und Bankwelt hinübergeglitten, und von da aus pflanzte sich die Verschiebung weiter. Bruns Vater, der bekannte Cornelius Brun, hing an dem alten Geschäft, die Brüder überließen ihm ihren Anteil und gingen zu der Diplomatie über; einer von ihnen bekleidete eine hohe Stellung am Hofe.
Cornelius Brun fühlte sich verpflichtet, das alte Geschäft weiterzuführen. Um nicht hinter seinen Brüdern an Vornehmheit zurückzustehen, heiratete er eine Dame von uraltem – und verschuldetem – fünenschen Adel. Sie gebar ihm drei Kinder, die – wie er selbst sagte – alle drei mißglückt waren. Das erste Kind war taubstumm und überhaupt mit sehr geringen geistigen Gaben ausgestattet; es starb glücklicherweise, ehe es herangewachsen war. Nummer zwei war sehr aufgeweckt und mit allen möglichen Talenten begabt, zeigte aber schon in den Knabenjahren perverse Anlagen. Der Junge war sehr hübsch, hatte dunkles, weiches Haar und einen feinen, frauenhaften Teint; die Mutter kleidete ihn in Samt und vergötterte ihn. Er nahm nie etwas Nützliches vor, sondern trieb sich in vornehmer Gesellschaft herum und verausgabte Unsummen von Geld. In seinem vierzigsten Jahr starb er plötzlich, verlebt und blasiert. Die Todesanzeige sprach von Herzschlag, die Wahrheit aber war, daß Gerüchte über einen Sittlichkeitsskandal auftauchten, in den er zusammen mit sehr hochstehenden Namen verwickelt war. Das war zu Ende der siebziger Jahre – zu der Zeit als die Unterklassenbewegung anfing, in Schwung zu kommen. Von unten her wurde energisch auf Untersuchung gedrungen; die Geschichte ganz niederzuschlagen wagte man aber nicht, um nicht der Behauptung von der Verderbnis und der Parteilichkeit des Bestehenden Wind in die Segel zu blasen: als es sich zu einer Untersuchung zusammenzog und vorauszusehen war, daß der Lebemann Brun auf dem Altar der Menge geopfert werden würde, um die zu decken, die höher standen, drückte Cornelius Brun seinem Sohn die Pistole in die Hand. Oder schoß ihn nieder – der Bibliothekar vermochte nicht zu entscheiden, welche Tatsache die richtige war.
»Sieh, das waren die beiden Früchte an dem absterbenden Stammbaum,« sagte Brun bitter – »und es läßt sich ja auch nicht leugnen, daß sie wurmstichig waren. Die dritte bin ich! Ich kam gleichsam als jammervoller Rest zur Welt – fünfzehn Jahre nach meinem jüngsten Bruder. Meine Eltern hatten gewiß schon damals genug von ihrer Nachkommenschaft; ich wurde wenigstens schon von vornherein als hoffnungslos mißglückt betrachtet noch bevor ich Gelegenheit gehabt hatte, irgend etwas zu beweisen. Vielleicht haben sie instinktmäßig gefühlt, daß auch ich eine verkehrte Richtung einschlagen würde. Auch in mir waren die auflösenden Kräfte vorherrschend, ich ermangelte zum Beispiel in hohem Maße jeglichen Familiensinns. Schon als kleines Kind entsinne ich mich, gehört zu haben, wie sich meine Mutter über meine plebejischen Neigungen beklagte, ich hielt mich immer zu den Dienstboten und nahm Partei für sie gegen meine Eltern. Man sah mich in der Familie mit scheelen Blicken an, wenn ich auf dem Recht unserer Untergebenen bestand, vielmehr als den Idioten, wenn der alles zerriß, oder als den Perversen, der Schulden und Skandal machte – und wohl mit gutem Grund! Meine Mutter versah mich reichlich mit Geld, wofür ich mich amüsieren sollte, wahrscheinlich um meinen plebejischen Neigungen entgegenzuwirken; aber ich war schnell mit den Vergnügungen fertig und stürzte mich auf die Studien. Die Jetztzeit interessierte mich nicht, aber schon als Knabe hatte ich ein eigenartiges Bedürfnis zurückzublicken; ich legte mich hauptsächlich auf die Geschichte und ihre Philosophie. Vater sah richtig, wenn er mich verhöhnte und es ins Kloster gehen nannte; in dem Alter, wo andere junge Leute schwärmen, konnte ich keiner Frau ein Interesse abgewinnen, während mich fast jedes Buch zu näherer Bekanntschaft reizte. Lange Zeit hindurch hoffte er im stillen, daß ich in mich gehen und das Geschäft übernehmen würde, und als ich endgültig das Studium wählte, zerriß das Band völlig. »Wenn das Geschäft aufhört, dann ist es mit der Familie aus!« sagte er und verkaufte das Ganze. Er war damals bereits mehrere Jahre Witwer gewesen und hatte niemand außer mir; aber während der fünf Jahre, die er noch nach Abgabe des Geschäfts lebte, verkehrten wir nicht miteinander. Er haßte mich, weil ich die Firma nicht übernommen hatte – aber was sollte ich damit? Ich besaß ja nicht die Eigenschaften, mit denen man heutzutage ein Geschäft betreiben kann, und hätte das Ganze nur zugrunde gerichtet. Von meinem dreizehnten Jahr an habe ich meine Zeit zwischen Bücherborden verbracht und Leben und Taten anderer registriert; erst jetzt habe ich mich in den Tag hinausgefunden und schicke mich an, mein eigenes Leben zu leben – und nun ist es bald vorbei!«
»Erst jetzt wird das Leben des Lebens wert werden – folglich sind Sie zur rechten Zeit gekommen«, sagte Pelle.
»Nein, Pelle, ich stehe ja nicht im Aufgange!« sagte Brun mißmutig. »Ich habe die Jugend getroffen, und mein Sinn neigt sich ihr zu; aber es ist wie Abend und Morgen, die sich während der hellen Nächte in derselben Röte begegnen. Ich habe meinen Anteil an dem Neuen nur bekommen, weil sich das Alte davor beugen soll, so daß der Ring geschlossen werden kann. Du gehst hinein, wo ich hinausgehe.«
»Es muß ein trübseliges Dasein gewesen sein, so zwischen allen den Büchern und Büchern herumzugehen, ohne einen Menschen, der einen liebhatte!« konnte Ellen sagen. »Warum haben Sie sich denn auch nicht verheiratet? So schrecklich sind wir Frauen doch nicht, daß da nicht eine gewesen sein sollte, die Sie liebgehabt hätte.«
»Nein, man sollte das nicht glauben – aber wahr ist es trotzdem«, erwiderte Brun mit einem Lächeln. »Die Abneigung war übrigens gegenseitig – das ist so etwas immer. Es war wohl nicht beabsichtigt, daß ich alter Kerl noch Kinder in die Welt setzen sollte! Aber ergötzlich ist es nicht, das letzte Ende von irgend etwas zu sein!«
Ellen lachte. »Ja, aber Sie sind doch nicht immer alt gewesen!«
»Ja, das bin ich eigentlich doch – ich bin alt geboren. Erst jetzt fühle ich mich jung! Und wer weiß,« rief er in einem Anfall von Galgenhumor, »vielleicht spiele ich der Vorsehung noch einen Streich und komme eines schönen Tages mit einer kleinen Frau am Arm anspaziert!«
»Brun liegt da und fängt Grillen«, sagte Pelle, als sie hinabgingen, um sich schlafen zu legen. »Aber das gibt sich wohl, wenn er erst wieder aufstehen kann.«
»Ach, er hat es auch nicht gerade zum Totlachen gehabt, der Ärmste«, entgegnete Ellen und lehnte sich an ihn. »Es ist unrecht, daß es Menschen gibt, die keinen Anteil bekommen an all dem Lieben, was es gibt – das ist ebenso unrecht wie das, wogegen du arbeitest, finde ich!«
»Ja, aber das können wir nicht einrichten!« rief Pelle lachend.