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Die Unruhe nahm ringsumher auf den Arbeitsplätzen zu; niemand, der etwas in der Organisation zu schaffen hatte, fühlte sich so recht sicher. Es war offenbar die Absicht, die Arbeiter zum Äußersten zu treiben und sie dahin zu bringen, daß sie den Frieden brachen. »Sie wollen die Fachvereine zertrümmern, um uns die Butter wieder vom Brot nehmen zu können«, sagten die Arbeiter. »Sie meinen wohl, daß das jetzt leichter geht, da uns der Winter dankbar für eine trockene Kruste gemacht hat. Aber das sollen ausgestunkene Lügen werden!«
Die Erbitterung brodelte stärker und stärker in den Massen; überall waren sie kampfbereit und wünschten nichts lieber, als draufloszuschlagen. Die Frauen weinten und grauten sich, die meisten begriffen nur, daß die Not des Winters jetzt wieder von vorne anfangen sollte. Sie unternahmen verzweifelte Schritte, um vorzubeugen, warfen ein Umschlagetuch um und rannten auf die Kontore, zu den Fabrikbesitzern und flehten sie an, doch das Unglück abzuwenden. Vom Zentrum wurde beständig zu Ruhe und Vorsicht ermahnt. Alles hing davon ab, daß man der Öffentlichkeit gegenüber das Recht auf seiner Seite behielt.
Pelle wurde es nicht schwer, zu verfolgen, was vor sich ging, sonst stand er ja jetzt außerhalb des Ganzen. Er ging in seinem guten Anzug und in Schuhen mit Gummizügen zur Arbeit, brauchte erst um sieben anzutreten, während die anderen schon um sechs da sein mußten – das verschob sofort den Gesichtspunkt.
Mit Zirkel und Lineal wurde er bald vertraut, vorläufig stand er da und kopierte einige abgenutzte Zeichnungen oder füllte aus. Er befand sich in wunderlich gehobener Stimmung – wie in einem leichten Rausch; es war das erstemal in seinem Leben, daß er eine Arbeit zu verrichten hatte, die reinlich war und ihm erlaubte, gute Kleider anzuhaben. Wunderlich war es überhaupt, das Leben von hier aus zu sehen; eine neue Perspektive eröffnete sich ihm. Während die alte irgendein kümmerliches Alter in Aussicht stellte, führte diese aufwärts. Hier konnte er alles erreichen, was er wollte, selbst die höchste Stellung! Wie, wenn er einmal da hinaufkroch an die Spitze des Ganzen und den Achtstundentag und einen guten Tagelohn durchsetzte? Dann wollte er ihnen zeigen, daß man sehr wohl von unten heraufsteigen konnte, ohne seine Vergangenheit zu vergessen und ein Blutsauger zu werden. Sie sollten sogar Pelle, den guten Kameraden, hoch leben lassen – obwohl er ihre Reihen verließ.
Zu Hause war viel zu tun; sobald er die Schwelle überschritt, nahmen Ellens hundert Pläne ihn gefangen. Er mußte einen neuen Anzug haben – einen grauen Kontoranzug, und mehr Wäsche; auch mindestens zweimal die Woche mußte er zum Barbier gehen, er durfte nicht mehr dasitzen und sich selbst mit einem alten Reibeisen von Rasiermesser im Gesicht herumkratzen. Pelle mußte fühlen, daß es nicht so ganz leicht war, ein Oberklasser zu sein, wie er es nannte.
Und zu dem allem gehörte Geld. Es war dasselbe Jagen und dasselbe Kopfzerbrechen, um die Schillinge aufzustöbern, wie in der Not des Winters; aber diesmal war es ganz amüsant, es hatte einen lichten Zweck und währte nur so lange, bis es in Gang kam. Lasse sah so gemütlich aus; er hatte Pelles halbguten täglichen Anzug an, den Ellen aufgefrischt hatte, und einen schwarzwattierten Kragen mit weißem Gummistrich, auch blankgewichste Schlurren an den Füßen. Das waren die alten Schmierstiefel – mit denen Pelle von Steinhof fortgezogen war – sie existierten noch; sie waren nun zu Hauspantoffeln abgeschnitten. Die Schäfte saßen übrigens an einem Paar Holzschuhstiefeln.
Er hielt sich am liebsten zu den Kindern und glich ganz einem alten Großvater, mit seinem welken Gesicht und dem guten Blick, der jetzt ein wenig schwachsichtig wurde. Wenn der kleine Lasse sich in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers versteckte, konnte Vater Lasse ihn nicht sehen, und das machte sich der Bengel zunutze; er begriff niemals die Augen, die nicht weiter sehen konnten als quer über den Tisch, und fragte immer warum.
»Das kommt, weil ich in meinem Leben in zu viel Elend hineingesehen habe,« antwortete der Alte immer.
Übrigens war er ganz von Glück erfüllt, und sein alter ausgebrannter Körper zeigte Dankbarkeit, indem er wieder Fleisch ansetzte; er fing schnell an, vollere Wangen zu bekommen. Er hatte ein eigenes Geschick, die Kinder zu hüten; Pelle und Ellen konnten sich ruhig ihren vielen Geschäften hingeben. Da war hunderterlei, was besorgt werden mußte, ehe man in das Neue hineinpaßte. Sie dachten auch daran, eine Anleihe von ein paar hundert Kronen aufzunehmen.
»Vater wird für uns bürgen«, sagte Ellen.
»Ja, dann habe ich auch die Mittel, guten Unterricht im Zeichnen zu nehmen,« sagte Pelle, »ich habe es groß nötig, einen ordentlichen Grund zu legen.«
Am Sonnabend lief die Frist für die alten Tarife ab. Die Stimmung unter den Arbeitern war sehr gespannt, aber sie verrichteten jeder seine Arbeit und verhielten sich abwartend. Um Mittag gingen die Aufseher umher und forderten jedem einzelnen seine Antwort ab. Sie erhielten der Verabredung gemäß keinen Bescheid; aber am Nachmittag gingen drei Arbeiter als Deputation auf das Kontor und baten, mit dem Direktor sprechen zu können. Als er hereinkam, trat Maschinenarbeiter Munk, der Wortführer war, vor und sagte: »Wir kommen im Namen der Kameraden.« Mehr bekam er nicht heraus; der Direktor fuhr auf ihn los, zeigte auf die Treppe und rief: »Ich unterhandle nicht mit meinen Leuten.«
Da kamen sie denn hinab. Die Arbeiter starrten zu ihnen auf – das ging ja schnell! Der dicke Munk bewegte die Lippen, als spreche er, aber niemand konnte etwas hören vor dem entsetzlichen Lärm der Maschinen. Festen Schrittes ging er durch die Halle, nahm einen Hammer und schlug drei Schläge auf die große Stahltrommel. Sie klangen wie Donnerschläge des Jüngsten Gerichts; in der ganzen Fabrik dröhnte es. Im selben Augenblick fuhren die nackten, geschwärzten Arme in die Höhe und schlugen die Riemen von den großen und kleinen Treibrädern; die Maschinen liefen aus, das ganze Gebrause stockte auf einmal; es ward so still, als sei der Tod durch den Raum gegangen. Das dichte Netz von Treibriemen, das die Halle die Kreuz und die Quere überspannte, zitterte noch schwach; die Stille glotzte aus dem großen Raum hervor wie ein entsetztes Gaffen.
Die Aufseher liefen von Bank zu Bank, riefen und wußten weder aus noch ein. Es wurde nach dem Fabrikleiter geschickt, während die Arbeiter zu ihren Eimern gingen und sich wuschen, still und schwer, als hätten sie jemand das letzte Geleite gegeben. Ihre Mienen waren verschlossen. Ahnten sie wohl, daß die drei Schläge das Signal zu einem entsetzlichen Kampf waren? Oder folgten sie nur der ersten zornigen Eingebung? Sie wußten auf alle Fälle genug; ihre Gesichter trugen das Gepräge davon, daß dies das Schicksal war – das unvermeidliche. Sie hatten den Winter gerufen, weil man sie dazu getrieben hatte, und nun würde er zurückkehren, um sein Opfer noch einmal zu plündern.
Und so kamen sie denn wieder zum Vorschein, rein gewaschen, mit ihrem Bündel unter dem Arm und standen da und warteten schweigend, bis die Reihe des Abrechnens an sie kam. Die Aufseher liefen umher und maßen mit nervösen Händen aus, verglichen die Arbeitszettel und rechneten das Guthaben eines jeden aus. Der Fabrikleiter kam die Treppe hinab aus seinem Kontor, hoch und stolz, und schritt durch den Raum; die Arbeiter wichen vor ihm zur Seite. Er sah sich scharf um, als wolle er sich jeden einzelnen einprägen, legte die Hand auf die Schulter eines Vorarbeiters und sagte laut, so daß alle es hörten: »Sie beeilen sich wohl, Jacobsen, daß wir diese Menschen hier schnell herausbekommen!« Die Arbeiter richteten langsam ihre ernsten Gesichter zu ihm empor, und diese oder jene herabhängende Faust zuckte. Sie verließen die Fabrik einer nach dem anderen, sobald mit ihnen abgerechnet war.
Draußen sammelten sie sich zu kleinen Haufen und machten sich Luft in verdutzten Ausrufen: »Habt ihr den Alten gesehen? Der war scharf; es wird wohl eine Weile dauern, ehe wir wieder dahin kommen!«
Pelle war wunderlich zumute; er wußte, daß jetzt der Krieg ausgebrochen war; es war ein Loch geschlagen; eins würde das andere nach sich ziehen. – Klein-Lasse, der seine Schritte schon auf der Treppe erkannte, lief ihm in die Arme, als er nach Hause kam; aber er beachtete es nicht.
»Du bist so ernsthaft,« sagte Ellen – »ist irgend etwas geschehen?« Er erzählte es ruhig.
»Großer Gott,« rief sie fröstelnd aus, »soll nun die Arbeitslosigkeit wieder von neuem anfangen! Gott sei Dank, daß sie uns nicht berührt!« Pelle antwortete nicht. Er setzte sich schweigend zu seinem Essen; saß da und ließ den Kopf hängen, als schäme er sich über irgend etwas.