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XXXVI

Sonnabend mittag hieß es, daß der Friedensschluß endlich unterzeichnet sei, die große Arbeitsstockung war vorüber. Mit unglaublicher Hast verbreitete sich das Gerücht in der Hauptstadt, überall drang es ein. »Haben Sie es schon gehört? Haben Sie es schon gehört? Jetzt ist Friede geschlossen!« Die Armen hatten wieder so viel bei sich zu tun; sie blieben nicht länger zusammengerollt liegen, sondern kamen ans Tageslicht – Sonnenschein war in den dünnen Gesichtern. Die Frauen holten die Körbe heraus und schickten die Kinder fort, um einige Einkäufe für den Sonntag zu machen – jetzt konnten die Krämer doch wohl ein wenig Kredit geben! Man lachte und plauderte drauflos und ließ sich einen Vorschuß auf das Glück geben. Der Sommer war schon da, da lag Arbeit in ungeheuren Haufen und wartete – und nun wollten sie ernstlich zugreifen! Von einer Küchentür zur anderen wurde die Neuigkeit gerufen, sie schmissen alles hin, was sie in der Hand hatten, und rannten weiter damit. Niemandem fiel es ein, stehenzubleiben und zu zweifeln; sie wollten so gern daran glauben.

Späterhin am Nachmittag kam ein Flugblatt des »Arbeiters« und bestätigte das Gerücht. Ja, diesmal war es wirklich wahr. Ein Sieg war es obendrein: das Koalitionsrecht war behauptet, und das Kapital hatte Respekt vor den Arbeitern als einem Faktor bekommen, man konnte sich nicht länger um sie herumdrücken! Im übrigen war der Status quo bewahrt.

»Denk doch nur, daß sie obendrein Respekt vor uns gekriegt haben – und dem Status quo haben sie nichts anhaben können!« Dann lachten sie über das ganze Gesicht vor Freude, daß er auch bewahrt war, obwohl ihn niemand kannte.

Die Männer waren auf der Straße. Sie zogen in Scharen jeder zu seiner Organisation, um die Parole einzuholen und über die Einzelheiten des Sieges Gewißheit zu bekommen. Man konnte ihnen kaum ansehen, daß der Sieg gewonnen war; sie hatten sich in all das schwer hineingewöhnt, und nun war es schwer, es wieder abzuschütteln.

Auf Höfen und Treppen ertönte leichtes Gezwitscher. Die Arbeit sollte wieder in Gang gesetzt werden – die schöne, prächtige Arbeit, die Essen und Trinken und ein wenig Kleider für den Leib gab. Ja, und Hausfrieden! Nun sollte man sich nicht länger über einer leeren Krippe beißen; nun konnte man wieder mit etwas um sich werfen – und es recken und strecken und es mit Mühseligkeiten und Tränen dahin bringen, daß es langte. Vater sollte heute abend ein Stück Butterbrot mit feinem Belag haben, und vielleicht konnte man schon morgen mit dem Proviantkorb in den Wald ziehen! – Ja, ja, auf alle Fälle doch, sobald man den Staat wieder aus dem Pfandhause eingelöst hatte! Denn ein wenig ausgelüftet werden mußte er ja, ehe der Winter kam und man ihn wieder verpfänden mußte. – Sie waren so entzückt über den Frieden selbst, daß sie gar nicht daran dachten, für den Augenblick etwas Neues zu fordern.

Pelle hatte an den abschließenden Verhandlungen teilgenommen; nach Vater Lasses Begräbnis war er wieder er selbst. Gegen Abend trieb er sich in den Armenvierteln der Stadt umher und freute sich über die Stimmung; zu stark hatte er den bitteren Kampf der Armen miterlebt, er hatte das Bedürfnis, auch ihre Freude mitzuerleben. Von Norden ging er an den Seen entlang nach Westen, überall waren Unmengen von Menschen auf den Beinen. In den Seitenstraßen im Westen waren die Familien aus den Wohnungen ausgerückt und hatten sich auf Treppen und Bürgersteigen niedergelassen; sie saßen barhäuptig in der Dämmerung, plauderten, rauchten und genossen irgend etwas. Es war der erste warme Abend, der Himmel hatte einen tiefblauen Ton, und vom Ende der Straße stieg die Finsternis purpurgesättigt auf. Es lag etwas Ausgelassenes über ihnen allen; die Freude führte ihre Bewegungen über die täglichen engen Grenzen hinaus und machte sie schwanken wie in einem leichten Rausch.

Jetzt konnten sie alle wieder zum Vorschein kommen, all die Familien, die sich während der Not verborgen gehalten hatten; die Lumpen waren dieselben, aber jetzt tat das nichts. Sie strahlten vor Stolz darüber, daß sie den Kampf bestanden halten, ohne sich an irgend jemand zu wenden; die Kämpfe, die sie in der Finsternis bestanden hatten, waren vergessen.

Pelle war auf das offene Terrain am Gaswerkhafen hinuntergekommen, er wollte hinüber und sich nach seinen alten Freunden in der »Arche« umsehen. Da drüben lag sie und ragte an dem tiefen östlichen Nachthimmel auf wie eine glühende Masse – die Röte des Sonnenuntergangs fiel darauf, über dem Krater ganz oben brütete der Dunstkreis wie eine Schattierung am Nachthimmel. Er starrte während seiner Wanderung auf diesen Streifen; das war die dicke Ausatmung aller der Wesen da unten im Innern der Masse, der Qualm von ungesunden Stoffen und schlechter Verbrennung. Jetzt mußte der Sieg unter anderem ausgenutzt werden, um in den Höhlen der Armut gründlich aufzuräumen. Ihm schwebte ein Traum vor von kleinen freundlichen Arbeiterwohnungen, eine jede mit ihrem kleinen Garten mit geharkten Gängen. Das verlohnte sich dann doch, nach Hause zu kommen, wenn man müde war von der Arbeit des Tages!

Es schien ihm, als werde die Rauchscholle da oben dicker und dicker. Ob wohl das, was seine Gedanken beschäftigte, seine Augen übertreiben ließ? Er stand still und starrte – dann fing er an zu rennen. Ein roter Schein schlug unter der Dunstschicht auf, betastete sie einen Augenblick und verschwand; eine neue Rauchmasse entrollte sich und blieb schwer da oben hängen.

Pelle stürzte davon, über die Stapelplätze nach der langen Brücke hin. Er kannte die fürchterliche Masse der »Arche« nur zu gut, es gab keinen anderen Eingang als den Tonnengang! Und das Holzwerk, das den einzigen Zutritt zu den oberen Etagen bildete! – Und die langen Gänge! Während er lief, sah er das Ganze klar vor Augen, und das Gehirn arbeitete, um Auswege zu finden. Die Feuerwehr war natürlich gleich alarmiert, aber es verging Zeit, bis sie heranrückte, und hier drehte sich alles um Minuten! Wenn das Holzwerk niederfiel und den Tonnengang versperrte, waren alle Bewohner verloren; und die »Arche« besaß ja nicht einmal eine Brandleiter!

Draußen vor der »Arche« stand ein ratloser Menschenhaufe und schrie durcheinander. »Da kommt Pelle!« sagte einer. Sofort verstummten alle und wandten die Gesichter ihm zu. »Holt die Brandleiter aus dem Zuchthaus!« sagte er im Vorüberlaufen zu ein paar Männern und rannte dem Tonnengang zu.

Aus den langen Gängen im Erdgeschoß kamen die Bewohner mit ihren kleinen Kindern im Arm herausgestürzt; einige schleppten wertlose Habseligkeiten – das erste beste, was sie zu fassen bekommen halten. Alles, was nach der Verwüstung des großen Winters noch an Holzwerk übrig war, stand in hellen Flammen. Pelle versuchte die brennende Treppe hinaufzulaufen, trat aber durch. Die Bewohner hingen halb aus den Fenstern hinaus und starrten mit wahnsinnigen Augen hinab; jeden Augenblick rannten sie auf die Plattform hinaus, um hinunter zu gelangen, flohen aber schreiend wieder hinein.

An dem Fenster des dritten Stockwerks stand die Witwe Johnsen und jammerte, ihre Enkelin und den kleinen Paul der Fabrikarbeiterin im Arm. Hannes kleines Mädchen starrte schweigend hinaus, mit den tiefen, verwunderten Augen der Mutter. »Seid nur nicht bange,« rief Pelle der Alten zu – »nun kommen wir und helfen euch!« Als der kleine Paul Pelle sah, riß er sich von Madam Johnsen los und lief auf die Galerie. Er sprang gerade herunter, lag einen Augenblick da und wälzte sich ganz verstört auf dem Pflaster, und dann lief er wie ein Blitz an Pelle vorüber auf die Straße hinaus.

Pelle schickte einige von den Männern in den langen Gang hinein, um nachzusehen, ob alle herausgekommen waren. »Schlagt die abgeschlossenen Türen ein,« sagte er – »möglicherweise sind noch kleine Kinder oder Kranke darin.« Die Bewohner vom ersten und zweiten Stockwerk hatten sich gerettet, ehe das Feuer das Holzwerk noch ergriffen hatte.

Pelle lief selbst erst die Haupttreppe hinauf auf den Boden und unter das Dach, um den Bewohnern des Hinterhauses über den Boden zu Hilfe zu kommen. Aber da oben kamen ihm die Bewohner aus dem langen Dachgang entgegen. »Du kommst nicht mehr durch,« sagte der alte Lumpensammler, »Pichelmeiers ganze Mansarde brennt. Und hier oben bei uns sind nicht mehr. Gott im Himmel nehme die Armen da drüben gnädig auf!«

Pelle versuchte trotzdem, sich einen Weg über die Böden zu bahnen, mußte aber umkehren.

Die Männer waren mit der Brandleiter gekommen und hatten sie in den schweren Gang hineinpraktiziert und sie aufgerichtet. Das Holzwerk fing an, herunterzufallen, da lagen brennende Balkenstücke rings umher, und jeden Augenblick konnte das Ganze zusammenkrachen. Aber da war keine Zeit, sich lange zu besinnen, aus Vinzlevs Gang quoll der Rauch heraus und füllte den Hof. Man mußte sich beeilen.

»Der Verrückte hat das Feuer natürlich angesteckt«, sagten die Männer, indem sie die Leiter hielten.

Sie reichte nur bis an das zweite Stockwerk, aber er warf Madam Johnsen einen Strick hinauf, und die befestigte ihn am Fensterpfosten, so daß er hinaufklettern konnte. Mit dem Strick ließ er dann erst das Kind, darauf die Alte zu den Kameraden hinunter, die oben auf der Leiter standen und sie in Empfang nahmen. Der Rauch brannte ihm in den Augen und im Hals und hätte ihn fast erstickt; er konnte nichts sehen, ringsumher hörte er entsetzliches Schreien.

Gerade über ihm jammerte eine Frau. »Ach, Pelle, hilf mir!« winselte sie halb erstickt. Das war die verschämte Näherin, die hierher gezogen war; er erkannte ihre warme Stimme wieder. »Sie liebt mich ja!« durchzuckte es ihn licht.

»Fang den Strick und befestige ihn gut am Fensterpfosten, dann komme ich herauf und helfe dir«, sagte er und schleuderte das Ende des Strickes in das vierte Stockwerk hinauf. Aber im selben Augenblick ertönte ein wilder Schrei. Ein dunkler Körper flog über seinem Kopf weg und klatschte mit einem toten Laut auf das Pflaster. Die Flammen schlugen fauchend da oben zum Fenster heraus, als wollten sie nach ihr greifen – und zogen sich dann wieder zurück.

Einen Augenblick hing er betäubt über dem Fensterbrett; dies hier war etwas so Schweres, hörte er nicht ihre sanfte Singstimme wieder in sich ertönen? Dann stürzte das Holzwerk mit einem langen Krachen ein, eine Wolke von heißer Asche stieg auf und legte sich wie Feuer auf die Lungen. »Mach, daß du 'runterkommst!« riefen die Kameraden, »jetzt brennt die Leiter!«

Ein langes ohrenbetäubendes Geläute verkündete, daß die Feuerwehr im Herannahen war.

Aber Pelles Ohren hatten einen schwachen, verschwindenden Laut mitten in dem Lärm aufgefangen. Mit einem Sprung war er in Madam Johnsens Stube und stand da und lauschte; da drang Kinderweinen herein von der anderen Seite der Wand, wo die Zimmer an dem inneren Gang lagen. Das war entsetzlich anzuhören, und hier stand er und konnte nichts ausrichten, eine Mauer lag dazwischen und es war kein Durchgang nach dieser Seite. Sie riefen unten vom Hof seinen Namen. Ja, zum Teufel auch, er würde schon kommen, wenn er wollte. Er stand hier und wurde in dumpfer Hartnäckigkeit festgehalten durch diese klagende Kinderstimme; eine blinde Wut stieg in ihm auf, ingrimmig stieß er die Schulter gegen die verfluchte Wand, um sich einen Schmerz zu bereiten. Ach, sie gab nach! Noch einmal stieß er mit einer fürchterlichen Kraft dagegen, und ein Stück der Scheidewand fiel ein.

Erstickende Hitze und Rauch schlugen ihm entgegen, er mußte den Atem anhalten und das Gesicht mit den Händen bedecken, während er vordrang. Da lag ein kleines Kind in einer Wiege, er strauchelte darüber und tastete sich nach der Mauer zurück. Das Feuer, das jetzt Lust bekommen hatte, schlug plötzlich mit einem Knall, der ihn in die Knie zwang, um ihn auf. Er hatte ein Gefühl, als wenn ein durstiges Vieh ihm die Wange leckte. Hinter ihm, drinnen auf den Fersen, bullerte es wie ein Gewitter, schwieg aber, als er die Tür einhieb. Halb erstickt fand er den Weg zum Fenster und wollte hinunterrufen, hatte aber keine Stimme mehr; es ward nur ein heiseres Flüstern.

Ja, nun stand er hier mit einem Kind im Arm und sollte sterben! Aber das machte nichts; er war ja durch die Wand gekommen. Hinter ihm rückte das Feuer vor; es hatte sich ein kleines Loch durch die Tür genagt und schuf sich selbst den nötigen Zug. Das Loch erweiterte sich, Funken stoben wie unter einem Blasebalg, und der Brand blies trockne, zündende Hitze durch die Öffnung hinein. Kleine, fast unsichtbare Flammen hüpften auf den glatten Flächen dahin, binnen kurzem mußte das Ganze in hellen Flammen stehen. Seine Kleider rochen sengig, die Hände waren so sonderbar trocken, wie morsches Holz, und es war ihm, als wenn sich ihm das Haar im Nacken locke. Und da unten riefen sie seinen Namen! Aber das machte alles nichts; sein Kopf war nur so schwer von dem Rauch und der Hitze. Er hatte ein Gefühl, als sei er im Begriff umzufallen. Ob das Kind wohl noch lebte? dachte er, wagte aber nicht, nachzusehen; er hatte ihm seine Jacke über das Gesicht gebreitet, um es zu beschützen.

Er klammerte sich an den Fensterpfosten und rettete seine sterbenden Gedanken zu Ellen und den Kindern hinüber. Warum war er nicht bei den dreien? Was für ein Unsinn war es nur gewesen, der ihn dazu gebracht hatte, sie zu verlassen? Er konnte sich nicht mehr darauf besinnen und begriff sich selbst nicht; wenn es nun nicht mit ihm vorbei gewesen wäre, würde er nach Hause geeilt sein, um mit Klein-Lasse zu spielen. Aber nun mußte er sterben, in einem Augenblick würde er erstickt umfallen – noch ehe die Flammen ihn erreichten. Es lag eine kleine Befriedigung darin – als spiele er jemandem einen Streich.

Plötzlich schoß etwas vor seinem sterbenden Blick auf und rief ihn zurück. Das Ende einer Rettungsleiter war es, und ein Feuerwehrmann tauchte aus dem Rauch gerade vor seinem Gesicht auf, ergriff das Kind und reichte es hinunter. Pelle stand da und arbeitete mit der Vorstellung, daß er sich in Bewegung setzen müsse; aber ehe sie in sein Gehirn hinein- und wieder hinausgelangte, hatte ein Feuerwehrmann ihn am Nacken gepackt und rannte die Leiter mit ihm hinab.

Die frische Luft weckte ihn, er sprang von der Bahre auf, auf die ihn die Feuerwehrleute gelegt hatten, und sah sich empört um. Im selben Augenblick fingen die Leute ganz sinnlos an zu rufen und in die Hände zu klatschen, und Madam Johnsen drängte sich durch die Absperrung und stürzte auf ihn zu. »Pelle!« rief sie weinend – »ach, du lebst ja, Pelle!«

»Ja, natürlich lebe ich – aber das ist doch nicht zum Weinen!«

»Nein, aber wir glaubten ja, du wärest da drinnen geblieben. Wie siehst du nur aus, du armer Kerl!« Sie nahm ihn mit sich zu einer Arbeiterfamilie und war ihm behilflich, sich zurecht zu machen. Erst als er sich im Spiegel sah, begriff er das Ganze. Er war unkenntlich von Rauch und Asche, die hatte sich ihm in seine Haut hineingebrannt und war nicht wieder zu entfernen. Unter dem Schmutz auf der einen Wange war eine Brandwunde. Er ging zu dem Assistenten und ließ sich ein Pflaster auflegen.

»Ein Paar Augenbrauen hätten Sie auch nötig«, sagte der Assistent. »Sie sind wohl ordentlich im Feuer gewesen?«

»Warum hat es eigentlich so lange mit den Spritzen gedauert?« fragte Pelle.

»Lange gedauert? Die waren zehn Minuten, nachdem das Feuer gemeldet war, hier. Die Meldung bekamen wir um acht, und jetzt ist es halb neun.«

Pelle schwieg ganz verdutzt; er hatte ein Gefühl, als müsse die ganze Nacht vergangen sein, so viel war geschehen. Eine halbe Stunde – und in der Zeit hatte er sich daran beteiligt, einige Menschen dem Tode zu entreißen und hatte andere sich hineinstürzen sehen. Nun ja, und er selbst war versengt von der nahen Berührung mit dem Tode! Dies saß irgendwo in seinem Sinn wie eine scheue Tatsache; wenn er die Hand ballte, bildete die Haut Risse, und seine Kleider rochen wie verbranntes Horn. Drinnen im Hof arbeiteten die Feuerwehrleute rastlos. Einige gossen Wasser von der Spitze ihrer Leitern in das Flammenmeer hinein, andere drängten in die Häusermasse hinein und suchten die Wohnungen ab; von Zeit zu Zeit kam ein Feuerwehrmann mit einer verkohlten Leiche zum Vorschein. Dann wurden die Bewohner der »Arche« in die Absperrung hineingerufen, um die Leiche zu erkennen. Sie liefen weinend zwischen der Zuschauermenge herum und suchten einander; es war der Polizei nicht möglich, sie zusammenzuhalten und festzustellen, wie viele da drinnen geblieben waren.

Plötzlich richteten sich aller Augen auf das Dach des Vorderhauses, dessen das Feuer noch nicht so recht Herr geworden war. Dort oben stand der tolle Vinzlev und blies auf seiner Flöte; wenn die Funken des Feuers einen Augenblick gedämpft wurden, hörte man seine verrückte Musik. »Hört, hört! Er spielt den Marsch!« riefen sie. Ja, er blies den Marsch, aber in sein eigenes Hirngespinst hinein verwoben – ganz wahnsinnig klang die bekannte Melodie auf Vinzlevs Flöte.

Die Feuerwehrleute richteten eine Leiter auf und liefen auf das Dach hinauf, um ihn zu retten, aber er floh vor ihnen. Als er nicht mehr weiter konnte, stürzte er sich in das Flammenmeer.

Der Marktplatz und die Ufer der Kanäle waren mit Menschen angefüllt; Kopf an Kopf standen sie da und betrachteten den üppigen Brand der »Arche«. Schmutz und Armut und Dünste von Jahrhunderten gingen dort in Flammen auf. Wie es prasselte und knisterte und knackte! Die Menschenmenge war in bester Laune über den Sieg der Arbeit; über Nacht war man doch nicht zum Schlafen aufgelegt, und dies hier war ein Feuerwerk, das anhielt, eine großartige Illumination zu Ehren des Sieges der Armen. Man rief bewundert ah! zischte, um den Laut der Raketen nachzuahmen, und klatschte in die Hände, wenn die Flammen aufstiegen oder ein Dach zusammenstürzte.

Pelle ging in der Menge herum und sammelte die verwirrten Bewohner der »Arche« an der Tür des Zuchthauses, so daß, wer zusammengehörte, sich finden konnte. Sie weinten und waren gar nicht zu trösten. Ach, jetzt brannte die »Arche«, die liebe Zufluchtsstätte für so viel Verkommenheit. »Wie könnt ihr euch das wohl so zu Herzen nehmen«, sagte Pelle tröstend, »Über Nacht werdet ihr von der Stadt untergebracht, und nachher zieht ihr in ordentliche Wohnungen, wo alles neu und rein ist. Und um eure Habseligkeiten braucht ihr nicht zu weinen, ich will schon eine Sammlung in Gang bringen, und dann bekommt ihr bessere Sachen, als ihr gehabt habt.«

Aber sie weinten trotzdem, wie heimatlose Tiere jammerten sie und streiften unruhig suchend umher; nun brannte das Waldesdickicht, ihr herrlicher Versteck. Was ging die übrige Stadt sie an? Die war gar nicht da für sie; es war, als gäbe es keinen Zufluchtsort mehr für sie auf der Welt. Jeden Augenblick entfernten sich einige von ihnen und wollten wieder nach der Brandstätte hin – wie Pferde, die in den brennenden Stall zurück zu gelangen suchen. Pelle konnte sich seine Trostgründe sparen; sie waren ein Stamm für sich, eine andere Art Menschen. In dem düsteren, unergründlichen Bauch der »Arche« hatten sie sich eine Welt von Armut und von äußerstem Elend eingerichtet und sie in ihrer Sorglosigkeit so phantastisch bunt gestaltet wie den Reichtum und das Glück selber. Und nun brannte ihnen das Ganze ab!

Das Feuer war schonungslos, seinen reinigenden Flammen konnte nicht viel widerstehen. Die Flammen führten ganze Packen alter Tapeten hinaus und warfen sie halb verbrannt auf die Straßen. Da waren viele Schichten übereinandergekleistert, viele Farben und Muster schlugen halb durcheinander und wurden zu wunderlichen Phantasiebildern. Und auf der Rückseite dieser Packen saß eine Schicht wie von geronnenem Blut; das waren die verkohlten Reste von der geheimen Welt der Alkoven, die Feuertiere, die den Schlaf der Kinder mit Träumen erfüllten, und in ihren kleinen muschelförmigen Körpern den verzehrenden Duft von der Finsternis des armen Mannes umschlossen! – Und jetzt mußte die »Arche« bis auf den Grund durchglüht sein, denn die Ratten fingen an auszuwandern. Sie kamen in langen, sich windenden Reihen aus dem Tonnengang heraus und herauf aus den Kellern des Eisenhändlers und der Trödlerin, an der Spitze die alten räudigen Männchen, die mitten am Tage die Müllkasten heimzusuchen pflegten! Die Zuschauer jagten sie juchend wieder in das Feuer zurück.

Um zehn Uhr fiel die Feuersbrunst sichtlich, und die Aufräumungsarbeiten konnten beginnen. Die Volksmenge zerstreute sich, ein wenig enttäuscht, daß es so schnell vorüber war. Die »Arche« war ein Puffwerk! Es war auch nicht eine Stiege ehrliches Brennholz an dem ganzen Trödel dran gewesen.

Pelle nahm Madam Johnsen und ihre kleine Enkelin mit sich in sein Logis. Die Alte hatte die ganze Zeit gejammert; sie fürchtete sich, der öffentlichen Fürsorge übergeben zu werden. Als sie aber hörte, daß sie mit zu Pelle kommen sollte, beruhigte sie sich.

Auf dem Hojbroplatze begegneten sie dem ersten Abfuhrwagen, der ausfuhr. Er war mit grünen Girlanden und kleinen Dannebrogsflaggen geschmückt.


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