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X

Eines Tages nach Feierabend ging Pelle mit etwas neuer Arbeit zum Hofschuhmeister. Der Lagerist nahm sie an und bezahlte, begann dann andere zu expedieren und ließ ihn stehen. Pelle wartete geduldig, räusperte sich nur hin und wieder. Dies war so eine Manier von den Leuten, man mußte schweigen und sich darein finden, wenn man Arbeit haben wollte. »Sie haben mich wohl vergessen?« sagte er endlich ein wenig ungeduldig.

»Sie können gehen«, erwiderte der Lagerist. »Sie sind hier fertig.«

»Was soll das heißen?« fragte Pelle überrascht.

»Das soll das heißen, was Sie hören. Sie haben Ihren Laufpaß bekommen – wenn Sie das besser verstehen können.«

Pelle verstand es recht gut, aber es war doch ganz angenehm, die Verfolgung im Beisein der Kameraden festzustellen. »Haben Sie denn irgendetwas an meiner Arbeit auszusetzen?« fragte er.

»Sie geben sich zuviel mit Dingen ab, die Sie nichts angehen, mein guter Mann, und dann kann man die Arbeit, die man tun soll, nicht verrichten.«

»Ich möchte doch gern wissen, was Sie an meiner Arbeit auszusetzen haben«, fuhr Pelle hartnäckig fort.

»Zum Teufel auch. Das habe ich Ihnen doch gesagt, Mensch«, brüllte der Lagerist.

Oben in der Tür zum Hinterzimmer erschien der Hofschuhmacher und sah sich um. Als er Pelle erblickte, fuhr er auf ihn ein: »Machen Sie, daß Sie 'rauskommen, und zwar sofort!« schrie er aufgebracht. »Glauben Sie, daß wir Leuten Brot geben, die uns untergraben? Raus, aus meinem Geschäft, Monsieur Fachvereinsmitglied!«

Pelle blieb stehen und sah seinem Meister in die Augen; er hatte eher Lust, ihm eine Ohrfeige zu verabreichen, als sich 'rausschmeißen zu lassen. »Ruhig Blut!« sagte er zu sich selbst, »ruhig Blut!« Er lächelte, aber die Züge im Gesicht bebten. Der Hofschuhmacher umkreiste ihn in einer gewissen Entfernung und rief immerzu: »Raus mit Ihnen! Ach, Lagerist, rufen Sie doch mal die Polizei!«

»Da könnt ihr sehen, Kameraden, wie man hier angesehen wird«, sagte Pelle und wandte Meyer seinen breiten Rücken zu. »Wir sind Hunde, nichts weiter!«

Sie standen da und sahen auf den Tisch herab und glichen Taubstummen in ihrer Angst, Partei zu ergreifen. Dann ging er.

Er schlug den Weg nach dem Norden ein. Seine Brust arbeitete gewaltsam. Der Zorn raste wie ein Unwetter in ihm und brach sich stoßweise Bahn durch seinen Mund. Meyers Arbeit war ihm schließlich gleichgültig; sie war schlecht, und er hatte sie nur als Lückenbüßer gebraucht. Aber es war empörend, schlechte Arbeit mit seiner Überzeugung erkaufen zu sollen! Da standen sie und wagten nicht, Farbe zu bekennen, obwohl es doch eigentlich ganz hinreichend war, wenn man so einen Kerl mit seiner Arbeitskraft stützte. Meyer stand wie eine Mauer da und sperrte jeglichen wirklichen Fortschritt ab, aber er sollte sich nicht unterstehen, Pelle zu schlagen, denn dann bekam er einen Schlag wieder!

Er ging sofort zu Maurer Stolpe hinauf, um sich mit ihm zu bereden; der alte Fachvereinsvorsitzende hatte viel Erfahrung.

»So, er gehört zu denen, die offenen Sklavenhandel treiben!« sagte Stolpe. »Gegen die sind wir schon früher vorgegangen. Sie sind hier fertig, mein guter Mann, wir können keine Aufwiegler gebrauchen! Und sobald man sich wieder eine Kleinigkeit erschlichen hatte – fertig – hier sind Sie fertig! Ich bin selbst wie ein gejagter Hund gewesen – und zu Hause ging Mutter 'rum und weinte. Ich konnt es ihr ansehen, aber wenn ich die Frage aufnahm, sagte sie: Halt aus, Stolpe, du sollst nicht nachgeben! – Du vergißt das tägliche Brot, Mutter, sagte ich dann. – Ach, das tägliche Brot, ich kann ja bloß auf Waschen ausgehen! Das war damals, jetzt hat die Pfeife schon einen anderen Ton bei uns. Jetzt nehmen die Meister hübsch den Hut vor dem alten Stolpe ab! – Der muß niedergeduckt werden, verhängt doch die Sperre über den Kerl!«

Pelle hatte nichts dagegen. »Wenn es nur geht«, sagte er. »Mit unserer Organisation sieht es ja noch schwach aus!«

»Versucht es nur, auf alle Fälle – schaden könnt ihr ihm immer. Er langt nach deinem Brot, um dein Gewissen zu treffen, so lang du wieder nach seinem Geldbeutel – da hat er sein Gewissen sitzen. Nützt es weiter nichts, so erseht ihr doch daraus jedenfalls selbst, daß ihr keine Sklavenseelen seid.«

Pelle saß noch eine Weile da und plauderte. Er hatte so im stillen gehofft, Ellen wieder zu treffen, wagte aber nicht zu fragen, ob sie heute käme. Frau Stolpe forderte ihn auf, zu bleiben, um mit ihnen zu Abend zu essen – sie warteten nur auf die Söhne. Aber Pelle hatte keine Zeit; er mußte hinaus und Verhaltungsmaßregeln für die Sperre treffen. »Dann kommen Sie Sonntag,« sagte sie, »Sonntag ist Ellens Geburtstag.«

Mit starken Schritten wanderte er zu dem Vorsitzenden des Fachvereins; die Einladung zum Sonntag hatte den Rest seines Zornes verscheucht. Die Aussicht auf einen Kampf mit Meyer versetzte ihn in gehobene Stimmung. Den Vorsitzenden Petersen für seine Sache zu gewinnen, dessen war er sicher, wenn er nur außer Bett war; er hatte seinerzeit beim Hofschuhmacher gearbeitet und haßte ihn wie die Pest. Man sagte, Petersen habe eine kleine sinnreiche Erfindung mit einem Patentknopf für Damenstiefel gemacht; er verstand sich nicht selbst darauf, die Erfindung auszunützen, und wandte sich damit an Meyer. Aber der Hofschuhmacher betrachtete die Erfindung ohne weiteres als sein Eigentum, da sie ja von einem seiner Arbeiter gemacht war. Er nahm ein Patent darauf und verdiente viel Geld damit, so winzig wie das Ding auch war, um das es sich handelte. Als Petersen an dem Verdienst Anteil verlangte, wurde er verabschiedet. Er selbst sprach nie davon, sondern saß unten in seinem Keller und brütete über dem Unrecht, so daß er nicht wieder in die Höhe kommen konnte. Fast seine ganze Zeit hatte er dem Fachverein gewidmet, um durch ihn Rache zu nehmen, aber es ging nicht recht vorwärts damit. Er flammte heftig auf, es fehlte ihm aber an Ausdauer. Brustschwach war er auch.

Er zitterte vor Erregung, als ihm Pelle seinen Plan auseinandersetzte. »Großer Gott im Himmel, wenn wir ihn zu fassen kriegen könnten«, flüsterte er heiser und ballte seine mageren Hände, in die der Tod schon dunkle Schatten hineingelegt hatte. »Ich würde gern mein elendes Leben hingeben, um den Schurken ruiniert zu sehen. Sieh die da!« er beugte sich flüsternd vor und zeigte Pelle eine Feile, die an einem kräftigen Schaft saß und spitz zugeschliffen war. »Wenn ich die Kinder nicht hätt', so hätt' er die schon längst zwischen den Rippen gehabt.« Seine grauen, ruhelosen Augen, die an den verrückten Anker erinnerten, hatten einen kalten, stechenden Blick.

»Ja, ja«, sagte Pelle und legte die Hand beruhigend auf die seine. »Es hat ja keinen Zweck, Dummheiten zu machen. Unser Ziel erreichen wir nur, wenn wir fest zusammenhalten.«

»Willst du den Kampf organisieren?« sagte Petersen, »ich tauge nicht mehr dazu – und habe auch keine Kräfte. Aber das Signal blasen das will ich wohl – und zwar so, daß sie aufwachen. Dann mußt du selbst dafür sorgen, sie zum Feuer heranzuhalten.«

Der Tag wurde gut ausgenützt; schon am nächsten Abend waren die Mitglieder zu einer Versammlung zusammengetrommelt. Petersen hielt Wort und legte flammend los. Er glich nach dem letzten Blutsturz einer Leiche, die Augen brannten in den dunklen Höhlen, er stand da wie ein Blutzeuge für die Notwendigkeit des Kampfes. Die Sperre wurde einstimmig angenommen!

Dann trat Pelle vor und organisierte das Erforderliche – jetzt war die Reihe an ihm. Es war kein Geld in der Kasse, aber jeder Mann mußte sich verpflichten, einen gewissen Beitrag für die zu zahlen, die nun arbeitslos wurden. Jeder mußte sein Teil tun, um Meyer den Zugang zu Arbeitskräften abzuschneiden. Dies hier durfte kein Rausch sein, den man morgen, wenn man erwachte, bereute – es galt, sich im voraus klar zu sein über die Schwierigkeiten und das, worauf man sich einließ. Und dann – dreimal hurra für einen glücklichen Ausfall!

Diese Sache hatte viele Laufereien im Gefolge. Aber was tat das! Pelle, der so viel saß, hatte keinen Schaden davon, in die Luft hinauszukommen! Er nahm die Nacht mit zur Hilfe, um das Versäumte wieder einzuholen. Arbeit, die die bei dem Hofschuhmacher verlorene ersetzte, erhielt er bei den kleinen Meistern in Christianshafen, die jetzt vor Weihnachten viel zu tun hatten.

Schon am zweiten Tage, nachdem er aufs Pflaster geworfen war, stand die Ankündigung der Sperre unter »Gewerkschaftlichem« im »Arbeiter«. »Zuzug streng fernzuhalten!« Das war gleichsam ein Tagesbefehl, der aus Pelles eigenem Munde hervorgegangen war. Er schnitt die Notiz aus, und hin und wieder, während der Arbeit, holte er sie heraus und betrachtete sie. Dies war er – obwohl es nirgends stand – Pelle und dann der größte Meister der Stadt lagen sich ein wenig in den Haaren! Jetzt kam es also darauf an, wer der Stärkere war.


Zu Stolpe kam Pelle oft. Merkwürdigerweise trafen seine Besuche immer mit Ellens Ausgangstagen zusammen. Dann begleitete er sie nach Hause, und sie gingen nebeneinander her und redeten über ernsthafte Dinge. Es war nichts Stürmisches in ihnen beiden – sie gingen da, als läge ein langes Leben vor ihnen. Seine Heftigkeit kühlte er in dem Kampf gegen Meyer. Er war Ellens Wesen sicher, so unnahbar sie auch war. Etwas in ihm sagte, sie sollte es sein und sie würde es werden. Sie war eine von den Naturen, denen es schwer wird, die Schale zu zersprengen, so daß die Frucht zum Vorschein kommt; aber er fühlte, daß hinter ihrem verschlossenen Wesen etwas für ihn wuchs, und er ward nicht ungeduldig.

Eines Abends hatte er sie wie gewöhnlich bis an die Haustür begleitet, sie standen da und sagten einander Gute Nacht. Sie reichte ihm die Hand auf ihre linkische zurückhaltende Weise, die im Grunde ebensogut Unwillen bedeuten konnte – und wollte dann hinaufgehen.

»Aber soll es denn unser ganzes Leben so weitergehen?« sagte Pelle lächelnd und hielt ihre Finger fest. »Du hast mich ja doch lieb!«

Sie stand eine Weile da, steinhart im Ausdruck; dann reichte sie ihm den Mund und küßte ihn mechanisch, wie ein Kind küßt – mit fest geschlossenen Lippen. Sie war schon auf dem Wege ins Haus, stürzte aber plötzlich wieder hinaus, riß ihn an sich und küßte ihn heftig, zügellos. Es lag etwas so Gewaltsames, fast Fanatisch-Wildes in ihrer Handlung, daß er ganz verwirrt wurde. Er kannte sie gar nicht wieder, und als er zu sich selbst kam, war sie schon auf dem Wege die Küchentreppe hinauf. Er stand da, geblendet wie nach einem Feuerregen, und hörte sie laufen, als werde sie verfolgt.

Seit jenem Tage war sie eine andere. Ihre Liebe war wie der Lenz, der sich in einer Nacht entfaltet. Sie konnte ihn nicht einen Tag entbehren: wenn sie ausging, um Einkäufe zu machen, kam sie in die »Arche« hinaufgelaufen. Ihr Wesen hatte das Träge abgeworfen; über ihren Handlungen und Bewegungen lag Spannung; sie brachen sich in kleinen Ausbrüchen von innen Bahn. Sie sprach nicht viel; wenn sie einander begegneten, schmiegte sie sich heftig an ihn, wie um einen Schmerz zu betäuben, und verbarg ihr Gesicht; zwang er es in die Höhe, so hielt sie standhaft die Augen geschlossen. Dann atmete sie tief auf und setzte sich hin, saß lächelnd da und summte zu seinen Worten und sah ihn dabei an!

Es war, als vertiefe sie sich in sein inneres Wesen; und Pelle, der das Bedürfnis hatte, sein eigenes zu finden und zu fühlen, erwuchs Sicherheit aus ihrer Gesellschaft. Er hatte in allem, was sich um ihn erhob, nach seinem Innern als natürlicher Stütze getastet, hatte ängstlich dem gelauscht, was da drinnen aufstieg, und ohne es zu wissen, gezweifelt und gefragt. Und nun bestätigte sie etwas, so sicher, wie sie an seinem Arm hing und schwieg und nur starrte – bis ihr Starren gleich einem stolzen Ruf in ihm selbst vibrierte und er sich unendlich reich fühlte. Sie redete ja mit etwas Inwendigem in ihm, wenn sie so sinnend starrte! Aber was sie sagte, das erfuhr er nicht – auch nicht, welche Antwort sie erhielt. Wenn er sie mit Fragen aus ihrem verzauberten Starren herausriß, seufzte sie nur wie jemand, der erwacht – und küßte ihn.

Ellen war treu und uneigennützig und sehr geschätzt bei ihrer Herrschaft. Ein eigentlicher Fortschritt war nicht in ihr zu spüren. Sie sehnte sich danach, die Seine zu werden – das war das Ganze! Aber die Zukunft ward auf Pelles eigenen Lippen geboren durch ihr träumendes Starren, als sei sie es, die ihm die lichten Worte eingab. Und dann lauschte sie mit einem fernen Lächeln – wie etwas Herrlichem; sie selbst schien ihr keine Gedanken zu schenken. Es lag eine innere Hingebung über ihr, die auf Pelle wie Unterwärme wirkte, so daß er den Kopf lang hinausreckte in das Licht hinein. Diese feste Frömmigkeit in ihrem Wesen veranlaßte die »Familie«, sie neckend heilig zu nennen.

Es tat ihm so innerlich wohl, in ihrem Heim aufgenommen zu werden, wo sich hinter dem robusten Kopenhagener Humor ganz patriarchalische Zustände versteckten. Alles beruhte auf Ordnung und Ehrerbietung gegen die Eltern, namentlich gegen den Vater, der das entscheidende Wort in allen Fragen hatte und seinen eigenen Platz, auf den sich niemand anders setzte. Wenn er von seiner Arbeit heimkehrte, wetteiferten die erwachsenen Söhne noch immer, wer ihm seine Pantoffeln bringen sollte, und die Frau hatte stets einen Extrabissen für ihn. Der jüngste Sohn Frederik, der bald ausgelernt hatte, freute sich wie ein Kind auf den Tag, wo er Geselle wurde und Brüderschaft mit dem Alten trinken konnte.

Sie bewohnten eine neue, geräumige Dreizimmerwohnung mit Mädchenstube; für Pelle, der daran gewöhnt war, seine Kameraden hier drüben in einem Zimmer mit Küche hausen zu sehen, war dies ein förmliches Erlebnis. Die Söhne bekamen zu Hause Kost und Logis, sie schliefen in der Mädchenstube. Die Häuslichkeit war mit gemeinsamen Kräften aufgebaut und zusammengehalten. Wenn sich die Familie unbedingt vor dem Hausherrn beugte, so geschah dies nicht aus Unterwürfigkeit – sie taten nur dasselbe wie alle anderen. Stolpe war in seinem Fach der erste Mann, ein angesehener Arbeiter, der Veteran der Bewegung. Seine Worte blieben von selbst stehen.

Ellen war die einzige, die seine Oberherrlichkeit nicht respektierte, sondern ihn mutig abspeiste, oft ohne irgendeinen anderen Zweck, als um ihm zu widersprechen. Sie war das einzige Mädel in der Familie und das Nestküchlein – das machte sie sich zunutze. Zuweilen sah es aus, als werde Stolpe zum äußersten gebracht, als wolle er sie in seinem Zorn zermalmen; aber er unterwarf sich ihr stets.

Über Pelle war er sehr froh. Er bewunderte im geheimen die Tochter nur um so mehr. »Da siehst du, daß was an dem Mädel dran ist, Mutter! Sie versteht es, sich einen Mann zu wählen«, konnte er begeistert ausrufen.

»Ja, ich habe auch gar nichts gegen ihn«, erwiderte Frau Stolpe. »Ein bißchen bäuerisch ist er ja noch immer, aber das läuft er sich wohl noch ab.«

»Bäuerisch – der? Nein, du kannst mir glauben, er weiß, was er will. Da hat sie wahrhaftig ihren Herrn gefunden!« sagte Stolpe triumphierend.

In den beiden Brüdern fand Pelle ein paar treue Kameraden, die nicht umhin konnten, zu ihm aufzusehen.


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