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XIII

Aus dem Grund der »Arche« stieg ein eigentümlicher Laut auf, strauchelnde, ländliche Fußtritte, die in zu schwerem Schuhzeug über das Steinpflaster zogen. Alles Blut stieg Pelle zu Herzen, er warf die Arbeit hin und war mit einem Satz auf der Galerie, fest überzeugt, daß es nur ein eitler Traum sei. Aber da unten auf dem Hof stand Vater Lasse leibhaftig und starrte durch das Holzwerk hinauf, als wolle er seinen alten Augen nicht glauben. Auf dem Rücken hatte er einen Sack mit Gerümpel.

»Hallo!« rief Pelle und nahm die Treppe in langen Sprüngen, »hallo!«

»Guten Tag, mein Junge!« sagte Lasse mit einer Stimme, die vor Gemütsbewegung zitterte, und betrachtete den Sohn mit seinen wimperlosen Augen. »Ja, da hast du Vater Lasse – wenn du ihn haben willst. Aber wo bist du eigentlich hergekommen? Mich deucht, du bist vom Himmel 'runtergefallen?«

Pelle nahm dem Vater den Sack ab. »Komm du nur mit herauf«, sagte er. »Du kannst dich der Treppe ruhig anvertrauen, die ist solider, als sie aussieht!«

»Denn hat sie ja Ähnlichkeit mit Lasse«, antwortete der Alte und trampelte hinter ihm drein; die Strippen seiner Halbstiefel guckten nach den Seiten zu hinaus, er war ganz der Alte. Bei jedem Absatz blieb er stehen und machte seine Bemerkungen über die Beischläge. Pelle mußte ihn zum Schweigen ermahnen. »Hier spricht man nicht laut über alles. Das kann so leicht als Kritik aufgefaßt werden«, sagte er.

»Nein, wirklich? Ja, man muß lernen, solange man lebt – Seh mal einer an, hier oben stehen sie und waschen! Das soll wohl ein ganzer Hofplatz sein! – Ach ja, ich will auch nichts mehr sagen – und daß sie übereinander wohnten, das hab' ich ja gewußt, aber daß hier so wenig Platz is, das hab' ich mir doch nich' gedacht. Daß man den Hofplatz oben draußen vor die Küchentüren hinhängt, einen über den anderen, das is ja gerade so wie die Vögel, die machen alles auf einem Zweig. Herr Gott, wenn nu das Ganze mal eines schönen Tages 'runterrummelt!«

»Hier wohnst du also?« rief er aus und sah sich enttäuscht in der schrägen Kammer um. »Ich hab' oft darüber nachgedacht, wie du dich wohl hier drüben eingerichtet hätt'st. Vor ein paar Tagen traf ich einen Mann zu Hause, der sagte, daß sie schon von dir sprächen; aber deiner Wohnung kann man das nich' ansehen. Na, weit bis zum Himmel hast du ja jedenfalls nich'.«

Pelle schwieg. Er liebte jetzt seine Bude und sein ganzes Leben, aber Vater Lasse fuhr fort, auf sein bürgerliches Wohlergehen zu hoffen, und fühlte sich beschämt. »Du hast dir am Ende eingebildet, daß ich in einem von den königlichen Schlössern wohnte?« sagte er ein wenig bitter.

Lasse sah ihn so herzensgut an und legte beide Hände auf seine Schultern. »So groß und stark wie du geworden bist, Junge«, sagte er bewundernd. »Ja, und hier hast du mich also. Aber ich will dir nicht zur Last liegen. Nein, aber daheim wurde es so trübselig, nachdem das mit Dues passiert war, daß ich mich aufmachte, ohne dir Nachricht zu schicken. Und dann könnt' ich auch gratis mit einem Schiffer 'rüberkommen.«

»Aber was ist denn das mit Dues?« fragte Pelle. »Doch wohl nichts Schlimmes?«

»Herr Gott, weißt du das nich'? Er hat ja strafende Hand an eine Frau gelegt, als er das mit dem Konsul entdeckte. Er war ja ganz blind gewesen und hatte nur das Beste von ihr geglaubt bis er sie bei der Sünde ertappte, da hat er ihr das Leben genommen, ihr und den Kindern, die sie zusammen hatten, und is zur Obrigkeit gegangen und hat sich selbst angezeigt. Aber das Jüngste, dem jeder ansehen konnte, daß es von dem Konsul war, das hat er nich' angerührt. Ach ja, es is ein schweres Unglück! Ehe er sich bei der Polizei meldete, kam er zu mir, er hatte wohl das Bedürfnis, noch ein letztes Mal bei einem zu sein, der es ohne Falsch mit ihm meinte. ›Ich hab' Anna erdrosselt‹, sagte er, sobald er sich hingesetzt hatte. ›Das mußte so sein, da gibt es keinen Kummer! Da gibt es keinen Kummer! Die Kinder, die meine waren, für die hab' ich auch redlich gesorgt!‹ – Ja, ja, er hatte redlich für die Ärmsten gesorgt! – ›Ich wollt' dir bloß Adieu sagen, Lasse, mein Leben is nu verspielt, so glücklich wie ich in meiner Genügsamkeit hätt' sein können. Aber Anna wollt' ja in die Höhe, und ich hab' mein Vorwärtskommen ihrer Schande zu verdanken gehabt – ohne daß ich es gewußt habe. Ich wollt ja nichts weiter als das geringe Glück des armen Mannes – eine gute Frau und ein paar Kinder – und nu muß ich ins Zuchthaus! Gott sei Dank, daß Anna das nich' noch erlebt hat! Sie war feiner von Gefühl als die anderen und mußt' betrügen, um vorwärtszukommen?‹ – So saß er da und schwatzte von der Toten, ohne daß man auch nur Gefühl bei ihm merken konnte. Ich konnt' ihn ja nich' merken lassen, wie krank zumut mir war. Für ihn war es ja das beste, solange sein Gewissen schlafen konnt'. – ›Deine Augen tränen, Lasse,‹ sagte er leise, ›du sollt'st sie ein wenig baden, Urin soll gut sein!‹ – Ja, weiß Gott, meine Augen tränten, Herr du meines Lebens, ja. Dann stand er auf. ›Du hast auch nich' mehr viel, was sich des Lebens verlohnt, Lasse‹, sagte er und gab mir die Hand. – ›Du wirst nu alt. Aber Pelle mußt du von mir grüßen, – der kommt sicher vorwärts!‹«

Pelle saß da und lauschte trübselig der traurigen Geschichte. Aber bei den letzten Worten mußte er zittern. Er hatte schon so oft den Klang dieser Erwartung, die sie alle in sein Glück setzten, gehört und sich darüber gefreut; es war ja nur ein Echo der Zuversicht in ihm selbst. Aber nun legte es sich auf ihn wie eine Last. Stets waren es die Umsinkenden, die sich an sein Glück anklammerten; indem sie sanken, schoben sie ihre Hoffnungen auf ihn hinüber. Das war eine traurige Art und Weise, wie ihm das Glück prophezeit wurde. Einen entsetzlich schweren Segen sprach dieser zum Tode Verurteilte über ihn und sein Vorwärtskommen aus, indem er auf das Schafott trat. Er saß da und starrte ohne Lebenszeichen zu Boden, mit einem brütenden Ausdruck; seine Seele schauderte unter einer Ahnung von übermenschlichen Lasten und warf ein plötzliches Licht vor ihm her: nie konnte es ein Glück für ihn allein geben – das Märchen war tot! Er war mit allen den anderen verbunden und mußte Glück und Unglück mit ihnen teilen; darum gaben die Verunglückten ihm ihren Segen. Drinnen in seiner Seele fühlte er Dues schwere Wanderung, als sei er es selbst, der das Entsetzliche trug. Und Schön-Anna, die über ihre eigene Familie hinwegstreben mußte und sie in den Staub trat! – Nie wieder konnte er sich losreißen und ganz froh werden, so wie früher! Er war schon viel Elend begegnet und war dahin gekommen, seine Ursache zu hassen. Hier aber reichte der Haß nicht aus. Dies war die große Trauer selber!

»Ach ja,« seufzte Lasse, »ein Glück, daß Bruder Katte das alles nich' erlebt hat. Er hat sich für seine Kinder zunicht gearbeitet und liegt nun zum Dank dafür auf dem Armenkirchhof. Albinus, der als Taschenspieler in den Landen herumzieht, war der einzige, der einen Gedanken dafür hatte; aber das Geld kam zu spät, obgleich er es per Telegraph geschickt hat. Hast du je so was von einem Tausendkünstler gehört – Geld aus England nach Bornholm durch einen Telegraphendraht zu schicken? Ein verteufelter Akrobat! Na, Bruder Kalle konnte ja auch so allerlei Taschenspielerkünste, das hat er nich' von Fremden. Alfred hat bei dem Begräbnis gar nichts von sich hören lassen. Der gehört ja jetzt zu den Feinen und hat alle Verbindung mit seinen armen Verwandten abgebrochen. Er is zu verschiedenen Ehrenämtern gewählt, und gegen die Armen soll er ein wahrer Bluthund sein – gegen seine eigene Sippe is der Mensch ja immer am schlimmsten. Aber die Feinen, die sollen ja große Stücke auf ihn halten.«

Pelle vernahm die Rede des Alten nur wie ein eintöniges Tropfen. Due, Due – der gutmütigste, beste Mensch, den er kannte, der Annas uneheliches Kind gegen die eigene Mutter verteidigte und es wie seine eigenen liebte, weil es wehrlos war und seiner Liebe bedurfte – er sollte nun seinen Kopf auf das Schafott legen! So teuer erkaufte er die Erfüllung seines Wunsches, ein paar Pferde zu bekommen und Fuhrmann zu werden. Pferde und Wagen hatte er auf Kredit genommen und war selbst für Zinsen und Anzahlungen aufgekommen – der Konsul hatte nur für ihn gebürgt. Und für dieses geringe Glück wanderte er nun den Weg der Schande! Die Schritte hallten in Pelles Seele wider; er faßte nicht, wie er es ertragen sollte. Er sehnte sich nach seinem früheren Stumpfsinn.

Lasse schwatzte sich darüber hinweg. Für ihn war es das Schicksal – schwer und traurig, das aber nicht anders sein konnte. Das Wiedersehen hatte auch so vieles in ihm ausgelöst, er war aufgeregt. Alles, was er sah, amüsierte ihn. Wie konnte man doch nur auf den Einfall kommen, Menschen hier drüben so zusammenzustauen – wie Heringe in einer Tonne! Und daheim auf Bornholm lagen ganze Strecken, wo kein Mensch wohnte. Sich dem Fenster zu nähern, wagte er nicht, er hielt sich vorsichtig ein Stück davon zurück im Zimmer und sah auf die Dächer hinaus. Das war ja auch ganz verrückt! Man konnte ebensogut die Ähren auf einem Kornfelde zählen wie die Häuser hier.

Pelle rief Marie, die sich bescheiden in ihrer Stube aufgehalten hatte. »Das ist meine Pflegemutter«, sagte er und faßte sie um die Schulter. »Und das ist Vater Lasse, den du schon liebhast, wie du immer sagst. Kannst du uns jetzt etwas Frühstück besorgen?« Er gab ihr Geld.

»Die is hübsch, ja, das is sie«, sagte Lasse und wühlte in seinem Sack. – »Sie soll was geschenkt haben. – Da hast du einen roten Apfel,« sagte er zu ihr, als sie zurückkam, »den mußt du essen, dann wirst du meine Braut.« Marie lächelte ernsthaft und sah Pelle an.

Sie liehen den Ziehwagen von der Trödlerin und fuhren nach der Apfelschute hinüber, um Lasses Sachen zu holen. Das meiste hatte er verkauft, um nicht mit zu viel Bürde in die Stadt zu ziehen. Aber eine Bettstelle mit Betten und noch allerlei anderes hatte er doch behalten. »Und dann habe ich dir noch Grüße zu bringen von Sort und Marie Nielsen«, sagte er.

Pelle errötete. »Ihr bin ich ein paar Worte schuldig, aber ich habe es hier drüben ganz vergessen! Mein Bild habe ich ihr auch halbwegs versprochen. Nun will ich sehen, daß ich das erledige.«

»Ja, tu du das«, sagte Lasse. »Ich weiß ja nich', wie nahe ihr einander gestanden habt, aber sie war eine gute Frau. Und die, die zurückbleiben, sind traurig, wenn sie vergessen werden – denke daran!«

Schon am Nachmittag machte sich Lasse ein wenig zurecht und bürstete seine Kopfbedeckung ab.

»Was nun?« fragte Pelle, »du willst doch nicht allein ausgehen?«

»Ich will ausgehen und mir die Stadt ein wenig ansehen!« erwiderte Lasse, als ob das ganz selbstverständlich wäre. »Ich will mir etwas Arbeit suchen, und vielleicht geh ich auch hin und guck mir den König einmal an. Du brauchst mir nur zu erklären, in welcher Richtung ich mich halten muß.«

»Du solltest lieber warten, bis ich mitkommen kann – du verirrst dich bloß.«

»So, tue ich das?« erwiderte Lasse beleidigt. »Ich bin doch ganz allein hierhergefunden, sollt' ich meinen.«

»Ich kann ja mit dem alten Mann gehen«, sagte Marie.

»Ja, geh du mit dem alten Mann, dann kann doch niemand sagen, daß er die Jugend verloren hat«, rief Lasse scherzend aus und nahm sie bei der Hand. »Wir beide werden, glaub' ich, gute Freunde werden.«

Gegen Abend kamen sie wieder. »Menschen sind hier genug,« sagte Lasse keuchend – »aber Überfluß an Arbeit scheint hier nich' zu sein. Ich hab' nach dem einen und nach dem anderen gefragt, aber keiner will mich haben. Na, das gibt sich wohl! Sonst kann ich wohl einen Stachel an meinen Stock setzen und anfangen, das Papier auf der Straße aufzusammeln, so wie die anderen alten Männer; das kann ich wenigstens noch.«

»Aber dazu gebe ich meine Erlaubnis nicht«, erwiderte Pelle heftig. »Mein Vater soll kein Straßensammler sein.«

»Ja – aber etwas will ich doch zu tun haben, sonst reise ich wieder nach Hause. Ich will hier nich' los und ledig gehen, während du dich abarbeitest.«

»Du kannst dich wirklich ausruhen und es ein wenig gut haben in deinen alten Tagen, Vater, aber das wird sich schon finden.«

»Ich soll mich ausruhen? Ich soll wohl auf dem Rücken liegen und mich futtern lassen wie ein Wickelkind; ich glaub' gar nich', daß mein Rücken das aushalten könnte!«

Sie hatten Lasses Bett mit dem Fußende unter dem schrägen Dach aufgestellt, da war gerade Platz genug dafür. Pelle war ganz kindlich zumute, als er zu Bett ging; es waren viele Jahre her, seit er in derselben Stube mit dem Vater geschlafen hatte. Aber in der Nacht quälten ihn böse Träume, Dues schreckliches Schicksal verfolgte ihn im Schlaf. Seine kräftige, gutmütige Gestalt wanderte und wanderte in dem endlosen Grau dahin, tief gebeugt, die Hände auf dem Rücken gefesselt, eine schwere eiserne Kette um den Hals und die Augen zu Boden gerichtet, als suche er den Abgrund selbst. Pelle erwachte dadurch, daß Vater Lasse über sein Bett gebeugt stand und ihm sein Antlitz befühlte, wie damals, als er noch ein Kind war.

»Was hast du nur, Junge?« fragte der Alte bekümmert. »Du bist doch nich' krank?«


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