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Auf dem Grunde von Pelles Seele lag eine undeutliche Vorstellung, daß er zu etwas Besonderem ausersehen sei; es war dieser alte Traum vom Glück, der nicht ganz befriedigt werden konnte durch die guten Verhältnisse für alle, die zu schaffen er behilflich sein wollte. Sein Schicksal war für ihn nicht mehr eine schwer niederdrückende Vorausbestimmung zum Elend – die nur durch ein Wunder aufgehoben werden konnte; er war selbst Herr seiner Zukunft – daran baute er ja rastlos mit!
Aber über das hinaus war da noch etwas anderes, etwas, was ihm und dem Leben allein gehörte und was kein anderer auf der Welt übernehmen konnte. Was es war, darüber legte er sich auch jetzt keine Rechenschaft ab; es war etwas, das ihn nur über alle anderen erhob, geheimnisvoll, so daß nur er selbst es fühlte. Es war dieselbe dunkle Empfindung, ein Geweihter zu sein, die ihn immer vorwärtsgetragen hatte; und wenn sie sich zu einer bestimmteren Frage gestaltete, antwortete er sich selbst mit dem vertrauensvollen Nicken seiner Kindheit: Ja, er wollte die Sache schon deichseln. Als wäre das, was ihm widerfahren sollte, beständig so groß und wunderbar, daß es nicht ausgesprochen, ja nicht einmal gedacht werden konnte. Er sah seinen geraden Weg vor sich und wanderte stark und mutig darauf vorwärts. Es gab keine anderen Feinde, als die ein kluger Mann erblicken konnte; die bösen, lauernden Mächte, die in seiner Kindheit erdrückend über seinem Kopf gehangen hatten, waren die Schatten von dem Elend des armen Mannes! Etwas anderes Böses gab es nicht, und das war auch unheimlich genug. Er wußte jetzt, daß die Schatten lang waren. Morten hatte recht. Weil er selbst im Licht gelaufen war und gespielt hatte, als er ein Kind war, konnte sein Sinn dennoch gut durch das Elend all derer verfinstert werden, die tot waren oder an fernen Orten kämpften; das war es ja, worauf das Solidaritätsgefühl beruhen sollte. Das Übernatürliche existierte ganz einfach nicht, und das war gut für die, die mit ihren physischen Kräften kämpfen sollten. Kein unsichtbarer Gott saß da und hatte seine eigenen Pläne für sie oder kreuzte andere. Was man wollte, das konnte man auch durchführen, wenn man nur genug Kräfte dafür einsetzte; Kräfte – das allein war es, worauf alles ankam! Und Kräfte waren ja da. Sie mußten nur vereint werden, um zusammenzuwirken.
Es wunderte die Leute immer, daß er, der so eifrig und solide war, in der »Arche« wohnte und nicht im Norden bei den anderen, im Herzen der Bewegung. Es wunderte ihn selbst auch, wenn er zufällig einmal darüber nachdachte; aber er konnte sich nun einmal von hier nicht losreißen. Hier, auf dem Grunde des Ganzen, hatte er Frieden in seiner Not gefunden. Er war zu treu, um ihnen jetzt, wo es ihm gut ging, den Rücken zu wenden.
Er wußte, sie würden es als Verrat empfinden; die Vergötterung, die die Bewohner den drei verwaisten Kindern entgegenbrachten, war auch auf ihn übergegangen; er war ja das Findelkind, das vierte Glied der »Familie«, und jetzt waren sie obendrein stolz auf ihn!
Es war nicht die Sache der Bewohner der »Arche«, Pläne für das Dasein zu schmieden, sie überließen dem morgenden Tag die Sorgen für das Seine; die Zukunft existierte gar nicht. Sie waren sorglose Vögel, die einmal Havarie gelitten und es wieder vergessen hatten. Viele von ihnen nahmen die Nahrung da, wo sie sie fanden; so verkommen sie auch sein konnten, ließ der geringste Sonnenstrahl sie aufzwitschern und alles vergessen. Von der Bewegung und all dem Neuen plauderten sie leichtsinnig wie schwatzende Stare, die die Laute im Vorbeifliegen aufgeschnappt haben.
Aber da ging Pelle so sicher dahin und stemmte die Schultern dagegen und kam wieder zu ihnen heim! Er war nicht bange; er konnte dem Dasein gerade in die Augen sehen und fest in die Zukunft hineingreifen, vor der sie schaudernd die Augen schlossen. Sein Name erhielt dadurch einen eigenen Klang – Pelle war ein Prinz, nur schade, daß er die Prinzessin scheinbar nicht haben wollte!
Groß und gut gewachsen war er, und er erschien ihnen noch größer. Sie kamen zu ihm mit ihrem Elend und luden es auf seine starken Schultern, dann konnte er es für sie tragen! Und Pelle nahm es in Empfang mit einem stärkenden Gefühl, daß es vielleicht nicht ganz zwecklos war, daß er sich hier aufhielt – dem Grund des Ganzen so nahe!
In dieser Zeit traten die Witwe Franzen und ihr Ferdinand in den Vordergrund; irgendwo mußte das Unglück ja hausen!
Ferdinand war ein kräftiger, achtzehnjähriger Bursche mit einem stark gebauten Kopf, der so aussah, als sei er ursprünglich dazu eingerichtet, die Wissenschaft der ganzen Welt zu umfassen. Er brauchte ihn, um Kopfnüsse damit auszuteilen, eine andere Verwendung hatte er nicht dafür.
Er war durchaus nicht dumm, man mußte ihn eigentlich einen begabten Jungen nennen. Aber die Begabung war allmählich von sonderbarer Beschaffenheit geworden. Als kleines Kind hatte er sich mit einem versoffenen Vater herumprügeln müssen, um die Mutter zu schützen, die keinen anderen Schutz hatte. Dieser ungleiche Kampf mußte gekämpft werden und mußte notwendigerweise seine Schmerzempfindungen wie überhaupt seinen Sinn für Gefahr abstumpfen. Er wußte, was seiner harrte, ging aber doch blind darauflos, sobald die Mutter angegriffen wurde – wie der Hund auf die großen Raubtiere losgeht, hing er sich heulend an die Bleifäuste des großen Mannes und war nicht abzuschütteln. Er haßte den Vater und wollte aus dem Grunde Schutzmann werden, wenn er groß war. Mit seinem abgestumpften Drauflosgehemut eignete er sich auch gut dazu. Er wurde ein Pennbruder!
Allmählich, als er heranwuchs und Kräfte bekam, ward der Kampf nicht mehr so ungleich. Der Vater fürchtete ihn und sann auf Rache; und einmal, als Ferdinand reichlich kräftig zugegriffen hatte, meldete er ihn, und er wurde bestraft. Der Knabe fand, daß das eine blutige Ungerechtigkeit sei, die Spuren waren ja eine Folge der Prügelei, und diese wieder eine Folge davon, daß die Mutter nicht in Frieden gelassen werden konnte.
Von nun an haßte er die Polizei und machte seinem Haß bei jeder Gelegenheit Luft. Die Mutter war der einzige Mensch, an dem er noch hing. Es war ein Lichtblick, als der Vater starb. Aber es kam zu spät, um eine Veränderung herbeizuführen. Ferdinand hatte schon längst angefangen, die Mutter auf eine eigene Weise zu versorgen – halb um die bestehende Ordnung herum.
Er war auf der Straße aufgewachsen und gehörte schon von klein auf zu den heimlich Gezeichneten. Die Polizei kannte ihn sehr wohl und wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn aufzufordern, näher zu treten. Ferdinand konnte es den Augen der Schutzleute ansehen, daß sie sicher auf seinen Besuch rechneten und ein Bett für ihn da drinnen im Hotel auf dem Neumarkt bereithielten.
Aber Ferdinand ließ sich nicht fangen. Hatte er etwas Zweifelhaftes vor, so verstand er es auf alle Fälle, sich geschickt aus der Sache zu ziehen. Er war ein ungewöhnlich geschmeidiger und kräftiger Bursche, der sich auch nicht davor scheute, Hand anzulegen; er hatte allerlei zufällige Arbeit und richtete sie stets gut aus. Aber jedesmal, wenn er in etwas hineingesteckt wurde, was eine Zukunft hatte, in irgendeine geordnete Arbeit, die gelernt und mit Geduld angeeignet werden mußte, dann wollte es nie mit ihm gehen.
»Sprich du mit ihm, Pelle!« sagte die Mutter. »Du bist so besonnen, und vor dir hat er Respekt!« Pelle sprach auch mit ihm und war ihm behilflich, einen Beruf zu finden, der sich für ihn eignete. Und Ferdinand ging mit gutem Willen an die Arbeit; aber wenn er bis zu einem gewissen Punkt gelangt war, war es wieder aus.
Der Mutter fehlte es nie an dem Nötigsten; nur schaffte er es immer erst im letzten Augenblick herbei. Sonst stand er in irgendeinem Torweg am Markt und lungerte herum, die Hände in den Taschen, und die weiche Schulter gegen die Mauern gelehnt. Er war immer in Holzschuhen und Pulswärmern; in gewissen Zwischenräumen spie er auf den Bürgersteig, seine wasserblauen Augen folgten den Vorübergehenden mit einem unergründlichen Ausdruck. Der Schutzmann, der herausfordernd an seinem Standplatz vorbeipatrouillierte, schielte jedesmal, wenn er vorbeikam, geheimnisvoll zu ihm hin, als wollte er sagen: Können wir den Laban nicht bald zu fassen kriegen – warum macht er nicht einmal einen Streich?
Es kam ganz von selbst eines Tages, und nicht infolge einer Ungeschicklichkeit von seiner Seite – in der »Arche« hob man das ganz besonders hervor –, sondern sein gutes Herz war schuld daran. Wäre Ferdinand nicht der gewesen, der er war, so wäre die Sache nie schief gegangen, er war ein begabter Junge.
Er war drinnen beim Krämer an der Ecke des Marktes und wollte für fünf Pfennige Kautabak kaufen. Ein achtjähriger Knabe aus der »Arche« stand am Ladentische und bettelte um ein wenig Mehl auf Kredit für seine Mutter. Der Krämer machte einen gewaltigen Lärm aus der Sache. »Anschreiben, jawoll! Man hat sich ja hier an der Ecke niedergelassen, um all die Armen im ganzen Viertel zu füttern. Morgen soll ich das Geld haben? Sonderbar, daß man in diesem elenden Armenviertel immer gerade morgen Geld hat. Aber morgen, das kommt bloß nie!«
»Herr Petersen kann ganz sicher sein!« sagte der Kleine leise.
Der Krämer fuhr fort zu höhnen, fing aber doch an, das Mehl abzuwägen. Vor der Wagschale waren Reisigbesen und andere Waren aufgestapelt, aber Ferdinand konnte doch sehen, wie der Krämer der Wage mit dem Finger nachhalf. Er mogelt im Gewicht, weil es für die Armen ist, dachte er und fühlte einen bösen Stich durch den Kopf, da, wo der Gedanke entstanden war.
Der Knabe stand da und fingerte mit etwas Eingewickeltem in seiner Hand herum. Plötzlich fiel eine Krone an die Erde und rollte da unten herum. Der Krämer warf einen blitzschnellen Blick auf die Geldschublade, indem er über den Ladentisch sprang und den Jungen im Nacken packte. »Ei, ei,« sagte er scharf, »so ein kleiner, geschickter Strolch!«
»Ich hab' nich' gestohlen«, schrie der Junge und suchte sich loszumachen, um zu seiner Krone zu gelangen. »Das ist Mutters Geld!«
»Lassen Sie den Jungen in Frieden!« sagte Ferdinand drohend, »er hat nichts getan.«
Der Krämer rang mit dem Jungen, der sich wand und drehte, um sein Geldstück wiederzuerlangen. »Hat er nichts getan!« stöhnte er keuchend – »was schreit er dann von Stehlen, ehe ich das Wort noch gesagt habe? Und wo kommt das Geld her? Er wollte ja doch Kredit haben, weil sie nichts hatten! Nee, ich danke! Auf den Leim kriech' ich nich'.«
»Das Geld gehört Mutter!« schrie der Junge und wand sich erbittert in den Händen des Krämers. »Mutter is krank – ich soll Arznei dafür holen!« Und dann fing er an zu heulen.
»Es ist ganz richtig, daß seine Mutter krank ist!« sagte Ferdinand knurrend. – »Und der Apotheker gibt gewiß keinen Kredit. Sie sollten ihn lieber loslassen, Petersen.« Er trat einen Schritt vor.
»Das habt ihr euch schön ausgedacht«, lachte der Krämer höhnisch und riß die Ladentür auf. »Heda, Schutzmann, hier!« Der Schutzmann, der an der Straßenecke Wache hielt, kam schnell herbei. »Hier ist ein Junge, der Kunststücke mit anderen Leuten ihren Kronen macht«, sagte der Krämer erregt. »Nehmen Sie sich seiner ein bißchen an, Iversen!«
Der Junge schlug noch immer um sich, der Schutzmann mußte ihn mit steifem Arm von sich abhalten. Es war ein kleiner, zerlumpter, verhungerter Bursche. Der Schutzmann sah auf den ersten Blick, was er da in den Fingern hatte, und dann schleppte er ihn mit sich fort; es lag kein Grund vor, viel Aufhebens davon zu machen.
Ferdinand ging ihm nach und legte die Hand auf den Arm des Schutzmannes. »Herr Schutzmann! Der Junge hat nichts getan«, sagte er. »Ich habe selbst dabei gestanden und gesehen, daß er nichts getan hat, und ich kenne seine Mutter!«
Der Schutzmann blieb stehen und maß ihn drohend, dann schleppte er mit dem Jungen weiter, der noch immer zerrte, um loszukommen, und brüllte: »Meine Mutter ist krank, sie wartet auf mich und die Arznei!« Ferdinand hielt Schritt mit ihnen in seinen dünnen Morgenschuhen.
»Wenn Sie ihn aufs Rathaus schleppen, dann gehe ich jedenfalls mit und zeuge für ihn,« fuhr er fort, »denn er hat nichts getan, und seine kranke Mutter liegt zu Hause und wartet auf die Arznei.«
Der Schutzmann wandte sich gereizt um. »Ja, das ist ein netter Zeuge. Eine Krähe hackt der anderen die Augen nicht aus. Kümmer du dich um deine eigenen Angelegenheiten – und mach, daß du wegkommst!«
Ferdinand blieb stehen. »Wen duzt du denn da, du Laban!« murmelte er und schielte wütend zu dem Schutzmann hinüber. Plötzlich nahm er einen Anlauf und versetzte dem Schutzmann eine Kopfnuß in den Nacken, daß er umstürzte, das Gesicht auf das Pflaster, während der Helm weit davon auf die Straße rollte. Ferdinand und der kleine Junge sprangen jeder nach einer Seite und entkamen.
Und nun hielt man schon in der dritten Woche Jagd auf ihn. Nach Hause zu kommen, wagte er nicht. An der »Arche« wurde Tag und Nacht aufgepaßt, um ihn einzufangen – er hatte seine Mutter ja lieb! Gott mochte wissen, wo er sich jetzt in diesem kalten, regnerischen Herbst herumtrieb. Frau Franzen ging so einsam und verlassen auf ihrer Mansarde umher. Es war ein trauriges Leben. Jeden Vormittag kam sie herüber und bat Pelle, im »Arbeiter« nachzusehen, ob man ihn gefaßt hatte. In der Stadt war er, Frau Franzen und Pelle wußten es. Die Polizei wußte auch, daß er hier war, und meinte, daß eine Reihe nächtlicher Einbrüche auf ihn zurückzuführen seien. Er kampierte wohl in Schuppen und in leeren Hundehäusern in den Villenvierteln.
Die Bewohner der »Arche« verfolgten bekümmert sein Schicksal. Er war vor ihren Augen aufgewachsen. Er hatte sich hier nie an etwas vergriffen, sondern immer die »Arche« und ihre Umgebung respektiert – was sonst auch von ihm gesagt werden konnte, und er hatte seine Mutter lieb! Er war auch in seinem guten Recht gewesen, als er den Jungen verteidigte; das war ein braver, kleiner Bursche. Die Mutter war sehr krank und wohnte am Ende eines der langen Gänge, und der Junge war ihre einzige Stütze. Aber es war ein wahnsinniges Unterfangen, sich an der Polizei zu vergreifen, das größte Verbrechen von allen auf Erden. Man konnte weit eher seine eigenen Eltern morden – was die Strafe anbetraf. Sobald man seiner habhaft wurde, kam er ins Zuchthaus: denn der Schutzmann hatte sein schönes Gesicht auf dem Straßenpflaster zerschlagen. In den Zeitungen hatte gestanden, daß jeder, der nicht eben Schutzmann sei, eine Gehirnerschütterung davongetragen haben würde.
Die alte Frau Franzen benutzte gern den Weg über den Boden, wenn sie zu Pelle hinüberging, um über den Sohn zu reden. »Man muß vorsichtig sein«, sagte sie. Zuweilen kniff sie den Mund fest zusammen und trippelte unruhig; dann wußte er, daß etwas Besonderes los sei.
»Soll ich dir was erzählen?« fragte sie und sah ihn so geladen an.
»Nein, lassen Sie es lieber nach«, sagte Pelle. »Was man nicht weiß, darüber kann man auch keine Zeugenaussage ablegen.«
»Laß mich lieber schwatzen, Pelle – sonst lauf' ich vielleicht hin und verschnack' mich Fremden gegenüber. Ich alte Klatschliese geh' hier herum und habe keinen Menschen, dem ich mich anvertrauen kann, und mit mir selber reden, das wag' ich auch nicht! Dann kriegt Pichelmeier das Ganze durch die Bretterwand zu hören; es ist beinahe nicht zum Aushalten, und ich zittere, daß mein zahnloser alter Weibermund ihn noch ins Unglück bringt.« »Na, denn sagen Sie es man«, sagte Pelle lächelnd. »Aber Sie müssen leise sprechen.«
»Er ist wieder hier gewesen!« flüsterte sie strahlend. »Heute morgen, als ich aufkam, lag Geld für mich in der Küche. Weißt du, wo er es hingelegt hatte? In die Abwasche, du – er ist ein vernünftiger Junge. Er muß über die Dächer hierherschleichen – anders kann ich mir nicht denken, daß es geht, so wie sie ihm aufpassen. Aber das mußt du doch auch sagen: er ist ein guter Junge!«
»Wenn Sie nun bloß dicht damit halten können«, sagte Pelle bekümmert. Sie war ja so stolz auf ihren Sohn.
»Mm,« sagte sie und schlug sich auf den eingefallenen Mund, »das hat keine Not, und weißt du, worauf ich verfallen bin, damit die Spürhähne sich nicht wundern sollen, wovon ich lebe? Ich nähe Flickenschuhe.«
Dann kam die kleine Marie mit Eimer und Scheuerlappen, und die Alte humpelte von dannen.
In Meister Becks Werkstatt herrschte flaue Zeit, Pelle arbeitete daher jetzt meistens zu Hause. Er verfügte nun selbst über seine Zeit und konnte den Tag benutzen, wenn die Leute zu Hause waren, um seine Fachgenossen aufzusuchen und sie für die Organisation zu gewinnen. Es kostete oft lange Überredungen, und auf jeden Mann, den er anmelden konnte, war er stolz. Er lernte es in aller Eile, die verschiedensten Arten Menschen zu beurteilen, und richtete sein Vorgehen nach ihrem Charakter ein: die Verzagten konnte man durch Drohungen gewinnen, andere mußten gelockt oder mit den neuen Lehrsätzen in gute Laune geschwatzt werden. Das war eine gute Übung, und er gewöhnte sich daran, geschmeidig im Denken zu sein und seinen Stoff zur Hand zu haben. Das Gefühl seiner Herrschaft über die Mittel wuchs beständig und verlieh seinem Auftreten Sicherheit.
Die Versäumnis in der Arbeit holte er wieder ein, indem er doppelt eifrig war, wenn er dabei war, früh aufstand und lange bei der Arbeit sitzenblieb.
Den Nachbarn im dritten Stock hielt er sich fern; aber wenn er Hannes leichten Schritt auf dem Holzwerk da drüben hörte, guckte er verstohlen hinunter. Sie ging ihren geraden Weg wie eine Nonne, zur Arbeit und wieder nach Hause, den Blick auf ihre Schuhe gerichtet. Sie sah nie zu seinen Fenstern hinauf oder sonst irgendwohin. Es war, als habe ihr Wesen sein leichtes Flattern vollzogen und liege nun da und wüchse.
Es wunderte ihn, daß er sie mit so fremden, fast gleichgültigen Augen betrachtete, als habe sie ihn niemals etwas angegangen. Und er guckte neugierig in sich selbst hinein – nein, in ihm war nichts zerbrochen. Der Appetit war gut, und das Herz war gar nicht zu merken. Es mußte also eine holde Lüge gewesen sein, eine Luftspiegelung von der Art, wie die Wanderer sie auf ihren Wegen antrafen. Schön war sie ja; aber es war ihm nicht möglich, etwas Märchenhaftes an ihr ausfindig zu machen; Gott weiß, warum er sich so hatte einspinnen lassen. Ein Glück war es, daß er nicht hängen geblieben war – bei Hanne war keine Zukunft!
Madam Johnsen fuhr fort, liebevoll an ihm zu hängen, und sie kam oft herüber, um eine kleine Unterhaltung zu machen; sie konnte die guten Tage nicht vergessen, die sie miteinander gehabt hatten. Es endete stets mit einem Jammer über Hanne; die Alte fühlte sich von ihr verlassen:
»Kannst du es begreifen, was mit ihr ist, Pelle? Sie geht wie im Schlaf herum, und auf alles, was ich sage, antwortet sie nur: ›Ja, Mutter, ja, Mutter!‹ Ich könnte weinen, so wunderlich leer klingt das, wie eine Stimme aus dem Grab. Und von dem Glück redet sie nie mehr – schmückt sich auch nicht, um es in Empfang zu nehmen! Wenn sie doch wieder mit ihren Narrenstreichen anfangen und nach dem Fremden aussehen möchte, dann hätte ich mein Kind doch wieder. Aber sie geht nur umher und sinkt in sich zusammen und starrt um sich herum wie im Halbschlaf, als sei sie mitten in all dem Leeren; Launen hat sie gar nicht mehr. Sie geht so einförmig herum mit den öden Gedanken wie eine wandernde Leiche. Kannst du verstehen, was ihr fehlt?«
»Nein, ich weiß nichts«, antwortete Pelle.
»Du sagst das so wunderbar, als ob du doch was wüßtest und nicht damit herausrücken wolltest – und ich Ärmste weiß weder aus noch ein.« Die gutmütige Frau fing an zu weinen. »Warum kommst du auch nicht mehr zu uns hinüber?«
»Ach, ich weiß nicht, ich habe so viel vor, Madam Johnsen«, erwiderte Pelle ausweichend.
»Wenn sie bloß nicht verhext ist. Sie nimmt gar nicht teil an dem, was ich ihr erzähle; du könntest wirklich auch einmal zu uns herüberkommen – vielleicht würde sie das ein wenig aufmuntern. Du solltest dich jetzt nicht an uns rächen. Sie hat dich doch lieb gehabt auf ihre Weise – und mir bist du wie ein Sohn gewesen. Willst du nicht heute abend zu uns 'rüberkommen?«
»Ich habe wohl keine Zeit! Aber ich will einmal sehen«, sagte er leise.
Und dann ging sie, wunderlich schwer und schleppend. Sie trug ihre fünfzig Jahre schlecht. Pelle hatte Mitleid mit ihr, aber er konnte sich nicht entschließen, 'rüberzugehen.
»Du bist ganz abscheulich«, sagte Marie und stampfte wütend auf den Fußboden. »Das ist jämmerlich von dir!«
Pelle runzelte die Stirn. »Das verstehst du nicht, Marie!«
»Ach, glaubst du, daß ich das nicht ganz gut weiß! – Aber weißt du, was die Frauenzimmer von dir sagen? Daß du gar kein Mann bist, sonst hättest du Hanne die Flügel stutzen können.«
Pelle starrte sie verwundert an; er sagte nichts, sah sie nur an und schüttelte den Kopf.
»Was glotzst du mich an?« sagte sie und stellte sich herausfordernd vor ihn hin. »Glaubst du vielleicht, daß ich mich vor dir genier', dir zu sagen, was ich will? Glotz mich nicht so an, sag' ich dir, sonst kriegst du einen ans Maul.« Sie war glühend rot vor Scham. »Soll ich noch was Schlimmeres sagen, weil du mich mit der Fratze anglotzst, was? Glaub' man nich', daß ich mich genier'!« Ihre Stimme war hart und heiser, sie war ganz wild vor Wut.
Pelle fühlte recht gut, daß es die Scham war, die in ihr arbeitete. Sie mußte die Leine auslaufen dürfen. Er schwieg, wandte aber seinen vorwurfsvollen Blick nicht von ihr ab. Plötzlich spie sie ihm ins Gesicht und lief dann mit einem bösen Lachen in ihr Zimmer hinein.
Da drinnen regierte sie eine Weile heftig mit den Sachen herum und beruhigte sich dann. Durch die Stille konnte er sie leise schluchzen hören. Er ging nicht zu ihr hinein. Solche Szenen zwischen ihnen waren schon früher vorgekommen, und er wußte, daß sie sich den übrigen Tag über selbst schämte und darunter litt, wenn sie ihm ins Gesicht sehen mußte. Das Gefühl wollte er nicht verletzen.
Er kleidete sich um und ging aus.