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Von dem Augenblick an, wo der graue Tag hineinbrach, lag ein eigener Ton über dem Summen der »Arche«, ein heiserer Eifer, der die Sorglosigkeit beiseiteschob. Durch die langen finsteren Gänge tönte es von Scheuern und Schrubben, die Galerien und die dunklen Holztreppen bekamen ihre Behandlung mit Wasser. »Weg da!« wurde jeden Augenblick von irgendwoher gerufen, und dann galt es, sich vor der hinabströmenden Flut zu retten. Den ganzen Vormittag trieb das Wasser von einer Galerie zur anderen, wie über ein Mühlrad.
Aber jetzt lag die Arche da und fror in ihrer eigenen Reinlichkeit, mit einem Ausdruck, als wollte das alte Nest sich selbst nicht wieder kennen. Hier und da war eine Gardine oder ein Stück Mobiliar hinter dem Fenster verschwunden – es war zu Ehren des Tages ins Pfandhaus gewandert. Was hier fehlte, hing in Form von Erwartungen und Festfreude in den Gesichtern der Bewohner.
Aus den Kellerhälsen in dem Stadtviertel guckten kleine Tannenbäume hervor, und drüben auf dem Markt standen sie wie ein ganzer Wald an der Mauer des Zuchthauses entlang. In den Fenstern der Kellerläden hingen Herzen und farbige Lichter, und der Krämer an der Ecke hatte einen mächtigen Weihnachtskobold im Fenster aufgestellt. Er war aus rotem und grauem Wollstoff und trug als Bart ein ganzes Katzenfell.
Auf den Treppenstufen der »Arche« lagen die Kinder flach an der Erde und scheuerten Gabel und Messer im Sand auf den Stufen. »Ah!« sagten sie und klopften sich jedesmal an die Brust, wenn der Geruch von irgend etwas Gebratenem in den Hof hinausströmte. Jeden Augenblick mußten sie fort und für fünf oder zehn Öre einholen; es wollte kein Ende nehmen, alles das, was der Weihnachtsabend in Bereitschaft hatte. »Wir kriegen richtige Rotebeeten!« sagte ein kleines Kind und trällerte eine Melodie. »Wir kriegen richtige Rotebeeten, ah, ah, ah!« Und dann wiegte sie ihren kleinen Körper hin und her, während sie scheuerte.
»Frederik!« rief eine scharfe Stimme aus einem der Gänge heraus. »Lauf hin und hol eine Stiege Brennholz und ein Feinbrot zu zehn. Aber paß auf, daß der Krämer dir die Stiege richtig abzählt – und puk die Krumen nich' 'raus!«
Frau Olsen mit der warmen Wand briet Schweinebraten. Sie konnte den Herd ja nicht auf die Galerie hinausschleppen; da ließ sie denn den Braten anbrennen, so daß der ganze Hof mit bläulichem Qualm angefüllt war. »Frau Olsen! Ihr Schweinebraten brennt an!« schrien zwölf Frauenstimmen auf einmal.
»Das kommt, weil der Schmortopf zu klein ist«, antwortete Frau Olsen und steckte ihren roten Kopf durch das Holzwerk hindurch. »Was soll ich armer Teufel tun, wenn der Schmortopf nu mal zu klein is?« Und Frau Olsens Schmortopf war der größte in der ganzen »Arche«.
Kurz ehe die Dämmerung hereinbrach, ging Pelle von der Werkstatt nach Hause. Er sah die Straßen und Menschen mit eigenen Augen an, die einen Glanz über alles ausgossen; es war die Weihnachtsstimmung, die ihm im Gemüt saß. Warum? fragte er sich unwillkürlich selbst. Es harrte seiner ja nichts Besonderes. Er mußte heute länger arbeiten als gewöhnlich und konnte den Abend nicht einmal mit Ellen zusammen verleben; sie hatte in ihrer Küche zu schaffen, um es für andere traulich zu machen. Wozu kam diese Stimmung zu ihm? Erinnerungen waren es nicht; solange er zurückdenken konnte, hatte er niemals teilgehabt an einem so recht fröhlichen Weihnachtsabend, sondern hatte sich mit den Sagen begnügen müssen, die darüber im Umlauf waren. Und all die anderen Armen, denen er begegnete, waren in derselben Stimmung wie er. Das harte Fragen war aus ihren Gesichtern gewichen, sie gingen da und lächelten vor sich hin. Heute war nichts von dem bleischweren Druck zu spüren, der sonst über den Unterklassen brütete gleich dem Vorboten eines Unwetters; glücklicher hätten sie nicht aussehen können, wenn all ihre lichten Hoffnungen eingelöst wären! Da kam eine Frau mit einem Federbett im Arm an ihm vorüber und verschwand in der Tür des Pfandleihers, sie sah – sehr vergnügt aus. Waren sie vielleicht so fröhlich, weil sie sich einen kleinen Schmaus schafften, indem sie eine Reihe magerer Tage noch magerer machten? Nein, sie feierten ja ein Fest, weil die Weihnachtsstimmung in ihnen herrschte und sie feiern mußten, wie teuer sie es auch erkaufen sollten!
In dieser Nacht wurde ja Christus geboren – waren die Leute deswegen so fröhlich und gut?
Pelle wußte noch die meisten Bibelsprüche von der Schule her auswendig. Sie hatten irgendwo in ihm gelegen, ohne ihn zu belästigen oder Platz einzunehmen, und hin und wieder tauchte einmal einer davon auf und half ihm seine Menschenkenntnis aufbauen. Aber von Christus selber hatte er sein ganz persönliches Bild, von dem Tage an, als er als Knabe über den Befehl an die Reichen stutzte: hinzugehen und alles zu verkaufen, um den Darbenden das Geld zu geben. Das ließen sie nun hübsch sein – sie nahmen den großen Freund des armen Mannes und hängten ihn auf! Er erreichte nicht mehr, als eine Verheißung für die Armen zu werden; aber vielleicht war es diese Verheißung, die sie jetzt nach zweitausend Jahren so festlich begingen!
So lange hatten sie geschwiegen und sich in Bereitschaft gehalten, gleich den Jungfrauen aus der Bibel, und jetzt endlich kam es ja. Jetzt endlich begann das große Evangelium den Armen zu ertönen – es war ein guter Grund in dieser Weihnachtsfreude. Warum versammelte man nicht die Scharen in der Christnacht und verkündete ihnen das Evangelium? Dann würden sie alle die Bewegung verstehen und sich ihr sofort anschließen! – Es wimmelte in Pelles Kopf von neuen starken Gedanken. Er hatte bisher nicht gewußt, daß das, woran er teilnahm, so groß war; er fühlte sich im Dienst des Höchsten!
Auf dem Marktplatz blieb er stehen und betrachtete still die Weihnachtsbäume – sie führten seine Gedanken zurück zu der Weide, auf der er die Kühe gehütet hatte, und zu den kleinen Tannen. Er bekam Lust, die Kinder zu überraschen und einen Baum zu kaufen; sie hatten die letzten Abende dagesessen und Tannenbaumschmuck ausgeschnitten, und Karl hatte vier abgeschnittene Tannenzweige zu einem Weihnachtsbaum zusammengezimmert.
Bei dem Krämer kaufte er Süßigkeiten und Weihnachtslichter. Der Krämer ging in Veranlassung des Tages auf den Zehenspitzen und expedierte die kleinen, schmutzigen Gören mit zierlichen Verbeugungen. Er gab etwas zu und vergaß ganz sein gewöhnliches: Du, vergiß auch nicht, daß ihr noch für zwei Lot Tee und ein viertel Pfund Kaffee angeschrieben habt! Aber er mogelte wie gewöhnlich mit dem Gewicht.
Marie ging mit aufgestreiften Ärmeln und war sehr beschäftigt; sie warf alles hin und kam gelaufen, als sie den Baum sah. »Der kann hier ja gar nich' mal stehen, Pelle,« rief sie und richtete ihn auf. »Er muß abgeschnitten werden. Er muß ja sogar noch abgeschnitten werden! Nein, wie hübsch der is! Aber unten, du, unten! – Zu Hause hatten wir auch einen Tannenbaum; Vater ging selbst in die Klippen und fällte ihn, und wir Kinder waren mit dabei. Aber dieser hier ist viel schöner!« Dann lief sie in den Gang hinaus, um es zu erzählen, plötzlich fiel ihr aber ein, daß die Jungen noch nicht nach Hause gekommen waren, und da stürzte sie wieder zu ihm hinein.
Pelle setzte sich an seine Arbeit. Von Zeit zu Zeit erhob er den Kopf und sah hinaus. Die Nähterin, die gerade drüben in Pichelmeiers altes Nest eingezogen war, schnurrte mit ihrer Maschine drauflos und sah sehnsüchtig zu ihm hinüber. Sie war gewiß einsam; vielleicht hatte sie keinen Ort, wo sie den Abend zubringen konnte.
Die alte Franzen kam auf die Plattform heraus und humpelte in ihren Flickenschuhen die Hühnerstiege hinunter. Das Tau entglitt ihren zitternden Händen. Sie hatte einen kleinen Korb am Arm und das Portemonnaie in der Hand – sie sah auch so einsam aus, das alte Wurm! Jetzt hatte sie seit drei Monaten nichts von ihrem Sohn gehört. Frau Olsen rief sie an und lud sie zum Abend ein, aber die Alte schüttelte den Kopf. Auf dem Rückweg sah sie bei Pelle ein.
»Heut' abend kommt er«, flüsterte sie entzückt. »Ich hab' Schnaps und Hackbeefsteak für ihn gekauft; denn heut' abend kommt er!«
»Werden Sie nur nicht enttäuscht, Frau Franzen,« sagte Pelle; »aber er darf sich ja nicht mehr hier hinauswagen. Kommen Sie lieber hier herüber und feiern Sie Weihnachten mit uns.«
Sie nickte getrost. »Er kommt heute abend. Am Weihnachtsabend hat er immer in Mutters Bett geschlafen, seit er kriechen konnte, und das kann er nich' entbehren, wenn ich meinen Ferdinand kenne!« Sie hatte schon für sich ein Bett auf den Stühlen zurechtgemacht, so sicher war sie.
Die Polizei rechnete offenbar ebenso wie sie, denn unten auf dem Hof ertönten fremde Fußtritte. Es war gerade in der Dämmerung, wo so viele unbeachtet kamen und gingen. Aber diese Tritte jagten einen Frauenkopf über die Balustrade, ein scharfer Laut ertönte, und im selben Augenblick waren alle Galerien mit Frauen und Kindern angefüllt. Sie hingen über dem Holzwerk und machten einen ohrenbetäubenden Spektakel, die ganze enge Hoftiefe füllte sich mit unerträglichem Lärm. Es klang, als wenn ein Orkan mit einem Regen von Dachsteinen durch den Schacht hinabgesaust käme; der Schutzmann taumelte betäubt in den Tonnengang hinein. Dort stand er eine Weile und besann sich, ehe er sich verzog. Oben auf dem Holzwerk hingen sie und verschnauften sich, matt nach der gewaltsamen Entladung – und plauderten wie eine Heerschar von kleinen Vögeln, die den Habicht in die Flucht gejagt haben.
»Fröhliche Weihnachten!« rief man jetzt von einer Galerie zur anderen. »Danke, gleichfalls!« Die Kinder riefen einander: »Fröhliches Fest und das Allerbest!« zu, und die anderen antworteten: »Ein leckerer Schmaus für das ganze Haus!«
Der Weihnachtsabend war da. Die Männer kamen in ihrem schweren Trab geschlurft, und die Fabrikarbeiterinnen kamen gestürzt. Hier und da sickerte ihnen aus den langen Gängen ein schwaches Weinen entgegen, so daß die milchgefüllten Brüste schmerzten. Die Kinder liefen ununterbrochen hin und her und holten die letzten Zutaten. Unten am Ausgang zur Straße mußten sie sich an zwei Vagabunden vorbeidrängen, die dastanden und in der Kälte schauderten. Sie sahen so verdächtig aus. »Da unten stehen zwei, aber es sind keine richtigen«, meldete Karl. »Sie sehen aus wie die aus dem Kasino-Theater.«
»Lauf zu der alten Franzen 'rüber und sag ihr das,« sagte Pelle.
Aber die Alte antwortete nur: »Gott sei Dank, dann haben sie ihn noch nich' gefaßt!«
Drüben bei Olsens war die Tochter Elvira nach Hause gekommen. Das Rouleau war nicht herabgelassen, und sie stand am Fenster mit ihrem mächtigen Hut mit den Blumen und ließ sich bewundern. Marie kam hereingelaufen: »Hast du gesehen, wie fein sie is, Pelle?« sagte sie ganz benommen. »Und all das kriegt sie umsonst von den Herren, bloß weil sie finden, daß sie so hübsch is. Aber des Abends denn malt sie ihre Backen bloß an!«
Die Kinder trieben sich draußen auf dem Gang herum und warteten darauf, daß Pelle fertig werden sollte. Sie wollten nicht ohne ihn Weihnachten feiern. Aber nun machte er auch Feierabend; er warf eine Jacke über, packte die Arbeit ein und lief davon.
Draußen auf der Plattform blieb er einen Augenblick stehen. Er konnte den Lichtschein aus der Stadt an dem tief mit Sternen übersäten Himmel aufblinzeln sehen. Die Nacht war so feierlich schön. Unter ihm hing das Holzwerk verlassen und seufzte im Frost; alle Türen waren geschlossen, um die Kälte draußen und die Freude drinnen zu halten. »Hoch herab von dem grünen Baum« – ertönte es von irgendwoher. Der Lichtschein fiel durch das Fenster und bahnte sich einen Weg die Kreuz und die Quer zwischen dem Balkenwerk. Plötzlich dröhnte es schwer auf der Treppe – der Leichenwagenkutscher kam nach Hause geschwankt, einen Schinken unter jedem Arm. Dann wurde alles ruhig, so ruhig wie sonst niemals in der »Arche«, wo beständig etwas jammerte Tag und Nacht. Ein Kind kam hinaus und wandte ein Paar fragende Augen empor, um nach dem Weihnachtsstern zu spähen! – Bei Frau Franzen war Licht. Sie hatte heute ein weißes Tuch vor das Fenster gehängt und es stramm davorgezogen; die Lampe stand dicht neben der Gardine, so daß derjenige, der sich da drinnen bewegte, keinen Schatten darauf werfen konnte.
Das arme alte Wurm! dachte Pelle, während er lief – die Mühe könnte sie sich gewiß sparen. Als er die Arbeit abgeliefert hatte, lief er in die Holbergstraße hinüber, um Ellen ein fröhliches Fest zu wünschen.
In seiner Stube war festlich gedeckt, als er wieder nach Hause kam: Schweinskarbonade, Reisbrei und Weihnachtsbier. Marie glühte vor Stolz über ihr Werk; sie saß da und nötigte die anderen, aß aber selbst fast nichts.
»Solch gutes Essen solltest du jeden Tag machen, Deern!« sagte Karl und hieb ein. »Du könntest, weiß Gott, in der königlichen Küche angestellt werden!«
»Warum ißt du denn gar nicht von dem schönen Essen?« fragte Pelle.
»Ach nein, ich kann nicht«, antwortete sie und griff sich an die Wangen; ihre Augen strahlten ihm entgegen.
Sie lachten und plauderten und stießen mit dem Weihnachtsbier an. Karl kam mit den neuesten Kalauern und letzten Gassenhauern; so etwas sammelte er auf seinen Streiffahrten durch die Stadt auf. Peter saß da und sah unerschütterlich bald den einen, bald den anderen an. Er lachte nie, aber von Zeit zu Zeit kam er mit einer trockenen Bemerkung, die davon zeugte, daß er sich amüsierte. Sie sahen immer wieder nach dem Fenster der alten Franzen hinüber – es war ein Jammer, daß sie nicht mit dabei sein wollte.
Jetzt brannten da drüben fünf Lichter – sie saßen offenbar auf einem kleinen Tannenbaum in einem Blumentopf. Sie bewegten sich wie ferne Sterne durch den weißen Vorhang, und Frau Franzens Stimme klang dünn und gesprungen: »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!« Pelle öffnete das Fenster und lauschte; es wunderte ihn, daß die arme Alte so fröhlich sein konnte.
Plötzlich ertönte eine warnende Stimme von unten herauf: »Frau Franzen, es kommt Besuch!«
Ringsumher auf den Galerien flogen Türen und Fenster auf, Gestalten stürzten aus den Türen, ihr Essen in der Hand, und lehnten sich über das Geländer. »Wer wagt es, den Weihnachtsfrieden zu stören?« fragte drohend eine tiefe Stimme.
»Die Handhaber des Gesetzes«, wurde von da unten her aus der Dunkelheit geantwortet. »Verhaltet euch alle ruhig – im Namen des Gesetzes!«
Drüben an Frau Franzens Seite wurden zwei Gestalten sichtbar, die lautlos auf allen vieren hinaufliefen. Dort oben geschah nichts, sie hatten offenbar den Kopf verloren. »Ferdinand, Ferdinand!« gellte eine Mädchenstimme wild – »nu kommen sie!«
Im selben Augenblicke flog die Tür auf, mit einem Sprung stand Ferdinand auf der Plattform. Er schleuderte einen Stuhl zu den Verfolgern hinunter und rüttelte rasend an dem Taugeländer, um sie von der Treppe herunterzufegen. Dann faßte er nach der Dachrinne und schwang sich hinauf. »Adieu, Mutter!« rief er von da oben her; sein Sprung schallte in die Finsternis hinaus. »Adieu, Mutter – und fröhliches Weihnachtsfest!« Hohl, wie das Brüllen eines kranken Tieres, stieg der Ruf weit hinaus in die Nacht, und man hörte die strauchelnde Jagd der Schutzleute über die Dächer. Und dann wurde alles still.
Sie kehrten unverrichteter Sache zurück. »Na, den haben sie ja nicht gekriegt!« rief Olsen überlegen unten aus seinem Fenster heraus.
»Nein, glaubt ihr, daß wir uns um seinetwillen den Hals brechen wollen?« erwiderten die Schutzleute und krabbelten hinunter. »Spendiert keiner ein Glas Weihnachtsbier?« Als keine Antwort erfolgte, gingen sie.
Die alte Franzen ging in ihre Stube hinein und schloß ab; sie war müde und sorgenvoll und wollte zu Bett gehen. Aber nach einer Weile kam sie über den langen Gang gelatscht. »Pelle,« flüsterte sie, »er liegt in meiner Stube! Während sie auf den Dächern herumkrabbelten, hat er sich ganz leise über den Boden heruntergeschlichen und sich in mein Bett gelegt. Großer Gott, seit vier Monaten hat er in keinem Bett gelegen – er schnarcht schon!« dann schlich sie wieder hinaus.
Ja, das war eine böse Unterbrechung! Niemand hatte Lust, von neuem wieder anzufangen außer Karl, und den rechnete Marie nicht mit, denn der war immer hungrig. So deckte sie denn ab und plauderte, während sie aus und ein ging; sie mochte es nicht, daß Pelle so ernsthaft war.
»Aber das Geheimnis!« rief sie plötzlich ganz überrascht aus. Die Jungen liefen zu ihr hinein; dann kamen sie wieder, dicht nebeneinander und Marie hinter ihnen drein mit etwas unter der Schürze. Die beiden Jungen warfen sich über Pelle und hielten ihm die Augen zu, während Marie ihm etwas in den Mund steckte. »Rat mal,« riefen sie – »rat mal!« Es war eine Porzellanpfeife mit grünem, seidenem Quast. Auf dem Pfeifenkopf, Ellens Weihnachtsgeschenk für ihn, war ein Zehnkronenschein abgebildet. Die Kinder hatten eine Tüte Tabak hinzugefügt. »Nun kannst du ordentlich rauchen,« sagte Marie und klemmte seinen Mund um die Pfeifenspitze zusammen – »du bist ja schon im voraus so klug.«
Die Kinder hatten Gäste zum Weihnachtsbaum eingeladen: die Nähterin, den alten Nachtwächter unten vom Hof, die Fabrikarbeiterin mit ihrem kleinen Jungen, alle, die zu Hause saßen und das Weihnachtsfest allein feierten. Sie wußten selbst nicht wie viele! Hanne und ihre Mutter waren auch eingeladen, waren aber früh zu Bett gegangen – sie waren nicht zu Geselligkeit aufgelegt. Nun kamen sie einer nach dem anderen angezogen mit munteren Gesichtern, Marie löschte die Lampe aus und ging hinein, um den Weihnachtsbaum anzuzünden.
Sie saßen schweigend und erwartungsvoll da. Der Schein aus dem Ofen flackerte launenvoll im Zimmer hin und her, beleuchtete ein Gesicht mit gesenkten Augenlidern und gespannten Zügen und sprang mit einem kleinen Knall davon. Der kleine Junge der Fabrikarbeiterin war der einzige, der schwatzte; er hatte Zuflucht auf Pelles Knie gesucht und fühlte sich ganz wohlig in der Dunkelheit; die Kinderstimme klang so wunderbar hell in dieser Beleuchtung. »Paul muß ganz hübsch still sein«, wiederholte die Mutter ermahnend.
»Darf Paul gar nich pechen?« fragte der Junge und fühlte nach Pelles Gesicht.
»Ja, heut' abend darf Paul alles, was er will«, antwortete Pelle. Dann plauderte der Junge weiter und stieß mit den kleinen Beinen nach der Dunkelheit.
»Jetzt dürft ihr kommen!« rief Marie und machte die Tür nach dem Gang auf. Drinnen im Zimmer der Kinder war ausgeräumt. Der Tannenbaum stand in der Mitte an der Erde und strahlte. Nein, wie prächtig er war – und wie groß! Nun konnte man die Augen ordentlich aufsperren. Die Lichter blitzten darin – und in den Fensterscheiben, in dem alten Mahagonispiegel und in dem Glas der Schillingsbilder – so daß man plötzlich zwischen Myriaden von Sternen sich bewegte und alles Elend vergaß. Es war, als wäre man fortgerückt von allen Sorgen und Kümmernissen, geradeswegs hinein in die Herrlichkeit; und auf einmal ertönte eine feine, klare Stimme, zitternd vor Verlegenheit sang sie:
»Willkommen aufs neu, ihr Engelein klein
Vom hohen Himmelssaal,
Mit schönen Kleidern aus Sonnenschein,
Im Erdenschattental!«
Es klang wie ein Gruß aus den Wolken. Sie schlossen die Augen und wanderten Hand in Hand um den Baum herum. Dann schwieg die Nähterin errötend. »Ihr singt ja gar nicht mit!« rief sie aus.
»Jetzt wollen wir ein Weihnachtslied singen, das wir alle kennen«, sagte Pelle.
»Hoch herab von dem grünen Baum« –! schlug Karl vor.
Ja, dann sang man das. Es paßte ausgezeichnet hierher, selbst der Name Peter paßte! Und es war amüsant mit all den Geschenken, die in dem Lied aufmarschiert kamen; jeder einzelne war bedacht! Das mit dem Geldbeutel am Ende war nur allzuwahr. Man konnte noch viel mehr über dies Lied sagen. Aber plötzlich setzten die Knaben den Ringeltanz in Bewegung, sie trampelten wie ein paar Soldaten, und das Ganze wirbelte dann in wilder Fahrt, ein wahrer Hexentanz.
»Hei, dicke dumm,
Mein Mann fiel um!
Es war am Weihnachtsabend.
Ich nahm einen Stock,
Klopft ihm den Rock!
Es war am Weihnachtsabend.«
Wie heiß all das Licht machte, und wie es zu Kopf stieg! Die Tür nach dem Gang mußte geöffnet werden.
Da draußen standen die Bewohner des Bodens und lauschten und machten lange Hälse. »Kommt man herein!« riefen die Jungen. »Hier ist Platz genug, wenn wir in zwei Reihen gehen.« Und dann trabte man wieder um den Baum und sang Weihnachtslieder. Jedesmal, wenn eine Pause eintrat, fiel irgendeinem ein neues Lied ein, das durchaus noch gesungen werden mußte. Die gegenüberliegenden Türen standen auch offen, der alte Lumpensammler saß am Ende seines Tisches und sang auf eigene Faust. Er hatte ein Schwarzbrot und einen Teller Schmalz vor sich stehen, zwischen jedem Lied nahm er einen Mundvoll davon. In der anderen Türöffnung saßen drei Kohlenarbeiter und spielten Sechsundsechzig um Schnaps und Bier. Sie hatten die Gesichter dem Tannenbaum zugewendet und sangen mit, während sie spielten; von Zeit zu Zeit hielten sie mitten in einer Strophe inne, um etwas anzusagen oder »gestochen« zu rufen. Da plötzlich warfen sie die Karten hin und kamen herein. »Wir wollen hier nicht müßig sitzen und zusehen, wie ihr anderen arbeitet«, sagten sie und traten mit in den Kreis.
Schließlich hatten sie es satt, um den Baum herumzugehen und zu singen. Da holte man denn Sitzgelegenheiten aus den anderen Stuben herein. Sie mußten sich dicht zusammendrängen ganz unter das schräge Dach und sich oben auf das Fensterbrett setzen; rings um den Weihnachtsbaum blieb ein freier Kreis. Sie saßen da und schwatzten zusammengekauert in verkrüppelten Stellungen, als sei das die einzige Art, wie ihre Körper wirklich Ruhe finden könnten; die Arme hingen schlaff zwischen den Knien herab. Aber die Gesichter waren noch immer angeregt, der Qualm von den Lichtern und den knisternden Tannenzweigen hüllte sie in einen bläulichen Dunst und ließ sie rundlich daraus hervorglühen. Das brennende Harz verlieh dem Rauchnebel einen mystischen berückenden Duft, und die andächtigen Gesichter glichen summenden Seelen, die in den Wolken schwebten, eine jede über ihrem gequälten Körper.
Pelle saß da und betrachtete sie, so daß ihm das Herz im Leibe blutete – das war seine Andacht. Ach, die armen zerzausten Vögel, was erlebten sie jetzt Großes, was ihnen eine Erstattung für alle Entbehrungen gab? Nur ein wenig Licht! und sie sahen so aus, als könnten sie sich da hineinstürzen und darin umkommen. Er kannte jetzt die Schicksale eines jeden, besser als sie selbst; wenn sie in die Nähe des Lichts kamen, verbrannten sie sich immer, wie die Nachtfalter; so verfroren waren sie!
»Das ist übrigens eine sonderbare Erfindung, wenn man darüber nachdenkt,« sagte einer von den Erdarbeitern und nickte nach dem Weihnachtsbaum hinüber, »aber schön ist es. Gott weiß, was es eigentlich bedeuten soll?«
»Das soll bedeuten, daß das Jahr jetzt dem Lichte wieder zugeht,« sagte der alte Nachtwächter.
»Nein, das soll die Freude der Hirten über die Geburt des Jesuskindes bedeuten,« sagte der Lumpensammler und trat in die Tür. »Die Hirten waren arme Leute – so wie wir, die im Schatten lebten. Darum freuten sie sich so über ihn, der mit dem Licht kam.«
»Na, mit gar so schrecklich viel Licht hat es uns eigentlich auch nicht begabt! sollte ich meinen. Ja, der Tannenbaum hier, das ist, weiß Gott, großartig – dafür wollen wir uns bei den Kindern bedanken! Aber solche Tannenbäume kann man doch nicht jeden Tag brennen haben – und die Sonne, weißt du, auf die haben die Reichen Beschlag gelegt.«
»Ja, da hast du recht, Jakob«, sagte Pelle, der um den Baum herumging und die Herzen und Körbe für die Kinder abnahm, die die Süßigkeiten verteilten. »Ihr habt alle drei recht – sonderbarerweise! Der Weihnachtsbaum soll uns an Christi Geburt erinnern und auch daran, daß das Jahr nun wieder dem Licht zugeht – denn das ist ja ganz dasselbe. Und dann soll er uns daran erinnern, daß wir auch Anteil an den Dingen haben sollen; Christus wurde wohl eigentlich geboren, um die Armen an ihr Recht zu erinnern! Ja, das ist es! Denn Gott der Herr ist nicht so einer, der weitläuftige Anweisungen gibt, wie man vorwärtsgelangen soll; er rollt seine Sonne jeden Tag rund um die Erde herum, und dann muß jeder zusehen, wie er sich selbst in dem Sonnenschein anbringen kann. Das ist genau so wie mit der Frau des Krugwirtes bei uns zu Hause, die zu den Reisenden sagte: »Was wünschen Sie zu essen? Sie können Enten bekommen und Kücken und Schweinebraten – alles, was Sie sich selbst mitbringen!«
»Das war eine verteufelte Erklärung«, sagten sie und lachten. »Ja, dann ist es ja keine Kunst, einen auf Herrlichkeiten einzuladen – wenn man sie sich doch selbst verschaffen soll! Du hättest Pastor werden sollen.«
»Er sollte viel eher des Teufels Advokat sein«, sagte der alte Lumpensammler. »Denn von Christentum is da nich' viel in dem, was er sagte.«
»Du hast ja doch selbst gesagt, daß Christus mit dem Licht für die Armen gekommen ist,« sagte Pelle, »und er hat es selbst ganz deutlich erklärt; das, was er wollte, das wäre, die Blinden sehend zu machen, die Toten aufzuerwecken und den Verachteten und Verschmähten wieder Ansehen zu geben. Also, das muß man doch wohl glauben!«
»Die Blinden werden sehen, die Lahmen werden gehen, die Aussätzigen werden rein, die Tauben werden hören, und die Toten werden auferstehen, und den Armen wird das Evangelium gepredigt werden«, sagte der Lumpensammler berichtigend. »Du verdrehst die Schrift, Pelle!«
»Ich glaube aber nicht, daß er nur an die einzelnen Verkrüppelten gedacht hat, nein – er hat uns alle in unserem Elend gemeint, und all die Fehler, die passen so gut auf uns. So hat der Prädikant Sort es auch aufgefaßt, und der war doch ein frommer Gottesmann. Er wartete auf das Tausendjährige Reich für die Armen und glaubte, Christus sei schon auf der Erde, um sein Kommen vorzubereiten.«
Die Frauen saßen ganz benommen da und lauschten mit offenem Munde; sie wagten kaum zu atmen. Paul war auf dem Schoß der Mutter eingeschlafen.
»Ach, sollte er wirklich an uns arme Läuse gedacht haben, vor so langer Zeit?« riefen die Männer aus und sahen einander an. »Aber warum haben wir es denn nicht schon längst ein bißchen menschlicher gekriegt?«
»Ja, das verstehe ich auch nicht«, erwiderte Pelle zögernd. »Wir müssen uns vielleicht selbst zu dem Richtigen durcharbeiten – das erfordert ja Zeit!«
»Ja, aber –! Wenn er uns nich' ordentliche Lebensbedingungen geben will, denn –! Um sie uns selbst zu nehmen, da brauchen wir keinen Christus zu.«
Das war etwas, was Pelle sich auch nicht erklären konnte, obgleich es wie eine lebende Überzeugung in ihm lag. Man mußte sich selbst das Seine erwerben – das war so klar wie der Tag, und er konnte nicht begreifen, daß sie blind dafür waren; aber warum man das mußte, das konnte er ihnen auch nicht auseinandersetzen – soviel er sein Gehirn auch marterte. »Aber ich kann euch eine Geschichte erzählen«, sagte er.
»Aber eine ordentliche, spannende!« rief Karl, der sich langweilte. »Ach, wenn doch Vinzlev hier wär', der hat solche drollige Einfälle.«
»Schweig du, Jung'«, sagte Marie ärgerlich. »Pelle der hält richtige Reden – vor ganzen Versammlungen«, sagte sie, indem sie den anderen feierlich zunickte. »Wie heißt die Geschichte?«
»Ach, das ist eine mit Peter, denn is es ja ein Märchen! Wovon handelt sie denn?«
»Das wirst du ja erfahren, wenn du sie hörst, mein Kind«, sagte der alte Nachtwächter.
»Ja, aber dann kann man sich nicht dazu freuen, wenn das Richtige kommt. Ist es nicht eine Geschichte von einem, der in die Welt hinauszieht?«
»Die Geschichte handelt von –« Pelle besann sich ein wenig – »die Geschichte handelt von Christi Geburt«, erwiderte er schnell und wurde dunkelrot über seine eigene Kühnheit. Aber die anderen sahen enttäuscht aus und setzten sich zurecht, um auf den Fußboden zu starren, als seien sie in der Kirche.
Und dann erzählte Pelle die Geschichte von Heulpeter, der in Kummer und Elend geboren wurde und heranwuchs, um groß und stark und aller Hund zu werden. Der jämmerlichste Jammer war es, von diesem großgliedrigen Burschen zu hören, der so voller Angst war, daß er, wenn nur ein Mädel ihn antupfte, sich naß machen mußte – und keinen anderen Ausweg aus seiner Not wußte als den Strick. Welche Schmach war es nicht, daß er sich sein täglich Brot selbstverdiente und doch im Armenhaus war; als wenn ihm eine Wohltat erwiesen würde, daß man ihm dort Unterschlupf gewährte – wo er doch mit seinem Arbeitseifer überall hätte ankommen können! Und ganz unerträglich wurde es, als er heranwuchs und sich noch immer von aller Welt mißbrauchen und hunzen ließ. Aber dann plötzlich sprengte er den Zauberbann, schlug seine Plagegeister nieder und sprang in das Tageslicht hinein, als der Keckste von ihnen allen.
Sie atmeten tief auf, als er geendet hatte. Marie klatschte in die Hände. »Das war ja doch ein Märchen!« rief sie. Karl warf sich über Peter und prügelte auf ihn los, obwohl der ernste Bursche nichts weniger als ein Tyrann war.
Sie redeten bunt durcheinander. Jeder hatte seine Bemerkungen über Heulpeter zu machen. »Das war verdammt gut gemacht,« sagten die Männer, »er prügelte die ganze Gesellschaft von Anfang bis zu Ende durch, so 'n Prachtkerl! Na ja, Kräfte hatt' er ja auch. Aber zum Teufel auch, warum hat er denn solche lange Zeit gebraucht? Und sich alles gefallen lassen?«
»Ja, das zu begreifen, ist ja für uns nicht so ganz leicht – für uns, die wir so fest auf unser Recht pochen«, erwiderte Pelle lachend.
»Na, du bist wirklich gut – da hast du es uns gründlich gegeben!« rief der fröhliche Jakob aus. »Aber brauchst du mal eine Faust, da hast du meine!« Er schlug in Pelles Hand ein.
Die Lichter waren längst niedergebrannt, sie merkten es nicht. Ihre Augen hingen jetzt suchend an Pelle, mit einem eigenen Glanz, der in lichtem Fragen kam und ging. Und plötzlich überfielen sie ihn mit Fragen. Da war genug, was sie wissen wollten. Eine ganze Welt von Herrlichkeiten, behauptete er, gehöre ihnen, und nun beeilten sie sich, Besitz davon zu ergreifen. Selbst der alte Lumpensammler ließ sich mit fortreißen; es war zu verlockend, sich so einen kleinen Rausch zu bereiten, selbst wenn vielleicht ein Alltag darauf folgte.
Pelle stand stark zwischen ihnen und bestätigte ihre Fragen mit einem sicheren Lächeln; er wußte, daß das alles das Ihre werden würde, selbst wenn es nicht so auf einmal geschehen konnte. Geduld und Ausdauer gehörten dazu, aber das würden sie jetzt nicht verstehen können. Wenn sie erst die Herrlichkeiten in Besitz genommen hatten, so würden sie sie wohl zu verteidigen wissen. Zweifel herrschte nicht in ihm, er stand zwischen ihnen als ihr verkörpertes Können, glücklich auf liefen Wurzeln ruhend.