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Die letzten Verhaltungsmaßregeln der Arbeiter versetzten die Stadt in furchtbare Empörung. Sie bekamen mit einem Schlag die ganze Öffentlichkeit gegen sich; die Presse wütete und stieß Drohungen aus. Selbst die freisinnigen Blätter machten geltend, daß die Arbeiter die Gesetze der menschlichen Humanität überschritten hätten. Aber der »Arbeiter« machte kaltblütig darauf aufmerksam, daß es sich für die Unterklassen um Leben oder Tod handelte. Sie seien bereit, bis zum äußersten zu gehen; sie hätten es noch in der Hand, Wasser und Gas abzusperren – die Betriebsmittel und die Lebensmittelversorgung der Hauptstadt.
Da wandte sich der Druck gegen die Arbeitgeber – irgendwo mußte man sich ja Luft schaffen. Wofür wurde denn im Grunde gekämpft? – Um eine ganz einfache Machtfrage! Sie wollten allein bestimmen und Hand- und Halsrecht über ihre Arbeiter haben. Die Finanzleute, die hinter den großen Unternehmungen standen, hatten die Sache jetzt auch satt. Es wurde nachgerade eine teure Geschichte, und der Vorteil, der daraus erwuchs, wenn das Zusammenhalten der Arbeiter zerbrochen würde, war nicht groß, sobald die Industrie gleichzeitig vernichtet würde.
Pelle sah, wie das Werk wuchs, während er in den kleinen Straßen umherging und Vater Lasse suchte. Jetzt also vollzog sich die Sache von selbst, und er konnte ruhen. Eine unendliche Last war von seinen Schultern genommen, und nun wollte er auch die Erlaubnis haben, die Überreste seines eigenen Glückes zu sammeln – und endlich einmal etwas für den sein, der sich immer für ihn geopfert hatte. Jetzt wollten er und Lasse eine Wohnung zusammen nehmen und das alte Zusammenleben wieder aufnehmen; er freute sich darauf. Vater Lasses Gemüt war doch das einzige, was niemals an dem seinen zerschellen konnte, sondern das durch alles hindurch gehalten hatte; es war wie die Liebe einer Mutter.
Lasse hauste nicht mehr in seinem Nest hinter der Bäckerstraße. Das alte Frauenzimmer, mit dem er zusammen gelebt hatte, war vor kurzem gestorben, und da war er verschwunden.
Pelle fragte sich weiter und, bekannt wie er unter den Armen war, wurde es ihm nicht schwer, die Spur des Alten zu verfolgen, die allmählich nach Kristianshafen hinauswies. Während seines Forschens stieß er auf viel Elend, das ihn aufhielt. Jetzt, wo sich der Kampf selbst abspielte, sprang ihm die Not in die Augen, und altes Mitleid quoll stark in ihm auf. Er half, wo er konnte, stampfte Auswege aus der Erde mit seiner gewohnten Energie.
In der »Arche« selbst war Lasse nicht gewesen, aber irgend jemand hatte ihn in arger Verfassung auf der Straße gesehen; wo er sich aufhielt, wußte niemand. »Hast du schon in den Kellern des »Handelshauses« da drüben nachgesehen?« fragte der alte Nachtwächter – »da hausen viele in diesen schlimmen Zeiten. Jeden Morgen um sechs Uhr schließe ich den Keller auf, und dann rufe ich hinunter und warne sie, damit sie nicht gefaßt werden. Wenn ich dann glücklich weg bin, kommen sie heraufgeschlichen. Mir ist, als hätte ich von einem alten Mann gehört, der da unten liegen soll, aber sicher bin ich nicht, denn ich habe ja Watte in den Ohren. Dazu bin ich in meiner Profession gezwungen – um nicht allzuviel zu hören!« Er ging mit Pelle hinüber.
Das »Handelshaus«, das im achtzehnten Jahrhundert das Palais einer der großen Kristianshafener Handelsfamilien gewesen war, wurde jetzt als Speicher benutzt; es lag nach einem der Kanäle hinaus. Die tiefen Keller, die sich ganz unter dem Wasserspiegel des Kanals hinzogen, standen jetzt leer da. Es war stockdunkel und unwegsam da unten, die Luft legte sich fressend auf die Stimme. Sie leuchteten zwischen den Pfeilern herum, hier und da fanden sie ein verlassenes Nachtlager aus Stroh. »Hier ist niemand«, sagte der Wächter. Pelle rief und hörte ein schwaches Räuspern; tief drinnen in einem der Mauerlöcher lag Vater Lasse auf einer Matratze. »Ja, hier liege ich und warte auf den Tod«, flüsterte er. »Jetzt währt es nicht mehr lange; die Ratten haben schon angefangen, an mir herumzuschnüffeln.« Die naßkalte Luft hatte ihm die Stimme genommen.
Er war überhaupt in jammervoller Verfassung, aber Pelles Anblick belebte ihn doch so weit, daß er auf den Beinen stehen konnte. Sie brachten ihn nach der »Arche« hinüber, der alte Nachtwächter trat ihnen seine Stube ab und zog selbst zu der Witwe Johnsen hinauf. Da er des Tages schlief und des Nachts auf Arbeit war, ließ es sich einrichten, obwohl sie nur ein Bett hatte.
Als Lasse in das warme Bett gekommen war, lag er da und zitterte; ganz klar im Kopf war er nicht. Pelle wärmte Bier, der Alte sollte eine Schwitzkur durch machen; von Zeit zu Zeit setzte er sich an das Bett und sah den Vater bekümmert an. Lasse lag da und klapperte mit den Zähnen, die Augen hatte er geschlossen; hin und wieder versuchte er zu sprechen, konnte aber nicht.
Der warme Trank half ihm ein wenig, das Blut strömte wieder in die toten, eiskalten Hände, und die Stimme brach sich Bahn.
»Glaubst du, daß wir einem strengen Winter entgegengehen?« fragte er plötzlich und wandte sich nach der Seite um.
»Wir gehen jetzt dem Sommer entgegen, lieber Vater«, erwiderte Pelle. »Aber du mußt nicht mit dem Rücken bloßliegen.«
»Mich friert so schrecklich – beinahe so, wie ich im Winter gefroren habe; das möchte ich nicht gern noch mal durchmachen. Die Kälte greift mir so in das Rückgrat hinein – großer Gott, die armen Leute, die auf See sind!«
»Um die brauchst du nicht besorgt zu sein, sieh nur zu, daß du wieder gesund wirst – heute haben wir Sonnenschein und schönes Wetter auf See!«
»Laß mir dann doch ein wenig Sonnenschein hier herein«, sagte Lasse gereizt.
»Da ist eine große Brandmauer vor dem Fenster, Vater«, sagte Pelle und beugte sich über ihn nieder.
»Na ja, ich werde wohl schon fertig werden, das bißchen Zeit, das ich noch übrighabe! Und dem Nachtwächter kann das ja egal sein; der wacht des Nachts und sieht die Sonne doch nicht. Das ist eigentlich ein merkwürdiger Beruf! Aber es ist ja gut, daß jemand über uns wacht, während wir schlafen!« Lasse lag da und wackelte ungeduldig mit dem Kopf.
»Ja, sonst kämen sie wohl in der Dunkelheit der Nacht und nähmen uns unser Geld«, sagte Pelle scherzend.
»Ja, das würden sie wohl tun!« Lasse versuchte zu lachen. »Wie steht es denn mit deiner Sache, Junge?«
»Die Verhandlungen sind im Gange; gestern haben wir die erste Versammlung abgehalten.«
Lasse lachte, so daß es in seinem Halse siedete. »Dann haben die Feinen den Most doch nicht länger vertragen können! Ja, ja, ich hab' ja Bescheid gewußt, wenn ich auch da unten krank in der Dunkelheit gelegen habe. Des Nachts, wenn die anderen hereingeschlichen kamen, erzählten sie mir davon: dann haben wir ordentlich gelacht über deinen Einfall. – Aber mußt du denn nicht bei den Verhandlungen dabei sein?«
»Nein, ich habe mich entschuldigt – ich habe keine Lust, da zu sitzen und an den Enden eines Paragraphen zu zerren. Jetzt will ich auch bei dir sein, und dann wollen wir beide es uns gemütlich machen.«
»Ich bin bange, daß wir nicht mehr viel Freude voneinander haben werden, Junge!«
»Du bist ja jetzt wieder ganz munter. Morgen sollst du sehen …«
»Ja – nein! Der Tod betrügt nicht. Ich habe den Keller nicht vertragen können.«
»Warum hast du das auch nur getan, Vater? Du wußtest doch, daß dein Platz zu Hause dastand und auf dich wartete.«
»Ja, du mußt mir meinen Eigenwillen vergeben, Pelle. Aber, um beim Kampf zu helfen, war ich zu alt, und dann dachte ich: du willst ihnen wenigstens nicht zur Last liegen, solange die Sache noch währt! Auf die Weise habe ich auch mein Teil dazu beigetragen. – Und glaubst du wirklich, daß was dabei herauskommt?«
»Ja, jetzt siegen wir – und dann fängt die neue Zeit an für den armen Mann!«
»Ach ja, an dem Schönen habe ich keinen Anteil mehr. Dies war, als diene man bei dem bösen Kobold, wo über der Tür steht: Heute arbeiten, morgen essen! Und morgen, das kam nie. Was mir an Gutem widerfahren ist, haben mir die Meinen geschenkt; ein armer Vogel zupft sich ja die Federn aus, um den anderen zu bedecken. Ich kann mich auch nicht beklagen; böse Tage habe ich gehabt, aber es gibt wohl Menschen, die es noch schlimmer gehabt haben. Und die Frauenzimmer sind immer gut gegen mich gewesen. Bengta war ja ein Gnatzpott, aber sie meinte es nicht böse; Karna hat mir Geld und Gesundheit geopfert. Gott sei Dank, daß sie es nicht mehr erlebt hat, wie sie mir den Hof wegnahmen. Denn ich bin auch Hofbesitzer gewesen, das hätte ich beinah in all meinem Elend vergessen. Ja, und die alte Liese – die Bettelliese, wie sie sie nannten – hat ja Brot und Bett mit mir geteilt! Sie ist am Hunger gestorben, so flott wie sie tat. Willst du das wohl glauben? Iß! sagte sie, wir haben Essen genug! Und ich Teufel aß die letzte Kruste auf und ahnte nichts, und am Morgen lag sie tot und kalt an meiner Seite; da war auch nicht eine Faser Fleisch an ihrem ganzen Körper, nur die Haut über den trocknen Knochen. Aber ein Engel Gottes war sie doch! Wir haben das Lied zusammen gemacht, sie und ich. – Ach ja, arme Leute essen einander das Brot vor dem Munde weg.«
Lasse lag eine Weile in Erinnerungen versunken da und fing an zu singen – mit den Gebärden von den Höfen her. Pelle hielt ihn zurück und suchte ihn zur Vernunft zu bringen; aber der Alte glaubte, daß er es mit den Straßenjungen zu tun habe. Als er an den Vers von seinem Sohn kam, da weinte er.
»Weine doch nicht, Vater«, sagte Pelle ganz außer sich und legte seine schwere Stirn gegen die des Alten. »Ich bin ja wieder bei dir!«
Lasse lag eine Weile da und blinzelte mit den Augen, seine Hand tastete über den Kopf des Sohnes hin und her.
»Ja, du bist ja auch bei mir«, sagte er matt – »und ich glaubte, du wärest wieder fort. Weißt du was, Pelle? Du bist alle Zeit das Licht meines Lebens gewesen! Damals, als du zur Welt kamst, war ich ja schon über meine besten Jahre hinaus; dann kamst du, und es war, als wenn die Sonne von neuem geboren würde. Was er wohl mit sich bringt, sagte ich zu mir selbst und hob dich in die Höhe. Du warst nicht größer als eine Dreiviertel-Literflasche. Vielleicht wird er das Glück einfangen, dann fällt auch ein bißchen für dich ab! So dachte ich und habe das immer geglaubt – jetzt muß ich es aufgeben. Aber dein Ansehen habe ich doch noch erlebt. Ein reicher Mann bist du nicht geworden, und das kann auch gleichgültig sein; die Armen sprechen gut von dir. Du hast den Kampf für sie ausgefochten, ohne etwas für deinen eigenen Mund zu nehmen! Jetzt verstehe ich es, und mein altes Herz freut sich darüber, daß du mein Sohn bist!«
Wenn Lasse einschlummerte, legte sich Pelle ein wenig aufs Sofa. Aber viel Ruhe bekam er nicht; der Alte schlief einen Vogelschlaf und schlug jeden Augenblick die Augen auf. Wenn er den Sohn nicht neben sich am Bett sah, lag er da und warf sich hin und her und jammerte im Halbschlaf. Mitten in der Nacht richtete er den Kopf auf und hielt ihn aufrecht in lauschender Stellung. Pelle erwachte.
»Was willst du, Vater?« fragte er und taumelte auf die Beine.
»Ach, ich kann etwas dahinziehen hören – weit da draußen, wo das Meer aufhört! Es ist, als wenn sich die Wasser in den Abgrund stürzen. Aber solltest du jetzt nicht zu Ellen nach Hause gehen? Ich werde über Nacht wohl allein fertig, und sie sitzt vielleicht und ängstigt sich, wo du bleibst.«
»Ich habe zu Ellen geschickt und ihr sagen lassen, daß ich über Nacht nicht komme«, erwiderte Pelle. Der Alte lag da und betrachtete den Sohn mit grübelndem Ausdruck. »Bist du nun auch glücklich?« fragte er. »Es kommt mir vor, als wenn in deiner Ehe etwas ist, wie es nicht sein sollte.«
»Ja, Vater, es geht ganz gut«, erwiderte Pelle mit halberstickter Stimme.
»Nun, dann sei Gott Dank! Eine gute Frau hast du auch in Ellen bekommen, und prächtige Kinder hat sie dir geschenkt – was macht der kleine Lasse? Ich möchte ihn gern noch sehen, ehe ich von dannen ziehe – das ist doch noch ein Lasse!«
»Morgen früh will ich ihn dir holen«, erwiderte Pelle. »Und nun solltest du sehen, daß du noch ein wenig schläfst, Vater, es ist rabenschwarze Nacht!«
Lasse wandte sich fügsam nach der Wand um. Einen Augenblick darauf drehte er vorsichtig den Kopf wieder um, um zu sehen, ob Pelle schlief. Seine Augen konnten nicht quer durch die Stube gelangen, da versuchte er dann, aus dem Bett herauszusteigen; stöhnend fiel er wieder zurück.
»Was hast du nur, Vater?« fragte Pelle bekümmert und war gleich wieder bei ihm.
»Ich wollte nur mal nachsehen, ob du bei dieser Kälte auch was über dich gedeckt hast! Aber meine alten Glieder taugen nicht mehr«, sagte der Alte beschämt.
Gegen Morgen fiel er in einen ruhigen Schlaf, und Pelle veranlaßte Madam Johnson, sich zu ihm zu setzen, während er nach Hause ging, um Klein-Lasse zu holen. Das war kein leichter Gang; aber der letzte Wille des Alten mußte erfüllt werden. Und er wußte, daß Ellen das Kind nicht in fremde Hände ausliefern würde.
Ellens versteinertes Gesicht erhellte sich, als er kam: sie hatte einen Freudenausruf auf den Lippen, aber sein Ausdruck tötete ihn. »Mein Vater liegt im Sterben,« sagte er finster – »er möchte gern den Jungen sehen.« Sie nickte und schickte sich still an, Klein-Lasse zurechtzumachen. Pelle stand am Fenster und sah solange hinaus.
Ihm war wunderlich zumute, daß er nun wieder hier war; die Erinnerungen aus der kleinen Häuslichkeit quollen in ihm auf und machten ihn schwach. Schwester mußte er doch sehen! Ellen führte ihn schweigend in die Schlafkammer; die Kleine schlief in ihrer Wiege, es lag eine wunderlich tiefe Ruhe über ihrem breiten Kopf. Hier drinnen kam ihm Ellen gleichsam näher, er fühlte ihre starken Augen auf sich ruhen. Er nahm sich krampfhaft zusammen und ging in die Stube – hier hatte er nichts mehr zu suchen. In diesem Heim war er ein Fremder! Ein Gedanke tauchte in ihm auf – ob sie wohl fortfuhr mit diesem? Obwohl ihn das gar nichts anging, wollte die Frage doch nicht weichen; er sah sich nach einem Zeichen um, das darauf hindeuten könne. Es war hier ärmlich, alles Überflüssige war von dannen gewandert. Aber eine Schusternähmaschine war hinzugekommen, und darauf lag Arbeit. Streikbrecherarbeit! dachte Pelle ganz mechanisch. Aber nicht verurteilend – zum ersten Male war er froh, Streikbrecherei konstatieren zu können. Sie hatte also angefangen zu nähen und abgearbeitet sah sie aus. Das tat ihm förmlich gut.
»Jetzt ist der Zunge zum Mitgehen fertig«, sagte sie.
Pelle warf einen Abschiedsblick durch die Stube. »Hast du auch irgend etwas nötig?« fragte er.
»Danke! Ich helfe mir selber!« erwiderte sie stolz.
»Du hast das Geld nicht angenommen, daß ich dir Sonnabend schickte.«
»Ich werde selbst fertig – wenn ich nur den Jungen behalten kann. Vergiß nicht, daß du mir einmal gesagt hast, er sollte immer bei mir bleiben.«
»Er muß eine Mutter haben, die ihm frei in die Augen sehen kann – denke daran, Ellen!«
»Daran brauchst du mich nicht zu erinnern«, erwiderte sie bitter. – – –
Lasse war erwacht, als sie kamen. »Ei, das ist doch ein echter Karlsen«, sagte er. »Der artet nach unserer Familie. Sieh doch mal, Pelle, mein Junge! Er hat dieselben Schlappohren, die du als Junge hattest, und die Glückslocke auf der Stirn hat er auch. Der wird schon gut durch die Welt kommen. Ich muß die kleinen Hände küssen, denn die Hände, das ist unser Segen – das einzige Gute, was wir mitbekommen haben. Man sagt, die Welt werde von den Händen armer Leute in die Höhe gehalten; ich möchte wohl wissen, ob das stimmt. Ich möchte wohl wissen, ob das Neue jetzt schon kommt. Denn dann ist es doch ein Jammer, daß ich es nicht mehr erlebe!«
»Du kannst es noch sehr gut erleben, Vater!« sagte Pelle, der unterwegs den »Arbeiter« gekauft hatte und nun dastand und eifrig darin las. »Sie verhandeln mit voller Kraft, und in den allernächsten Tagen ist der Kampf vorbei. Dann wollen wir beide es uns gemütlich machen!«
»Nein, das erlebe ich nicht mehr! Der Tod hat mich gepackt, ich kann merken, daß er mich schon auseinander zupft. Aber wenn was dahinter steckt, dann wäre es ja schön, wenn ich da oben sitzen und sehen könnte, wie sich das Glück an euch vollzieht. Du bist den schweren Weg gewandert, Pelle – Lasse ist nicht dumm! Aber vielleicht bekommst du zur Belohnung einen angesehenen Posten, wenn ihr nun selbst die Leitung übernehmt. Dann mußt du auch daran denken, daß du die Armen nicht vergißt!«
»Das ist noch weithin, Vater! Und zu der Zeit gibt es keine Armen mehr!«
»Du sagst das so gewiß, aber der Armut ist nicht so beizukommen – die hat sich zu tief hineingefressen! Klein-Lasse kann vielleicht ein erwachsener Mann werden, ehe es geschieht. Aber nun solltest du den Jungen wegnehmen, ihm ist es nicht gut, zu sehen, wie das Alter stirbt. Er sieht so blaß aus, kommt er wohl ordentlich an die Sonne?«
»Die Sonne, die haben die Großen geliehen – und sie haben vergessen, sie wieder zurückzugeben«, erwiderte Pelle bitter.
Lasse lag da und zog die Stirn in die Höhe, als strenge er sich mit irgend etwas an. »Ja, ja! Es gehören gute Augen dazu, um in die Zukunft zu sehen, und meine wollen nicht mehr. Aber nun solltest du gehen und den Jungen mitnehmen. Du mußt auch deine Angelegenheiten nicht versäumen, und den Tod kannst du doch nicht überlisten, so klug du auch bist.« Er legte seine welke Hand auf Klein-Lasses Kopf und wandte sich dann nach der Wand herum.
Pelle ließ Madam Johnsen den Jungen nach Norden hinausbringen und blieb selbst bei dem Alten. Ihre Wege waren in den letzten Jahren so wenig zusammengelaufen, für immer sollten sie sich jetzt trennen und weit auseinander führen. Er hatte das Bedürfnis, im Abschied zu verweilen. Während er umherging und Feuer anmachte, Essen aufwärmte und es für Vater Lasse so gut machte, wie er es nur vermochte, lauschte er der springenden Rede des Alten und ließ sich zurückführen in die Sorglosigkeit der Kinderjahre. Wie ein tiefes, gutmütiges Weltgemurmel hatte Lasses eintönige Rede seine Kindheit ausgefüllt; und als er hinauszog, wurde sie nur zu dem nie verstummenden Gerede der Vielen über die Verhältnisse des Lebens. Jetzt ward er still den Weg wieder zurückgeführt von den Tausenden zu Vater Lasse und sah, eine wie große Welt der gutmütige Greis getragen hatte. Alt und abgearbeitet war er immer gewesen, solange Pelle zurückdenken konnte. Die Arbeit raubte dem armen Mann schnell die Jugend und machte dafür sein Alter lang! Aber gerade dies Hinfällige verlieh ihm die übermenschlichen Züge – des Vaters! Groß hatte er das Elend getragen, ohne schlecht oder selbstsüchtig oder engherzig zu werden; immer das Herz voll von Opferfreudigkeit und Zärtlichkeit, stark selbst in seiner Ohnmacht! Wie die Alliebe selber hatte er Pelles ganzes Dasein mit seinem warmen Herzen umgeben, entsetzlich würde es werden, wenn sein gutmütiges Gerede nicht länger hinter allem klang.
Seine fliehende Seele kreiste über der Bahn, die er zurückgelegt hatte, in größeren und größeren Kreisen – wie die Tauben, wenn sie fortfliegen. Jedesmal, wenn er ein wenig Kräfte gesammelt hatte, nahm er sein Leben von neuem auf: »Etwas ist da ja doch immer gewesen, worüber man sich freuen konnte, weißt du, aber vieles ist ja nur ein zweckloser Kampf gewesen. Damals, als ich es nicht besser wußte, ging es ja ganz gut; aber von dem Augenblick an, wo du geboren wurdest, lehnte mein alternder Sinn sich gegen die Zustände auf, und ich konnte keinen Frieden mehr finden. An dir war etwas wie eine Vorbedeutung, und seither ist das immer in mir herumgewandert; mein Trachten ist so ruhelos gewesen, wie das des Schuhmachers von Jerusalem. Es war, als habe irgend etwas mir armseliger Laus plötzlich die Verheißung auf ein schöneres Dasein gegeben, und die Erinnerung daran fuhr fort, in mir zu wandern und zu wandern. Ist es wohl die Sehnsucht nach dem Paradies, aus dem sie uns einstmals herausgejagt haben? dachte ich oft. Willst du es mir wohl glauben, ich armseliger Stümper habe großartige Träume geträumt von einem schönen und sorgenfreien Alter, wo mein Sohn mit Frau und Kindern zu mir kommen und mich in meiner traulichen Stube besuchen würden und wo ich sie ein wenig nett bewirten wollte. Ich hab' das nicht einmal bis zu allerletzt aufgegeben. Ich ging umher und phantasierte von einem Schatz, den ich auf dem Müllplatz finden würde. Ach, ich wollte ja so gern, daß ich euch etwas hinterlassen könnte. Ich habe so armselig wenig für dich sein können.«
»Und das sagst du, der du Vater und Mutter für mich gewesen bist? Während meiner ganzen Kindheit standest du schützend hinter allem; wenn mir irgend etwas zustieß, dachte ich immer: Vater Lasse wird das schon in Ordnung bringen! Und als ich dann heranwuchs – merkte ich bei allem, was ich in mich aufnahm, daß du mir heben halfst. Es wäre wohl auch nur kläglich mit der ganzen Sache gegangen, wenn du mir nicht ein so gutes Erbe gegeben hättest!«
»Nein, sagst du das?« rief Lasse stolz aus. »Sollte ich wirklich meinen Anteil an dem haben, was ihr für die Sache des armen Mannes getan habt? Ja, ja, schön hört es sich auf alle Fälle an! Nein, aber du bist mein Leben gewesen, Junge, und ein schwacher, armer Mann, wie ich war, mußte ich mich wohl über meine Kräfte in dir wundern! Was ich kaum zu denken gewagt hatte, hast du machtvoll ausgeführt! – Und nun liege ich ja hier und habe nicht einmal so viel, daß ich dafür sterben kann. Du mußt mir versprechen, daß du meinetwegen nichts auf dich ladest, was über deine Kräfte geht, sondern die Sache der Armenpflege überläßt. Bisher habe ich mich davon frei gehalten, aber das war nur ein dummer Stolz. Der arme Mann und die Armenpflege gehören nun doch einmal zusammen. Ich habe in der letzten Zeit gelernt, vieles anders anzusehen; und es ist gut, daß ich sterbe – sonst würd' ich schon wollen, könnt' es aber nicht vollbringen. Wenn mir nun diese Gedanken in der Kraft meiner Jugend gekommen wären, so hätt' ich vielleicht irgend etwas Hartes verübt. Ich hätte nicht deine besonnene Klugheit besessen, Eier in einem Hopfensack herumzutragen …«
Am Morgen des dritten Tages war Lasse verändert; es war nur nicht zu erklären, worin die Veränderung bestand. Pelle saß am Bett und las in der neuesten Nummer des »Arbeiters«, als er entdeckte, daß Lasse dalag und ihn ansah. »Ist da was Neues?« fragte er schwach.
»Die Verhandlungen gehen ihren Gang,« sagte Pelle – »aber es ist ja schwer, eine Grundlage zu legen. Es ist mehrmals nahe daran gewesen, daß alles in die Brüche ging.«
»Es zieht sich so damit in die Länge«, sagte Lasse mißmutig – »und heute sterbe ich, Pelle! Da ist so was Ruheloses in mir, obgleich ich mich doch noch gern ein wenig zur Ruhe begeben möchte. Es ist doch sonderbar mit diesem Wandern in einem, um etwas anderes zu erreichen, als was man hat. Als kleiner Junge pflegte ich daheim in Tommelilla um ein Wasserloch herumzulaufen; ich lief wie ein Besessener und glaubte, wenn ich nur ordentlich zuliefe, könnte ich mir selbst auf die Hacken treten. Jetzt habe ich es erreicht; denn nun ist da fortwährend jemand vor mir, so daß ich nicht vorwärts kommen kann; und das ist der alte Lasse, der vertritt mir den Weg! Ich meine immer, ich müßt' ihn einholen; aber ich kann meine alten Anschauungen von der Welt auch nicht wiederfinden, so verändert sind die geworden. An dem Abend, als die großen Herren die Aussperrung beschlossen, stand ich draußen zwischen den vielen anderen armen Leuten und lauschte. Sie tauften den Beschluß mit Hurra und Champagner, und da haben sich meine Ansichten verschoben! Es geht doch wunderlich zu hier auf der Welt. Da unten im Speicherkeller lag ein Maurer, der an den feinsten Palästen der Stadt gebaut hatte; und der hatte nicht einmal ein Dach über seinem Kopf.«
Ein scharfer Zug, wie er ihn nie gehabt hatte, war um seinen Mund zum Vorschein gekommen. Es ward ihm schwer zu sprechen, aber er konnte es nicht lassen. »Worauf du dich auch einläßt, glaub' niemals den Geistlichen«, fuhr er fort, als er ein wenig Kräfte gesammelt hatte. »Das ist mein Schaden gewesen – ich fing zu spät an, selbst über die Sachen nachzudenken. Wir müssen nicht murren – sagen sie – denn das Ganze ist natürlicherweise aus einander emporgewachsen, aus Kleinem zu Größerem und hängt nach Gottes willen zusammen. Danach müßten ja aus unserem Ungeziefer schließlich Vollblutpferde für feine Leute werden, und weiß Gott, ich glaub', das ist möglich! Sie haben ja damit angefangen, Blut aus dem Elend zu saugen, aber sieh nu auch mal, wie sie vor der Kutsche springen! Ach ja – wie wird sich das Neue gestalten? Was meinst du dazu?«
»Es wird gut für uns alle werden, Vater!« antwortete Pelle mit Kummer in der Stimme. »Aber traurig wird es für mich werden, weil du keinen Teil mehr daran hast. Eine schöne Ruhestätte sollst du aber haben, und ich will dir einen großen Stein aus Bornholmer Granit setzen, mit einer schönen Inschrift.«
»Auf den Stein mußt du setzen: Heute arbeiten, morgen essen!« erwiderte Lasse bitter.
Den ganzen Tag lag er im Halbschlummer da. Aber in der Abenddämmerung erhob er den Kopf. »Sind das die Engel, die ich singen höre?« fragte er flüsternd. Der Klang der Stimme war von dannen gewandert.
»Nein, das sind die kleinen Kinder der Fabrikarbeiterinnen. Die Mütter kommen nun bald nach Hause und geben ihnen die Brust; dann hört das auf.«
Lasse seufzte: »Das wird dünne Nahrung geben, wenn sie den ganzen Tag auf Arbeit gehen müssen. Sie sagen, daß die großen Leute Wein zu zwölf und fünfzehn Kronen die Flasche trinken; das hört sich ja so an, als ob sie den kleinen Kindern die Milch wegnehmen und sie in kostbaren Spiritus umsetzen.«
Er lag da und flüsterte, Pelle mußte den Kopf bis an seinen Mund hinabbeugen: »Hand in Hand sind wir dahingewandert, Junge, und doch sind wir jeder seinen Weg gegangen. Du gingst mit der Jugend, und Lasse – – aber Freude hast du mir doch geschenkt.«
Dann erlosch die liebevolle Flamme, die immer gleich klar und ruhig für ihn gebrannt hatte, unter allen den Wechselfällen. Es war, als wende eine Vorsehung ihre Gedanken von ihm ab; das Dasein brach zusammen und versank in dem Raum, und er saß allein auf einem Holzstuhl da. Die ganze Nacht saß er regungslos bei der Leiche und starrte mit leeren Augen in das Unfaßliche hinaus, während die Gedanken sorgsam dem Toten von all dem zuflüsterten, was er gewesen war. Er rührte sich nicht, sondern saß selbst da wie ein Toter, bis Madam Johnsen am Morgen kam, um sich zu erkundigen, wie es gehe.
Da erwachte er und ging hinaus, um das Notwendige zu besorgen.