Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das war ein famoser Streich! Die Arbeitgeber gaben jeden weiteren Gedanken auf, die Betriebe ohne die Organisation wieder in Gang zu setzen. Der Sieg wurde dadurch vollständig gemacht, daß die Fachvereine den ausländischen Arbeitern Reisegeld gaben und sie fortschafften, ehe sie Zeit hatten, sich zu besinnen. Sie wurden an die Dampfer gebracht, und mit einem kameradschaftlichen Hurra gab man ihnen das Geleit.
Pelle war der Held des Tages! Über seine Tat wurde in allen Blättern geredet, und selbst die Gegner senkten das Schwert vor ihm.
Er nahm das als etwas Selbstverständliches hin und arbeitete mit seiner ganzen Kraft auf ein neues Ziel zu. Es war kein Grund vorhanden, sich in die Wolken zu erheben; die Aussperrung war noch immer die schwerlastende Tatsache – jetzt fühlte er ihre ganze Bürde. Das Arbeiterheer ging in den Straßen umher spazieren, während die Nation sich verzehrte, und eine Aussicht auf eine baldige Lösung war noch immer nicht vorhanden. Aber eines Tages würden die Quellen versiegen und – was dann?
Er war zu tief vom Kampf getroffen, um von dem bißchen Weihrauch schwindlig zu werden, die Rufe legten die Verantwortung nur noch gewichtiger auf ihn. Wenn dieser entsetzliche Kampf sich zu einer Niederlage gestaltete, traf ihn die Schuld! Und er strengte sein Gehirn an, um ein Mittel zu finden, wie man den Widerstand des Feindes brechen könnte. Noch ertrugen die Massen den Zustand mit Geduld, aber wie lange würde das noch so weiter gehen? Gerüchte, die Böses verhießen, fingen an, herumzuschwirren – eines Tages verlautete, daß einer der Führer, der die Einsammlungen unter sich gehabt hatte, mit der Kasse durchgebrannt sei; ein anderes Gerücht besagte, daß das ganze Arbeiterheer jetzt den Gegnern verkauft wäre. Da mußte etwas geschehen! Aber was?
Eines Mittags kam er nach Hause, um sich, ehe er zu einer Versammlung ging, nach den Seinen umzusehen. Die Kinder waren allein daheim. »Wo ist Mutter?« fragte er und nahm Klein-Lasse aufs Knie; Schwester saß aufrecht in der Wiege und spielte.
»Mutter sich fein gemacht und in die Stadt gegangen ist«, erwiderte der Junge. »Mutter so fein!«
»So? War sie so fein?« Pelle ging in die Schlafstube und sah im Kleiderschrank nach. Das Hochzeitskleid war nicht da.
»Das ist doch sonderbar«, dachte er und fing wieder an, mit den Kindern zu spielen. Schwester streckte die Ärmchen nach ihm aus. Er mußte sie aufnehmen und saß nun da mit einem Kinde auf jedem Knie. Die Kleine pickte fortwährend nach seiner Oberlippe, als wollte sie etwas sagen. »Ja, Vaters Schurrbart ist abgefallen, Schester!« sagte Klein-Lasse erklärend.
»Ja, der ist weggeflogen«, sagte Pelle. »Da kam ein Wind und hui – weg war er!« Er sah in den Spiegel mit einer kleinen Grimasse – der Bart war sein Stolz gewesen! Dann lachte er den Kindern zu.
Ellen kam nach Hause, atemlos, als sei sie gelaufen; eine zarte Röte lag auf ihrem Antlitz und Hals. Mit dem Mantel ging sie ins Schlafzimmer hinein. Pelle kam ihr nach. »Du hast ja dein Hochzeitskleid an«, sagte er verwundert.
»Ja, ich wollte gern etwas daran ändern lassen und war bei der Schneiderin, damit sie mich mit dem Kleid sehen sollte. Aber geh jetzt hinein, ich komme gleich, ich will mir nur ein anderes Kleid anziehen.«
Pelle wollte bleiben, aber sie schob ihn nach der Tür. »Geh jetzt hinein«, sagte sie und bedeckte ihren Busen mit dem Kleid. Die zarte Röte war ganz über den Busen ausgebreitet – sie konnte so schön sein in ihrer Scham.
Nach einer Weile kam sie herein und legte ein paar Zehnkronenscheine vor ihn auf den Tisch.
»Was ist denn das wieder?« rief er aus, halb bestürzt über all das Geld.
»Ja, ist es nicht ein merkwürdiges Glück, das ich habe? – Ich habe wieder auf mein Los gewonnen! Hast du nicht eine tüchtige Frau?« sie stand hinter ihm, den Arm auf seinem Rücken.
Pelle saß eine Weile vornübergebeugt da, als habe er einen Schlag auf den Kopf bekommen. Dann schob er ihren Arm beiseite und wandte sich um. »Du hast schon wieder gewonnen, sagst du? – Zweimal? – In derselben Serie?« Er sprach langsam, eintönig, als müsse er sich jedes Wort einprägen.
»Ja, findest du nicht, daß ich sehr tüchtig bin?« Sie sah ihn unsicher an und versuchte zu lächeln.
»Aber das kann man ja gar nicht!« sagte er schleppend – »das kann man ja gar nicht!« Plötzlich sprang er auf und packte sie am Halse. »Das sind Lügen! – Du lügst!« rief er rasend. »Willst du wohl heraus mit der Wahrheit? – Willst du wohl heraus damit!« Er preßte sie von hinten auf den Tisch nieder, als wollte er sie morden. Klein-Lasse schrie.
Sie starrte ihn an mit einem verwunderten Blick, in dem sich die Angst mehr und mehr zusammenzog. Da ließ er sie los und wandte das Gesicht ab, um die vom Tode gezeichneten Augen nicht zu sehen; aber sie richtete sich nicht auf, sondern starrte ihn nur unaufhaltsam an wie ein Tier, das geschlachtet werden soll und nichts versteht. Pelle hob sie auf; dann ging er still hin und machte sich mit dem Jungen zu schaffen, um ihn zu beruhigen. Er hatte ein ekelhaftes Gefühl in seinen Händen, ungefähr wie einmal in seiner Knabenzeit, als er einen jungen Vogel erdrosselt hatte. Sonst fühlte er nichts, alles war nur so ekelhaft. Es waren die Verhältnisse, und nun wollte er gehen.
Es fiel ihm auf, während er seine Sachen zusammenpackte, daß sie am Tische stand und leise weinte. Er hörte es plötzlich, aber ohne daß es ihn etwas anging. Als er fertig war und die Kinder geküßt hatte, ging ein Zucken durch ihren Körper; sie trat ihm in den Weg auf ihre alte energische Weise.
»Geh nicht von mir – du darfst nicht gehen!« sagte sie schluchzend. »Ach – ich wollte ja nur euer Bestes, und du sorgtest ja für nichts! Nein, es ist kein Vorwurf! – aber das tägliche Brot, Pelle! Die Kinder und du selbst! Ich konnte es nicht mehr mitansehen, daß ihr alles entbehren mußtet – hauptsächlich du – Pelle! So lieb wie ich dich habe! – Aus Liebe zu dir – hauptsächlich aus Liebe zu dir!«
Es klang wie Gesang in seinen Ohren, wie ein wunderlich ferner Gesang; die Worte hörte er nicht. Er schob sie sanft zur Seite, küßte den Jungen noch einmal und streichelte ihn. Ellen stand wie tot da und starrte seine Bewegungen an, mit verwirrt aufgerissenen Augen. Als er auf die Tür zuging, sank sie zusammen.
Pelle hatte seine Habseligkeiten unten bei der Rollfrau eingestellt und ging mechanisch der Stadt zu; kein Echo, kein Laut war um ihn her. Er ging und schlief. Die Füße trugen ihn nach dem Volkshause und die Treppe hinauf bis an das Zimmer, von wo aus der Kampf geleitet wurde. Er nahm seinen Platz zwischen den anderen ein, ohne es zu wissen, und saß da und starrte auf die grüne Tischdecke nieder.
Die Stimmung trug das Gepräge von Mißmut. Man hatte schon lange auf den Boden der Kassen sehen können, und die Selbstbesteuerung ergab immer weniger, je mehr allmählich auf die Straße gesetzt wurden. Die Opferwilligkeit von draußen her fing auch an stark zu erschlaffen. Die Öffentlichkeit hatte die Sache jetzt satt. Alles welkte hin, jetzt mußte man sehen, daß man einen Vergleich schloß! An die fünfzigtausend Mann gingen jetzt müßig, die Hungersnot fing an, ihren grinsenden Kopf hervorzustecken. Der Augenblick rückte heran, mit dem das Kapital rechnete, der Augenblick, wo das Weinen der Kinder um Brot zersetzend auf den Willen der Arbeiter wirken und sie veranlassen mußte, Ehre und Selbständigkeit zu opfern, um den Hunger der kleinen Wesen zu stillen. Und beim Feind war kein Zeichen von Friedenswünschen zu spüren!
Das drückte allen Mitgliedern des Kampfrates seinen Stempel auf, während sie hier saßen und das Wohl und Wehe von Hunderttausenden schwer über sich hängen fühlten. Niemand wagte, durch einen kräftigen Vorschlag nach der einen oder anderen Seite hin die nackte Verantwortung auf sich zu nehmen. Den Fall gesetzt, man müßte jetzt in ein oder zwei Wochen den Kampf aufgeben! Dann hatten ungefähr eine Viertelmillion Wesen ohne Nutzen Qualen gelitten. Eine ungeheure Abgestumpftheit würde die Folge davon und von der Niederlage selbst werden – die sie viele Jahre zurückbringen würde. Aber wenn die Arbeitgeber nicht so lange dem Druck widerstehen konnten, den die Finanzwelt auf sie auszuüben begann – dann war der Sieg verloren, wenn man den Kampf jetzt aufgab.
Hier war alle kluge Berechnung zu klein! Das große blinde Schicksal herrschte hier. Wer konnte wohl sagen, daß er den Schleier der Zukunft gelüftet hatte und den Weg zeigen konnte? Niemand! Und Pelle, der helle Brand, der so rücksichtslos den Weg vorwärts wies, saß und schlief, als ginge ihn das Ganze nichts mehr an. Er war offenbar unter der ungeheuren Arbeit zusammengebrochen!
Der Sekretär kam herein mit einer rot unterstrichenen Zeitung und reichte sie dem Vorsitzenden; der starrte ein wenig auf das unterstrichene Stück, dann erhob er sich und las es vor; das Blatt tanzte in seinen Händen:
»Zirka dreißig Arbeitergattinnen – junge und schöne – können während der Aussperrung zu verschiedenen Junggesellen ins Haus kommen. Gute Behandlung wird garantiert. Die Redaktion des Blattes gibt Anweisung.«
Pelle sprang aus seinem Halbschlaf auf, sein ganzes entsetzliches Unglück stand plötzlich blendend klar vor ihm. »Ja, so muß es sein!« rief er. »Jetzt hat das Kapital die Finger nach unseren Frauen ausgestreckt – jetzt sollen sie zu Dirnen gemacht werden! Jetzt müssen wir drauflos schlagen, schlagen! Einen letzten Schlag müssen wir schlagen – und der soll hart sein!«
»Aber wie?« fragten sie.
Pelle war weiß geworden vor erkämpfter Ruhe. So leuchtend klar war sein Verstand noch niemals gewesen. Jetzt sollte Ellen an denen gerächt werden, die alles nahmen, selbst das einzige Lamm des armen Mannes!
»Zu allererst müssen wir einen optimistischen Bericht ausgeben – noch heute!« sagte er lächelnd. »Die Kasse ist beinahe leer, gut, dann teilen wir mit, daß die Arbeiter hinreichend Mittel haben, um den Kampf, wenn es sein soll, noch ein Jahr fortsetzen zu können. Und dann schlagen wir los!«
Eine alte vergessene Phantasie war als fester Plan in ihm aufgeschossen – vom Zorn geboren, hatte sie das Licht der Welt erblickt.
»Wir haben bisher passiv gekämpft,« fuhr er fort – »mit Geduld als Hauptwaffe! Wir haben unsere Lebensbedürfnisse dem Luxus der anderen entgegengestellt; wenn sie uns am Leibe trafen, uns mager hungerten und die letzten Habseligkeiten aus unseren Häusern zerstreuten – dann antworteten wir damit, indem wir die Arbeit, die zu ihrer Bequemlichkeit erforderlich ist, nicht verrichteten. Versuchen wir jetzt, ihre Lebensbedürfnisse auch einmal zu treffen; schlagen wir sie dort, wo sie uns gleich von Anfang an schlugen: in die Herzgrube! Dann werden sie vielleicht fügsam werden. Wir haben bisher die wichtigsten Arbeiter außerhalb des Kampfes gehalten, alle, von denen Gesundheit und Wohlfahrt abhängt, wir selbst haben gerade nichts Gutes davon gehabt. Warum sollen wir ihr Brot backen? Wir, die wir nicht die Mittel haben, es zu essen! Warum sollen wir ihre Reinlichkeit besorgen? Wir, die wir nicht die Mittel haben, reinlich zu sein! Lassen wir jetzt die Abfuhrleute und Straßenkehrer ins Feuer rücken! Und ist das nicht genug, so schließen wir ihnen Wasser und Gas ab. Wagen wir die letzten Überreste und schlagen wir den letzten Schlag!«
Pelles Vorschlag wurde angenommen, und er ging gleich hinaus, nach dem Westen zu dem Vorsitzenden des Vereins der Abfuhrleute. Der war gerade aufgestanden und saß bei seinem Mittagessen. Er war ein kleiner gemütlicher Mann, der immer einen Schelm im Auge hatte; er war aus der Köhler Gegend. Pelle hatte ihm seinerzeit geholfen, die Organisation in Gang zu setzen, und wußte, daß er mit ihm und seinen Leuten rechnen konnte.
»Weißt du wohl noch, daß ich euch einmal gezeigt habe, daß ihr die wichtigsten Arbeiter in der Stadt seid – Lars Hansen?« fragte er.
Der Vorsitzende nickte. »Ja, man müßte ja ein reines Rindvieh sein, wenn man das vergessen könnte! Nie, solange ich lebe, werde ich die Wirkung vergessen, die deine Worte auf uns verachtete Abfuhrleute gehabt haben! Du warst es ja, der uns den Glauben an uns selbst schenkte und uns eine Organisation gab! Und selbst wenn wir nicht gerade die allerwichtigsten Arbeiter sind, so …«
»Aber, das seid ihr ja gerade – und jetzt ist die Reihe an euch, das zu zeigen! Könnt ihr noch diese Nacht die Arbeit einstellen?«
Lars Hansen saß da und starrte grübelnd in die Lampe hinein, während er kaute. »Wir stehen ja in einer Art kontraktlichem Verhältnis zu der Stadt«, sagte er endlich langsam. »Sie können uns dafür strafen und uns zwingen, die Arbeit wieder aufzunehmen. – Aber wenn du es durchaus willst, so tun wir es natürlich. Darüber herrscht nur eine Ansicht unter den Kameraden! Was du dann dadurch erreichst, mußt du ja selbst am besten wissen.«
»Danke!« sagte Pelle und reichte ihm die Hand. »Das ist also abgemacht – es fährt kein Wagen mehr aus. Die Straßenkehrer müssen wir auch zur Arbeitseinstellung bringen!«
»Dann schieben die Fuhrleute andere Arbeiter ein, zu der Arbeit finden sich genug Hände.«
»Das werden sie nicht tun, denn dann legen wir ihnen das Handwerk!«
»Ja, das läßt sich hören! – Es wird übrigens eine eklige Sache für die Feinen werden! Den armen Leuten kann es ja einerlei sein, denn die haben ja nichts zu essen. – Aber wenn nu das Militär dazu abkommandiert wird! Reingemacht muß ja werden, wenn die Stadt nich' verpestet werden soll.«
Es blitzte in Pelles Antlitz auf: »Hör mal, Kamerad! Wenn ihr nun die Arbeit niederlegt, so liefert ihr ja sofort alle Schlüssel ab, damit die Obrigkeit euch nicht fassen kann. Steckt die dann alle in Säcke und schüttelt sie gut durcheinander.«
Lars Hansen brach in ein schallendes Gelächter aus. »Das wird ja eine verteufelte Komödie!« stöhnte er und schlug sich auf die Schenkel. »Dann müssen sie zu uns kommen, denn kein anderer kann die Geschichte so schnell auseinanderfinden! Ich will die Schlüssel selbst hinfahren und mich da oben noch so unschuldig anstelle«!«
Pelle dankte ihm noch einmal. »Ihr rettet das Ganze«, sagte er still. »Es ist das Brot und das Zukunftsglück von vielen Tausenden, das ihr jetzt in euren Händen haltet!« Er lächelte hell und verabschiedete sich. Sobald er allein war, erblaßte sein Lächeln und machte einem Ausdruck von Todmüdigkeit Platz.
Pelle ging auf den Straßen umher, hierhin und dorthin schlendernd. Jetzt war alles geordnet. Es gab nichts mehr, wofür man sich ins Zeug legen mußte. Inwendig in ihm war alles zusammengebrochen, da waren nicht einmal mehr Kräfte zu einem Beschluß, was er mit sich selbst anfangen sollte. Er ging und ging, kam in die Hauptstraße und bog wieder in die Seitenstraßen ein. In einem Materialladen stand Karl lächelnd und adrett hinter dem Ladentisch und expedierte einige Kunden. »Du solltest eigentlich hineingehen und dich erkundigen, wie es ihm geht«, dachte er, schlenderte aber weiter. Auf einmal blieb er vor einer Mietkaserne stehen und sah unwillkürlich auf. Hier hatte er ja gerade ausgerichtet, was er wollte – hier wohnte ja der Vorsitzende der Abfuhrleute. Nein, jetzt war die Tagesarbeit getan, nun wollte er nach Hause zu Ellen und den Kindern!
Nach Hause? Er hatte ja keine Häuslichkeit mehr, er war verlassen und einsam! Und doch ging er hinüber nach Norden; welchen Weg er eingeschlagen hatte, wußte er nicht, aber er fand sich selbst vor der Tür stehen und auf den kleinen verrosteten Briefkasten starren. Da drinnen ertönten jammernde Laute, er hörte Ellen dort hin und her gehen; sie bereitete alles für die Nacht vor. Dann ging er hinab, eilte fort und atmete erst wieder auf, als er um die Straßenecke gebogen war.
Er bog wieder und wieder um, von einer Seitenstraße in die andere hinein. Drinnen in seinem Kopf ging es wunderlich um; bei jedem Schritt knickte es ein. Plötzlich war es ihm, als ertönten bekannte, hastige Schritte hinter ihm – Ellen. Er wandte sich um; da war niemand. Nun, dann war es also eine Einbildung! Aber die Schritte waren wieder da, sobald er ging. Es war etwas in diesen Schritten, als wollten sie ihm etwas sagen, einen Willen, als wollten sie ihn an sich heranziehen, spürte er deutlich in ihnen. Er blieb mit einem Ruck stehen – da war niemand, und es kam auch niemand aus der Dunkelheit der Seitenstraße.
Lag denn dieses sonderbare Gehen nicht in ihm selber? Pelle fühlte das Unbegreifliche und bekam Herzklopfen, die entsetzliche Müdigkeit machte ihn wehrlos. Und Ellen – was hatte sie nur? Dies vorwurfsvolle Jammern, das in seinen Ohren klang! Verstehen – was sollte er nur verstehen? Sie hatte es aus Liebe getan, sagte sie. Ach was – weg damit! Er war zu müde, um ihr Vergehen auch noch zu verteidigen.
Aber was war das nur für ein Wandern? Nun fielen die Schritte mit den seinen zusammen, sie hatten einen doppelten Laut. Und wenn er dachte, sprach ein anderes Wesen mit darein – aus der innersten Tiefe. Es lag dasselbe Hartnäckige darüber wie über Mortens Einfluß; eine Ansicht, die sich überall Bahn brach, selbst wenn sie zum Schweigen gebracht wurde. Was wollte dies alles von ihm – hatte er nicht treu genug gearbeitet? War er nicht Pelle, der den großen Kampf durchgeführt hatte, zu dem alle aufsahen? Aber es lag keine Freude darin, der Takt von den Schritten der fünfzigtausend Kameraden hallte nicht in seinen Schritten wider. Man hatte ihn im Stich gelassen, hatte ihn allein gelassen mit diesem verdammten Etwas hier in den öden Straßen – die Einsamkeit lag über ihm! Du bist wohl vor dir selbst bange geworden, dachte er mit einem bitteren Lächeln.
Aber Pelle wollte nicht allein sein und lauschte stark um sich. Alles, was er besessen hatte, war dahin, der Kampf hatte es verschlungen. Da war doch eine Gemeinschaft – so trübselig sie auch war – zwischen ihm und dem Elend um ihn her. Was hatte er sich da zu beklagen?
Entsetzlich lag die Stadt der Armen um ihn herum, verheert vom Kampf der Arbeitslosigkeit, durch Weinen und Nachtkälte und Not! Drinnen aus den Hinterhöfen drang das Weinen der Kinder – sie weinten um Brot, das wußte er; betrunkene Männer schwankten um die Ecken, und in den Hinterstuben und auf den Höfen ertönte das Schreien von Frauen. Ach, dies war ja die Hölle! Gottlob! daß der Sieg nahe war.
Irgendwo hörte er deutliche Stimmen: Kinder, die weinten, und eine Frau, die im Zimmer hin und her ging, sie beschwichtigend und das Kleinste, das sie wohl auf dem Arme hatte, in den Schlaf lullend. Es klang so deutlich zu ihm herab, er sah hinauf. Da waren keine Fenster in der Wohnung. »Die sollen wohl durch Zug hinausgetrieben werden«, dachte er empört und lief die Treppe hinauf; er war gewöhnt, für die Unglücklichen einzuspringen.
In der Wohnung ging eine Frau mit einem kleinen Kinde auf dem Arm auf und nieder. Der Lichtschein aus der Stadt beleuchtete sie halb; den Rock hatte sie über den Kopf geschlagen, um auch das Kind zu bedecken, unten war sie nackend. Da war keine Spur von Hausrat. Die Kinder lagen in einer Ecke, mit den Überresten ihrer Kleider zugedeckt.
»Der Wirt hat Türen und Fenster herausgenommen; er wollte uns auf die Straße setzen, aber wir gehen nicht, denn wo sollen wir wohl hin? Da will er uns durch Zug vertreiben – so wie die Wanzen! Meinen Mann haben sie in den Tod gejagt …«
Plötzlich erkannte sie Pelle. »Ach, du bist es, du verfluchter Teufel!« schrie sie. »Du selbst hast ja damit angefangen, ihn zu hetzen! Weißt du wohl noch, wie er aus der Flasche trank? – Früher hatte er sich immer so ordentlich gehalten. Du hast ja auch gesehen, daß wir aus der St. Hans-Straße herausgeschmissen wurden – die Bewohner verdrängten uns – hast du das nicht gesehen? Ach, ihr Henkersknechte! Überall habt ihr ihn verfolgt, ihn wie ein Tier gehetzt, auf ihn gestichelt und ihn zu Tode gequält! Wenn er in eine Wirtschaft hinunterging, dann standen die anderen sofort auf, und der Wirt mußte ihn bitten, zu verschwinden. Aber er hatte mehr Ehrgefühl als ihr! – Ich bin mit Pest behaftet! – sagte er, und eines Morgens hatte er sich aufgehängt. – Ach, wenn ich doch den lieben Gott bitten könnte, daß er dich treffen möchte!« Sie hatte keine Tränen, ihre Stimme war trocken und heiser.
»Das brauchst du nicht mehr zu tun,« sagte Pelle bitter, »er hat mich getroffen! Aber deinem Mann habe ich nichts Böses gewollt; die beiden Male, wo ich ihn traf, wollte ich ihm helfen. Wir müssen ja zum Besten aller leiden – und mein eigenes Glück ist auch in Scherben gegangen.« Er brach plötzlich in linderndes Weinen aus.
»Das sollten sie nur sehen – die Arbeiter, daß Pelle weint; dann würden sie wohl nicht Hurra rufen, wenn er kommt!« rief sie höhnisch aus.
»Ich habe noch zehn Kronen, willst du sie haben?« sagte Pelle und reichte ihr das Geld.
Sie nahm es zögernd.
»Das solltest du wohl für Frau und Kinder gebrauchen – das ist ja deine Unterstützung aus der Kasse!«
»Ich habe keine Frau und Kinder mehr. Nimm es nur!«
»Großer Gott! Ist deine Häuslichkeit auch dabei draufgegangen! Konnte Pelle es nicht einmal zusammenhalten? Ja, ja, es ist ja nur natürlich, daß der, der sät, auch erntet!«
Pelle ging seiner Wege, ohne zu antworten. Das ungerechte Urteil dieser Frau betrübte ihn mehr, als ihn der Beifall der Tausende erfreut hatte. Aber es rüttelte ihn auch zu starkem Protest auf. Da, wo sie schlug, konnte er nicht getroffen werden; er hatte nicht seine eigenen kleinen Angelegenheiten gepflegt, sondern ehrlich und redlich der großen Sache gedient und sie zum Siege geführt. Die Gefallenen und Verwundeten hatten kein Recht, ihn anzuklagen. Er hatte mehr verloren als irgendein anderer – alles hatte er verloren!
Mit kummerbelastetem Gemüt, aber wunderbar ruhig, ging er nach Norden und mietete sich in einem billigen Logierhaus ein.