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Nein, Pelle erzählte Ellen überhaupt nichts mehr. Das hatte sie weggefroren. Sie war wie die Wintersonne: die Seite, die von ihr abgewendet war, erhielt keinen Anteil an ihrer Wärme. Pelle hatte hier keine Ansprüche mehr zu stellen, er hatte sich längst damit abgefunden, daß sie das Stärkste in seinem Wesen nicht decken konnte – und sich an den Gedanken gewöhnt, es allein mit sich herumzutragen. Er war dadurch härter geworden, aber auch mehr Mann.
Daheim kränkelte der Junge – er bekam keine hinreichende Pflege, und die Kleine war unruhig, namentlich des Nachts. Das Jammern der Kinder und das Husten machte es ungemütlich. Ellen war stumm, gleich einem schicksalsschwangeren Rätsel ging sie umher und sorgte für die Kinder. Ihr ausdrucksvoller Blick begegnete niemals dem seinen, aber er fühlte ihn oft auf sich ruhen. Sie war in der letzten Zeit abgemagert, und das verlieh ihrer Schönheit eine phantastische Glut, einen Zusatz von Gift, meinte er zuweilen. Da waren Zeiten, wo er sein Leben gegeben haben würde für ein aufrichtiges, brennendes Liebeszeichen von dieser Frau.
Er verstand sie immer weniger und war oft von unerklärlicher Angst um sie erfüllt. Sie litt entsetzlich unter dem Zustand der Kinder; und wenn sie sie mit blutendem Herzen beruhigte, konnten ihre Worte einen verhängnisvollen Klang enthalten, der ihn schaudern machte. Zuweilen jagte ihn der Gedanke nach Hause, daß sie sich an sich selbst und den Kindern vergriffen habe.
Eines Tages, als er unter diesem Eindruck nach Hause geeilt kam, trat sie ihm lächelnd entgegen und legte fünfundzwanzig Kronen auf den Tisch vor ihm hin.
»Was ist das?« fragte Pelle erstaunt.
»Die hab' ich in der Lotterie gewonnen«, sagte sie.
Also deswegen war ihr Benehmen in den letzten Tagen so wunderlich geheimnisvoll gewesen – als wenn da irgend etwas wäre, das er um keinen Preis wissen dürfe. Sie hatte die letzten Schilling gewagt und war bange gewesen, daß er es entdecken würde.
»Aber wo hast du das Geld denn her?« fragte er.
»Das habe ich mir von meiner alten Freundin Anna geliehen – wir spielen zusammen. Nu können wir Doktor und Medizin für die Kinder bekommen, und brauchen es uns an nichts fehlen zu lassen«, sagte sie.
Das Geld verwandelte sie und führte sie einander wieder warm zu. Ellen wurde zärtlicher gegen ihn denn je zuvor und verhätschelte ihn beständig. Es war etwas Neues über sie gekommen, eine Art Zerknirschung machte sich in ihrem Wesen geltend und machte sie im Verkehr sanft und liebevoll und band Pelle mit Sehnsuchtsbanden an das Heim. Jetzt eilte er wieder nach Hause. Er nahm ihr Wesen als Abbitte für ihr strenges Urteil hin; sie war auch dort verändert und fing an, sich für seine Arbeit, für die Sache zu interessieren und forderte ihn durch mancherlei Hindeutungen auf, fortzufahren. Es zeigte sich, daß sie trotz ihrer scheinbaren Kälte gut Schritt gehalten hatte. Ihr Wesen machte eine wunderliche Verwandlung durch. Sie, die harte, sichere Ellen, wurde milde in ihrem Urteil und unsicher. Sie nahm nicht mehr den scharfen Abstand von den Dingen und konnte den Kopf sanftmütig beugen. Sie war nicht mehr selbstgerecht.
Eines Tages gegen Abend saß Pelle daheim vor dem Spiegel und rasierte sich; er hatte seinen schönen großen Schnurrbart ganz abgeschnitten und war jetzt im Begriff, die letzten Spuren abzurasieren. Ellen amüsierte sich darüber, wie das sein Gesicht veränderte. »Ich kann dich ja kaum wiedererkennen«, sagte sie. Er glaubte, sie würde sich widersetzt haben und seinen Schnurrbart über die Sache stellen; aber sie war sehr liebevoll bei dem Ganzen. Er begriff die Veränderung nicht, die mit ihr vorgegangen war!
Als er fertig war, stand er auf und ging zu Klein-Lasse, aber der Junge schrie vor Schrecken auf. Dann zog er seine alten Fabrikskleider an, machte Gesicht und Kopf schwarz und ging nach der Maschinenfabrik hinüber. Der Betrieb wurde hier jetzt in vollem Gange erhalten; man arbeitete mit wechselnder Schicht Tag und Nacht, mit Hilfe der internierten Streikbrecher, die der Volkswitz die »Eingesperrten« nannte.
Die Eisenindustriellen hatten ihren Sieg weiter verfolgt und angefangen, noch einen Betrieb wieder in Gang zu setzen. Ging es so weiter, so würde eines Tages die ganze Eisenindustrie ihren Gang um die Ausgesperrten herum nehmen, und sie konnten auf der Straße stehen und zusehen. Aber jetzt sollte eine Schlacht geschlagen werden! Mit Freude und Wärme von daheim her kam Pelle und war zu allem aufgelegt.
Unbemerkt schlüpfte er an dem Streikposten vorüber und gelangte bis an den Torweg. »Sie schlafen, die Deubels!« dachte er wütend, und war nahe daran, das Ganze zu verderben, indem er ihm einen Rüffel erteilte. Leise klopfte er an und wurde eingelassen. Der Pförtner führte ihn zu dem Werkführer, der glücklicherweise ein Deutscher war.
Pelle wurde in der Gießerei für einen hohen Tagelohn angenommen; außerdem erhielt er das Versprechen, daß er ein Trinkgeld von fünfundzwanzig Kronen erhalten sollte, wenn er eine gewisse Zeit dagewesen war. »Das ist das Judasgeld«, sagte der Werkführer grinsend. – »Und dann werden Sie, sobald die Aussperrung vorüber ist, natürlich in erster Linie bei der Arbeit berücksichtigt. Sie sind sich wohl klar darüber, daß Sie vorerst hier nicht wieder herauskommen? Wollen Sie etwas an Ihre Frau schicken, so besorgen wir das.« Und dann wurde Pelle ein Winkel angewiesen, wo ein Strohsack lag; das war die Wohnung und das Nachtlager.
In der Fabrik ging die Arbeit, so gut sie gehen wollte. Die Arbeiter stürzten wie in einem Rappel darüber her und trieben sich dann wieder lungernd herum und standen in Gruppen da und taten, was sie wollten. Die Vorarbeiter wagten nicht, etwas zu sagen; machten sie eine friedliche Bemerkung, so wurde ihnen mit Grobheiten geantwortet. Die Arbeiter benutzten ihre Unentbehrlichkeit, sie benahmen sich wie die reinen Tyrannen und pochten beständig darauf, daß sie ja gern gehen könnten. Mit diesen Worten beherrschten sie die Situation.
Sie erhielten einen hohen Lohn und reichlich Essen und Trinken. Die Arbeitszeit war auch kürzer als sonst. Sie begriffen diesen Umschlag im Dasein nicht recht und gingen umher und spielten die Großen. Aber auf dem Grunde ihrer Gesichter machte sich ein eigenes Tasten bemerkbar, als seien sie einander gegenüber nicht sicher. Die einheimischen Arbeiter, die in der Minderzahl waren, hielten sich für sich – als empfänden sie im Innersten eine Verachtung vor diesen Leuten, die angereist kamen, um in ihrem Elend zu fischen.
Man arbeitete mit drei Schichten, die einander nach je acht Stunden ablösten.
»Ei ei!« dachte Pelle – »das ist ja weiß Gott der Achtstundentag. Dies ist wohl der Zukunftsstaat!« Gerade in dem Augenblick, als er kam, wurde eine Schicht abgelöst; sie fingen sofort an, einen Höllenspektakel zu machen, donnerten auf die Metallgegenstände los und schrien nach Essen und Branntwein. Dann wurde aufgetragen, große Kessel mit Rindfleisch und Kartoffeln. Pelle wurde einer Abteilung von zehn Mann zugeteilt.
»Iß, Kamerad!« sagten sie, »du bist wohl hungrig? Wie lange bist du arbeitslos gewesen, ehe du dich ergeben hast?«
»Im dritten Monat«, antwortete Pelle.
»Dann mußt du aber hungrig sein. – Her mit dem Fleisch! Mehr Fleisch her!« riefen sie den Küchenburschen zu. »Die Kartoffeln könnt ihr gern behalten! Kartoffeln haben wir unser Leben lang genug gegessen!« – »Hier ist weiß Gott das Schlaraffenland mit Buttersauce dazu! Das haben sie ja immer gesagt, daß es so werden würde: guter Lohn und wenig zu tun, eine Masse zu essen und Branntwein! Nun könnt ihr sehen, daß es gut war, daß wir ausgeharrt haben, als es darauf ankam – nun kommt der Lohn! Prost, du! Zum Teufel auch, wie heißt du denn du da!«
»Karlsen«, sagte Pelle.
»Prost, Karlsen! Na, und wie sieht's denn da draußen aus? Hast du nicht meine Frau kürzlich gesehen? Die ist leicht zu kennen, das ist die mit den sieben Kindern die nichts im Leibe haben! – Wie geht es denn mit dem Lohnkampf?«
Hinterher setzten sie sich hin und spielten Karten und tranken oder trieben sich herum und fingen Streit an; es saß ein böser Stachel in ihnen, sie gingen umher und hatten ein giftiges Verlangen, einander zu stechen. »Komm und mach ein Spiel mit uns, Kamerad – und trink einen Schnaps!« sagten sie zu Pelle. »Zum Teufel auch, womit soll man hier in dieser Hölle wohl sonst die Zeit totschlagen! Sechzehn Stunden am Tag schlafen, das kann man doch wohl auf die Dauer nicht!«
Es war ein ohrenbetäubender Lärm, wie in einem mächtigen Wirtshaus, Rufen und Schimpfen; jeder gab seinen Beitrag zum Spektakel, als gelte es, irgend etwas zu übertäuben. Sie konnten Getränke in der Fabrik kaufen, und was sie verdienten, versoffen sie. »Das ist das Gewissen,« dachte Pelle – »im Grunde sind sie gute Kameraden.« Sein kühnes Vorhaben schien gute Aussicht zu haben. Eine Gruppe von Deutschen nahm keinen Anteil an der Orgie, sondern hatte sich eine Sparkolonie in der entlegensten Ecke der großen Halle eingerichtet. Sie waren hier, um Geld zu verdienen!
In einer der Gruppen entstand Streit um das Spiel; sie schimpften mit starken Ausdrücken aufeinander, und diese Schimpfwörter kulminierten in dem Ausdruck Streikbrecher. Das machte sie ganz wütend. Es war, als ging ein Geschwür auf; all ihr aufgespartes Schamgefühl und ihre Bosheit über das schändliche Verhältnis brach los. Sie gebrauchten Messer und Werkzeug gegeneinander. Die Polizei, die Tag und Nacht Wache auf der Fabrik hielt, wurde herzugerufen und stiftete Ruhe. Ein verwundeter Schmied wurde auf dem Kontor verbunden, aber es fanden keine Verhaftungen statt. Dann überkam sie eine plötzliche Schlaffheit.
Sie umschwärmten Pelle beständig. Er war ein neuer Mann und kam von da draußen. »Wie geht es denen da draußen?« lautete die beständige Frage.
»Denen da draußen geht es ganz gut. Für uns hier drinnen sieht es schon schlimmer aus«, sagte Pelle.
»Es geht ihnen gut, sagst du? Wir haben uns erzählen lassen, daß sie nahe daran sind, sich zu ergeben.«
»Woher habt ihr das?«
»Von den Leitern der Fabrik hier.«
»Denn haben sie euch was aufgebunden, um euch hier zu behalten.«
»Du lügst! Und was soll es heißen, daß es hier für uns schlechter aussieht? Heraus mit der Sprache!«
»Wir kommen nie wieder zu ordentlicher Arbeit. Nun siegen die Kameraden – und dann stellen sie die Forderung auf, wenn sie die Arbeit wieder aufnehmen, daß wir anderen ausgeschlossen werden.«
»Den Teufel auch – und uns haben sie die beste Arbeit versprochen«, rief ein großer Schmied. »Aber du lügst! Ja, das tust du! Und warum kommst du hierher, wenn die da draußen nahe daran sind zu siegen? – Antworte mir, zum Teufel auch! Man schleicht sich wohl nicht in diese Hölle hinein, wenn man nicht dazu gezwungen ist!«
»Um die Kameraden im Stich zu lassen, das kannst du doch wohl begreifen«, erwiderte Pelle hart. »Ich wollte versuchen, wie es ist, wenn man den Hungernden das Brot vom Munde wegschlägt!«
»Das sind Lügen! So boshaft ist keiner! Du hast uns alle zum besten, du Teufel!«
»Gebt ihm 'ne Tracht Prügel«, sagte ein anderer. »Er spielt ein schlechtes Spiel. Bist du Spion, oder was willst du hier? Du gehörst wohl zu den Idioten da draußen?«
Es war Pelles Plan, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und sich vorsichtig vorwärts zu tasten. Aber nun wurde er wütend.
»Du sollt'st dich doch in acht nehmen, ehrliche Männer Idioten zu nennen«, erwiderte er aufgebracht. »Wißt ihr, was ihr seid? Ihr Schweine! Ihr liegt hier und freßt euch voll und füllt in euch hinein und lebt flott von der Not der Kameraden! Ja, ihr seid Schweine, das seid ihr – Judasse, die die gute Sache für dreckiges Geld verkaufen! Wieviel habt ihr gekriegt? – Fünfundzwanzig Kronen, wie? Und da draußen gehen sie herum und hungern getreulich, damit wir alle – auch ihr – es in Zukunft ein wenig menschlicher haben sollten.«
»Jetzt hältst du dein Maul!« sagte der große Schmied. »Du hast nicht Frau und Kinder, drum kannst du ja leicht reden!«
»Bist du nicht der, der da in der Jägersborger Straße wohnt?« fiel Pelle über ihn her. »Schickst du vielleicht, was du verdienst, an Frau und Kinder? Warum leiden sie denn Not? Gestern sind sie vor die Tür gesetzt worden; die Organisation hat sich ihrer angenommen und ihnen ein Dach über dem Kopf verschafft, obgleich es eine Streikbrecherfamilie ist.« Pelle selbst hatte dies ermöglicht.
»Schicken – verdammt und verflucht – will ich ihnen was schicken. Aber wenn man dies Höllenleben hier führt, denn geht das bißchen Geld in Fusel auf! Und nun sollst du Haue kriegen!« Der Schmied strich seine Hemdsärmel auf, so daß die mächtigen Muskeln zum Vorschein kamen. Er war nicht mehr nüchtern und blickte wütend drein wie ein toller Stier.
»Wart' mal«, sagte ein älterer Mann und trat an Pelle heran. »Ich sollte meinen, ich hätt' dich schon früher gesehen. Wie heißt du eigentlich, mit Erlaubnis zu fragen?«
»Wie ich heiße – das könnt ihr gern erfahren. Ich bin Pelle!«
Der Name wirkte wie eine Explosion, er schoß Strahlen vor ihren Augen in die Höhe. Die Arme des Schmieds fielen schlaff herab, er wandte beschämt den Kopf ab. Pelle stand mitten unter ihnen! Sie hatten ihn im Stich gelassen und ihm den Rücken zugewandt, und da stand er und lächelte, auch nicht die Spur zornig. Kameraden nannte er sie obendrein, er verachtete sie nicht einmal! »Pelle ist hier«, sagten sie gedämpft, weiter und weiter drang es mit einem eigenen schweren Zögern bei dem Namen. Ringsumher in der Halle entstand ein Murmeln. »Zum Teufel auch! Ist Pelle gekommen!« riefen sie aus und taumelten auf die Beine.
Pelle war auf einen großen Amboß gesprungen. »Still!« rief er mit Donnerstimme, »still!« Lautlose Stille entstand in dem Raum. Man konnte ihre tiefen Atemzüge hören.
Die Aufseher kamen herbeigestürzt und wollten ihn herunterziehen. »Hier dürfen keine Reden gehalten werden!« riefen sie.
»Laßt ihn reden!« sagte der große Schmied drohend. »Um dem das Maul zu stopfen, dazu seid ihr viel zu klein!« Er ergriff einen Hammer und stellte sich an den Fuß des Ambosses.
»Kameraden!« begann Pelle in einem leichten Ton – »ich bin zu euch hergesandt mit einem Gruß von denen da draußen. Von den Kameraden, die neben euch auf dem Arbeitsplatz standen, von euren Freunden und Fachvereinsgenossen! Wo bleiben die alten Kameraden? sagten sie. – Wir haben doch so manchen Kampf miteinander ausgefochten und Gut und Böse miteinander geteilt. Sollen wir nun ohne sie zu dem Neuen eingehen? – Und eure Frauen und Kinder fragen auch nach euch! Jetzt ist da draußen Frühling! Sie begreifen nicht, warum sie nicht den Futterkorb packen und mit Vater in den Wald hinausziehen sollen.«
»Nee, weil da kein Futterkorb ist!« sagte eine schwere Stimme.
»Da sind doch fünfzigtausend Mann, die die Verhältnisse hinnehmen, ohne zu murren«, erwiderte Pelle ernsthaft. »Und die fragen nach euch und begreifen nicht, warum ihr mehr verlangt als sie. Habt ihr denn mehr für die Bewegung getan? – fragen sie. – Oder seid ihr Grafensöhne, daß ihr nicht ruhig in Reih und Glied mitgehen könnt? – Jetzt ist da draußen Frühling!« fuhr er frisch fort. »Der Winter für den armen Mann ist vorüber, und die lichten Tage werden für ihn kommen! Und dann biegt ihr nach der verkehrten Seite ab und geht ins Gefängnis! – Wißt ihr, wie die Ausgesperrten euch nennen? Die Eingesperrten nennen sie euch!«
Einige lachten gedämpft. »Das ist ein verdammt guter Schnack!« sagten sie zueinander. »Den hat er selbst erfunden!«
»Sie haben auch noch andere Namen für uns!« rief eine Stimme trotzig.
»Ja, das haben sie«, erwiderte Pelle lebhaft. – »Aber das kommt daher, weil sie hungern! Dann wird man unvernünftig, wißt ihr wohl – und mißgönnt anderen das Essen!«
Sie schoben und drängten sich noch näher an ihn heran. Seine Worte brannten in ihnen und taten ihnen doch wohl. Niemand konnte so nach einem auslangen wie Pelle und ihnen doch das Gefühl geben, daß man gewissermaßen ein ordentlicher Mensch war. Um sie herum standen die fremden Arbeiter und lauschten angespannt, um auch ein wenig zu verstehen.
Auf einmal sprang Pelle mitten in die Not hinein, legte die jahrelange, endlose Verzweiflung der Familien bloß, so daß man alles sah, was man gelitten hatte – es erst wirklich sah. Sie wunderten sich, daß sie so viel ertragen hatten, wußten aber sehr wohl, daß es so war; ihr eigensinniges Kopfnicken bestätigte, daß es stimmte, Wort für Wort. Es waren Pelles eigene verzweifelte Kämpfe, die jetzt aus ihm herausredeten – aber der Kehrreim des Leidens lag darüber. Er selber stand da, licht und siegesgewiß, und ragte unerschütterlich über sie alle hinaus!
Allmählich wurden seine Worte stark und scharf. Er warf ihnen ihre Treulosigkeit vor, erinnerte sie daran, wie teuer erkauft und bitter das Zusammenhalten zu einem Gesetz emporgewachsen war, und gab in kurzen, treffenden Worten den aufmunternden Rhythmus der Bewegung wieder, wie er dalag und in einem jeden Ohr schlummerte. Es waren gute alte Töne, die wohlbekannte Melodie des Heims und der Arbeit. Pelle verlieh ihnen neuen Klang. Sie hatten die Stimme ihrer Mutter vergessen, wie jene Landflüchtigen – darum konnten sie nicht heimfinden; jetzt rief sie sie zurück zu dem alten Traum von dem Glücksland! Er sah das in ihren Gesichtern und war mit einem Sprung bei ihnen: »Kennt ihr etwas Schändlicheres, als sein Vaterland zu verkaufen? Das habt ihr getan – noch ehe ihr es betratet, es mit Brüdern, Frauen und Kindern verkauft! Und ihr habt eure Religion abgeschworen – den Glauben an die große Bewegung! Die Gebote habt ihr verleugnet und euch selbst für elendes Judasgeld und für eine Runde Branntwein verkauft!«
Er stand da, die linke Hand, auf der Schulter des großen Schmiedes, die rechte streckte er geballt nach ihnen aus. In der Hand hielt er sie; er fühlte das so stark, daß er nicht wagte, sie sinken zu lassen, sondern fortfuhr, sie ausgestreckt zu halten. Eine murmelnde Welle ging durch die Reihen und verpflanzte sich auch bis zu den fremden Arbeitern. Sie wurden von der Bewegung der anderen angesteckt und folgten gespannt, obwohl sie nicht viel von der Sprache verstanden. Bei jedem Ausfall nickten sie und pufften einander an, und jetzt standen sie unbeweglich da mit erwartungsvollen Gesichtern; auch sie standen unter der Macht seiner Rede. Das war die Solidarität, die mächtige, erdumspannende Kraft! Pelle erkannte ihr wunderbares Wesen, kalte Schauer liefen an seinem Rücken auf und nieder. Er hielt sie alle in seiner Hand, und jetzt sollte die Schlacht geschlagen werden, ehe sie Zeit hatten, sich die Sache zu überlegen, jetzt!
»Kameraden!« rief er überlaut aus. »Zu denen da draußen habe ich gesagt, ihr wäret ehrliche Leute, die die Not in einem Augenblick des Unverstandes in des Teufels Küche geführt hätte. Und jetzt gehe ich hin und hole eure Freunde und Kameraden – sagte ich. Sie sehnen sich danach, wieder zu euch hinaus in den Frühling zu kommen! – Habe ich gelogen, wenn ich in eurem Namen gutgesagt habe?«
»Nein, das hast du nicht getan!« erwiderten sie wie aus einem Munde! »Pelle soll leben! Blitz soll hoch leben!«
»So kommt denn!« Schnell sprang er vom Amboß herab und marschierte durch die Halle, den Sozialistenmarsch herausschleudernd. Sie schlossen sich ihm an, ohne Überlegung, ohne Gewissensbisse, das Tempo riß sie mit fort. Es war, als sauge ein Frühlingswind sie in die freie Natur hinaus. Der Torweg wurde aufgeschlossen, die Beamten der Fabrik wurden beiseitegeschoben. Singend und in dröhnendem Takt, der sich nach der langen Einsperrung Genugtuung verschaffte, zogen sie hinab auf die Norderstraße zu, Pelle an der Spitze, hinein in das »Volkshaus«.