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Es waren Gerüchte im Umlauf, daß die Stadtverwaltung einschreiten und der Arbeitslosigkeit abhelfen wollte, und kurz vor Weihnachten wurde auch eine größere Erdarbeit begonnen. Es war ein Stück von dem alten Wall, das geschleift und zu Parks und Boulevards umgewandelt werden sollte. Pelle meldete sich unter tausend anderen und hatte das Glück, angenommen zu werden; der Unternehmer nahm vorzugsweise die jungen Kräfte.
Jeden Morgen stellten sich die Arbeiter in Massen ein! die Aufseher wählten sich die aus, für die sie Verwendung hatten, der Rest konnte wieder gehen. Daheim saßen Frau und Kinder und freuten sich, und man hatte keine Lust, mit dem traurigen Bescheid nach Hause zu kommen; deswegen lungerte man auf dem Arbeitsplatz herum.
Sie stellten sich schon lange vor Tagesanbruch dort ein, um die ersten zu sein, obgleich nicht viel Hoffnung da war. Da war es doch wenigstens ein Vorwand, um das Bett zu verlassen, der Müßiggang brannte ihnen auf den Lenden wie ein Höllenfeuer. Wenn die Aufseher kamen, drängten sie sich stumm, aber mit eindringlichen Augen vor. Da war eine Frau mit ihrem Mann gekommen, er ging bescheiden hinter ihr her, hielt die Augen unverwandt auf sie gerichtet und tat genau so wie sie. Ein großer und starker Kerl war er, aber er unternahm nichts auf eigene Hand – schnob sich nicht einmal die Nase aus, ohne daß sie ihn dazu puffte. »Komm her, Thorwald«, sagte sie und puffte sich vor, so daß es weh tat. »Halt dich dicht hinter mir!« Sie sprach mit harter Stimme in die Luft hinein, als wolle sie ihr Vorgehen den anderen gegenüber begründen, sah aber niemand an: »Er kann nämlich so schlecht für sich selbst reden!« sagte sie aufs Geratewohl. Ihre gereizte Stimme machte Pelle zusammenzucken – sie war aus Bornholm. Ach, die schneidigen, jungen Mädchen daheim, sie waren eine Errettung für den Mann! – »Und die Kinder müssen ja doch auch leben!« fuhr sie fort. »Wir haben acht, ja acht!«
»Dann ist er doch zu was zu gebrauchen«, sagte ein verfrorener Arbeiter.
Die Frau arbeitete sich hindurch, und es gelang ihr auch wirklich, ihren Kerl anzubringen. »Und nun tust du hübsch, was sie dir sagen, und läßt dich nicht zu irgendwelchen Narrenstreichen verlocken!« sagte sie und versetzte ihm einen Puff, der ihn nach der Arbeitsstelle hinüber in Gang setzte. Trotzig erhob sie den Kopf, als um sie her spöttisches Gelächter erklang.
Der Platz glich einem Sklavenmarkt, die Aufseher gingen umher und suchten die Kräftigsten aus, befühlten sie mit den Augen und wählten nach Muskeln und Rückenbreite. Der Unternehmer fuhr umher und erteilte Anordnungen. »Das ist einer von den Protzen,« sagten die Arbeiter knurrend, »hier muß die ganze Arbeitskraft der Stadt aufmarschieren, damit er sich die besten 'raussuchen kann. Und dabei hat er den Tagelohn um fünfzig Öre heruntergesetzt. Er ist noch dazu selbst Erdarbeiter gewesen, nu ist er aber ein Mann, der seine Hunderttausend das Jahr hat. Ein richtiger Blutsauger ist er!«
Die Massen fuhren fort, dazustehen und den ganzen Tag herumzulungern, in der Hoffnung, daß irgend jemand abfiele oder krank wurde – irgend was Blödsinniges – so daß man seine Stelle einnehmen konnte. Es war ihnen unmöglich, sich loszureißen. Schon allein, daß die Arbeit im Gange war, fesselte sie. Sie sahen so aus, als wollten sie jederzeit den Arbeitsplatz stürmen, und die Polizei hatte einen Kreis darum gebildet. Sie standen da und drängten sich vor, geistesabwesend vor Verlangen nach Arbeit, mit krankhafter Sehnsucht in den Mienen. Wenn die Masse zu weit vorgedrungen war, ließ sie sich zögernd wieder zurücktreiben. Plötzlich konnte eine Lücke entstehen, ein Mann sprang über die Latten hinweg und griff nach einer Hacke. Ein paar Schutzleute entrangen das Gerät seiner Hand und führten ihn ab.
Wie sie so dastanden, stieg Trotz in ihnen auf, gegen die Not und gegen die ganze schamlose Lage; es äußerte sich in einem wütenden halb inwendigen Knurren. Sie folgten dem Unternehmer mit wunderlichen Augen, als suchten sie etwas bei ihm, was ihnen nicht einfallen wollte.
In seinem Übermut über das schwindelerregende Anerbieten von Arbeitskraft wollte er noch weitergehen und die Arbeitszeit um noch eine Stunde verlängern. Das wurde den Arbeitern eines Morgens als Befehl mitgeteilt, als sie gerade angefangen hatten. Aber im selben Augenblick warfen die vierhundert Mann bis auf zwei das Werkzeug hin und traten zu ihren Kameraden hinaus. Die Aufseher kamen und riefen neue Arbeitskräfte herbei, aber niemand meldete sich. Sie standen da und beredeten die Sache, blau in den Gesichtern vor Wut – jetzt sollte ihre Ausgehungertheit dazu benutzt werden, um den Unternehmer mit einem weiteren Hunderttausend zu bereichern! »Wir müssen uns an die Stadtverwaltung wenden«, riefen sie. »Nein, an die Zeitung!« erwiderten andere. »An die Zeitung! Die Zeitung ist besser!«
»Sich an die Stadtverwaltung zu wenden, nützt nichts – solange wir nicht unsere Parteigenossen hineingewählt haben!« rief Pelle. »Gedenkt ihnen das jetzt, bei den Wahlen, Kameraden! Wir müssen unsere Parteigenossen überall hineinwählen, eher haben ihre Übergriffe kein Ende. Und jetzt müssen wir zusammenstehen und aushalten! Muß es sein, so ist es besser auf einmal totzuhungern als langsam!«
Sie antworteten nicht, sondern scharten sich dicht um ihn und hörten schwerfällig zu, gar zu entsetzlich hart und gründlich wurde hier gelauscht. Diese Männer hatten mitten in der Not und dem Elend des Winters ihrem einzigen Ausweg Streik erklärt – woran sie jetzt noch denken mochten? Pelle sah sich im Kreise um und erschrak über ihren stummen Mut. Dieses drohende Schweigen durfte nicht sein, wozu konnte es führen? Irgend etwas überwältigendes, das sich nicht beherrschen ließ, schien ihrer steinharten Stummheit entspringen zu wollen! Er sprang auf einen Steinhaufen.
»Kameraden!« rief er mit mächtiger Stimme, »dies hier ist nur ein Übergang – wie der Fuchs sagte, als sie ihm den Pelz abzogen! Die Kleider haben sie uns genommen und auch das meiste vom Essen und Trinken und der häuslichen Gemütlichkeit, jetzt wollen sie versuchen, uns auch das Fell abzuziehen. Nun gilt es – vorwärts oder zurück! Die große Prüfungszeit ist vielleicht da, jetzt müssen wir für das einstehen, was wir gewollt haben! Haltet zusammen, Kameraden! Verlauft euch nicht und gebt nicht nach! Es ist hart genug, dies hier; bedenkt aber, wir stehen in dem großen Winter, der Aufsteigen verheißt! Die Nacht ist immer am schlimmsten, ehe der Tag graut! Und sollten wir uns davor fürchten, ein wenig zu leiden – wir, die wir seit Jahrhunderten gelitten und geduldet haben? Daheim sitzen unsere Frauen und grämen sich – vielleicht werden sie ärgerlich auf uns sein. Wir hätten doch wenigstens annehmen können, was sich uns anbot, sagen sie. Aber wir können nicht fortfahren mit anzusehen, daß unsere Lieben daheim trotz unserer angestrengten Arbeit dahinwelken. Bisher ist die Arbeit des armen Mannes wie ein zweckloses Flehen zum Himmel gewesen: Verschone uns vor Hunger und Schmutz, vor Elend und Kälte, gib uns Brot und wiederum Brot! Verschone unsere Kinder mit unserem Schicksal, laß ihre Glieder nicht welken und ihren Geist in Blödsinn hinsterben! – Das ist unser Gebet gewesen, aber es gibt nur ein Gebet, das taugt, und das ist, dem Bösen zu trotzen! Wir sind das auserwählte Volk, und deswegen müssen wir Halt sagen! Wir wollen nicht länger mitmachen – um unserer Frauen und Kinder und deren Kinder willen! Ja, aber was geht uns die Nachwelt an? Freilich geht sie uns was an – gerade uns! Waren eure Eltern wie ihr? Nein, die wurden in Staub und in Armut erdrückt und krochen demütig vor der Macht und den Großen. Woher haben wir denn alles das in uns, das uns so stark macht und uns veranlaßt, uns zusammenzuscharen? Die Zeit hat stillgestanden, Kameraden! Sie hat ihre Finger auf unsere Brust gesetzt und gesagt: Das sollt ihr tun! Hier, wo wir stehen, hört das Alte auf und das Neue beginnt, und darum haben wir unsere Gerätschaften ja hingeworfen, mit der Not vor Augen – so etwas ist noch nie zuvor gesehen worden! Wir wollen das Leben umkehren und es gut für den armen Mann machen, für alle Zeiten! Ihr, die ihr so oft Leben und Wohlfahrt für ein Zweikronenstück gewagt habt – jetzt haltet ihr die ganze Zukunft in eurer Hand. Haltet jetzt aus, ruhig und besonnen! – Und ihr werdet niemals vergessen werden, solange es Arbeiter auf Erden gibt! Dieser Winter wird der letzte sein, wenn wir nur ausharren, dahinter liegt das Land, nach dem wir gewandert sind. – Kameraden! Durch uns wird es tagen!«
Pelle wußte selbst nicht, welche Worte er sprach. Er fühlte nur, daß irgend etwas durch ihn redete – das Mächtigste, das niemals log. Es lag ein leichter, prophetischer Klang über seiner Stimme, der mit fortriß, sein Blick flammte. Vor ihren Augen erhob sich eine Gestalt aus dem erdrückenden Winter und ragte im Licht auf, eine Gestalt, die sie selber waren – und doch ein junger Gott. Er stieg neugeboren aus dem Elend selber auf, schlug den schweren Schicksalsglauben beiseite und schenkte statt dessen einen neuen Glauben – den lichten Glauben an die eigene Kraft! Sie schrien zu ihm empor, zuerst einzelne Stimmen, dann alle. Er sammelte ihre Schreie zu einem mächtigen Lebehoch auf die neue Zeit. – –
Jeden Tag stellten sie sich ein, nicht um zu arbeiten, sondern um dort in stummem Protest zu stehen. Wenn die Aufseher die Arbeiter vorriefen, standen sie in stummen Gruppen da, drohend wie ein dunkler Felsen. Hin und wieder riefen sie einen Fluch über sie aus, über die, die sie im Stich gelassen hatten. Die Stadt unternahm nichts. Man hatte den Notleidenden eine helfende Hand gereicht, und sie hatten danach geschlagen – jetzt mußten sie selbst die Folgen hinnehmen. Der Unternehmer hatte die Erlaubnis erhalten, die Arbeit ganz aufzuheben, hielt sie aber mit ein paar Dutzend Streikbrechern im Gange, um die Arbeiter zu reizen.
Drinnen auf dem großen Terrain herrschte Todesruhe vor der Ecke, wo der kleine Trupp arbeitete, einen Schutzmann zur Seite, wie Zuchthausgefangene. Die Schubkarren lagen mit dem Boden in die Höhe da; es sah aus, als sei Pest oder Seuche über den Arbeitsplatz hingegangen.
Die Streikbrecher waren Leute aus allen Berufen, einige von den Arbeitslosen schrieben ihre Namen und Adressen nieder, um sie in den »Arbeiter« zu setzen. Einer von Stolpes Fachvereinsleuten war auch dazwischen, er war ein besonnener Familienvater und hatte seit den ersten Tagen an der Bewegung teilgenommen. »Es ist ein Jammer um ihn,« sagte Stolpe, »er ist ein alter Arbeitskamerad von mir und bisher immer ein guter Kamerad gewesen. Nun werden sie ihn hart anfassen im Blatt – wir sind dazu gezwungen. Es kann dem Stand nicht damit gedient sein, daß einer von seinen Vertretern hingeht und zum Verräter wird.«
Frau Stolpe war unglücklich. »Es ist solche nette Familie,« sagte sie, »wir haben immer mit ihnen verkehrt – und ich weiß, daß sie lange gehungert haben; er hat eine junge Frau, Vater, da ist es nicht so leicht zu widerstehen.«
»Mir tut es selbst leid«, erwiderte Stolpe. »Aber man ist dazu gezwungen, sonst wird man der Parteilichkeit beschuldigt. Und mir soll niemand kommen und sagen, daß bei mir das Ansehen der Person gilt.«
»Ich möchte wohl hingehen und mit ihm reden«, sagte Pelle. »Vielleicht gibt er es dann auf.«
Er bekam die Adresse und ging nach Feierabend hin. Es war ein kahl rasiertes Heim mit vier kleinen Kindern; eine schwere Luft lag darüber. Der Mann, der schon etwas zu Jahren, aber noch kräftig war, saß vergrämt da und verzehrte sein Essen, während die Kinder mit dem Kinn auf dem Tischrande lungerten und aufmerksam jeden Bissen verfolgten, den er nahm. Die junge Frau ging hin und her; sie trug ihm das einfache Essen mit einer eigenen liebevollen Bewegung auf.
Pelle brachte die Frage aufs Tapet, es wurde ihm schwer, diesem alten Veteranen gegenüber. Aber gesagt werden mußte es ja.
»Ich weiß es recht gut«, sagte der Mann und nickte vor sich hin. »Du brauchst deine Lektion nicht anzufangen, denn ich bin selbst vom ersten Tage an mit dabei gewesen, und bisher habe ich meine Verpflichtung gehalten; nun hat es mit mir ein Ende. Was willst du hier, Junge? Hast du Frau und Kinder, die nach Brot schreien, dann denk an deine Eigenen!«
»Wir schreien nicht, Hans!« sagte die Frau still.
»Nein, das tut ihr nicht, und das ist noch viel schlimmer! Kann ich es denn mit ansehen, daß ihr hier herumgeht und abmagert und friert? Zur Hölle mit den Kameraden und ihren großen Worten, wozu haben die geführt? Vorher haben wir ein klein wenig gehungert, und jetzt hungern wir mächtig – das ist der Unterschied! Laßt mich in Ruhe, sag' ich euch! Zum Teufel auch, warum will man mich nicht in Ruhe lassen?«
Er nahm einen Schluck Branntwein aus der Flasche. Die Frau schob ihm ein Glas hin, aber er stieß hart dagegen.
»Sie wollen dich morgen ins Blatt setzen«, sagte Pelle zögernd. »Ich wollte dir das nur sagen!«
»Ja, und von mir schreiben, daß ich ein Schwein bin und ein schlechter Kamerad, was? vielleicht auch, daß ich meine Frau prügele. Aber sie wissen ja selbst, daß das Lügen sind, aber was geht das mich an? – Willst du einen Schluck haben?«
Nein, Pelle hatte kein Verlangen nach etwas. »Na, denn tue ich es selbst«, sagte der Mann und lachte boshaft. »Jetzt kannst du ja bezeugen, daß ich ein Schwein bin – ich trink' aus der Buddel! Und einen anderen Abend kannst du wiederkommen und am Schlüsselloch lauschen, vielleicht hörst du dann auch, daß ich meine Frau prügele.«
Die Frau fing an zu weinen.
»Ja, zum Teufel auch – sie können mich ja in Ruhe lassen!« sagte der Mann trotzig.
Pelle mußte unverrichteter Sache gehen.