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XXV

Die »Arche« lag da und fror unter dem Nordwind, aller ihrer Lebensäußerungen entkleidet. Der Lärm, der den Sommer hindurch aus der engen Hoftiefe aufbrodelte, war verstummt; das unaufhörliche Tropfen von hundert Abwaschröhren, das den Hof in einen schmalen Brunnen mit grünen schleimigen Wänden verwandelte, war auch eingestellt. Der Frost hatte einen Stopphahn davorgedreht, und wo die Kröten in den Mauerlöchern in phantastischen Grotten von grünem Moos und schleimigen Fasern gesessen und sich gekröpft hatten, da hing jetzt eine Eiskruste herab – ein schmutziger Gletscher, der von der Mansarde bis ganz hinab auf den Boden des Hofes reichte.

Wo waren sie nun geblieben, die schmutzigen, fröhlichen Kinder? Und der Abendrausch des Leichenwagenkutschers, den die Frau ihm jetzt ausprügeln müßte? Und die nicht totzukriegende Frauenstimme, die plötzlich über dieses oder jenes Geländer hinüberbrüllen und den ganzen Hof durchhecheln konnte – scharf wie ein Rasiermesser?

Der Frost war noch strenger geworden! Er hatte alles weggefegt, und es so gut verschlossen, wie es sich tun ließ. Der Leierkastenmann lag unten in seinem Keller und hatte von dem guten Freund des Nordwindes, von der Gicht, Besuch; und unten in dem verlassenen Hof ging der Zug umher und schnüffelte an den feuchten Wänden entlang. Jedesmal, wenn jemand den Tonnengang passierte, faßte er ihn mit seinen Eisfingern an die Knie, so daß es bis ans Herz hinauf weh tat.

Die alte Kaserne lag da und glotzte leer aus den schwarzen Fenstern. Die Kälte hatte das letzte Fach geblümter Gardinen abgenommen und es auf das Leihamt gebracht. Den Kanarienvogel hatte sie für eine Stiege Brennholz veräußert und dem lagelangen, einsamen Weinen kleiner Kinder hinter den verschlossenen Türen Einhalt getan – dem Lobgesang der Arbeit –, der sich erst am Abend gelegt hatte, wenn die Mutter aus der Fabrik nach Hause kam. Jetzt saß jede Mutter den ganzen Tag hindurch bei ihrem Kinde, und niemand anders als die Kälte hatte ihnen diese Freude vergönnt. Sie und Schwester Hunger kamen auch jeden Tag und sahen sich nach ihnen um.

Drinnen im dritten Stockwerk nach dem Hof hinaus saß die Witwe Johnsen in der Ecke am Ofen, Hannes kleines Mädchen lag zusammengekauert auf einem Fetzen Flickendecke an der Erde. Durch das kahle Fenster sah man nur Eis, als sei der ganze Weltenraum bis auf den Grund gefroren. Da waren Hauchflecke an den Fensterscheiben entstanden, jedesmal wenn die Kleine hinausgesehen hatte, aber sie schlossen sich gleich wieder. Die Alte saß da und starrte gerade vor sich hin in die Stube hinein mit großen, runden Augen, ihr winziger Kopf wackelte fortwährend, und sie glich einem unheilverkündenden Vogel, der viel mehr weiß, als jemand zu hören aushalten kann.

»Nu frier ich wieder, Großmutter«, sagte die Kleine zahm.

»Sieh nur zu, daß du zittern kannst«, sagte Madam Johnsen. »Dann wirst du warm.«

»Zitterst du denn?«

»Nein, ich bin zu alt und steif – ich kann nicht mehr zittern. Aber die Kälte tötet meine Glieder, so daß ich sie nicht fühle. Ich komme schon ganz gut durch, bloß der Rücken!«

»Du lehnst ja auch den Rücken an den kalten Ofen!«

»Ja, denn die Kälte gräbt so in meinem armen Rücken.«

»Aber das ist doch dumm, denn da ist ja gar nicht eingeheizt.«

»Aber wenn mir doch mein Rücken so friert«, sagte die Alte flehentlich.

Dann schwieg das Kind und wandte den Kopf nach der anderen Seite.

Über die ganze Wand zerstreut saßen kleine Kristalle und glitzerten. Hin und wieder raschelte es in der Tapete.

»Großmutter, was ist das für ein schnurriges Geräusch?« fragte das Kind.

»Das sind Wanzen, die nach unten wandern«, erwiderte die Alte. »Es ist ihnen zu kalt da oben auf der Mansarde geworden, und hier mögen sie nicht sein. Du sollst sehen, sie gehen zu Olsens mit der warmen Wand; da halten sie sich in der Kälte auf.«

»Ist denn die Wand bei Olsens immer warm?«

»Ja, wenn sie in der Dampfmühle Feuer unterm Kessel haben.«

Da schwieg die Kleine eine Weile und drehte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen. Ihr Gesicht drückte einen schrecklichen Überdruß aus. »Mich friert«, jammerte sie nach einer Weile.

»Sieh man zu, daß du zittern kannst!«

»Soll ich nicht lieber ein bißchen springen?«

»Nein, denn dann schluckst du bloß Kälte 'runter, und die Luft wird auch wie Eis. Sei bloß still, du, nu kommt deine Mutter auch bald und bringt was!«

»Sie kriegt ja doch nichts«, sagte das Kind. »Wenn sie 'ran kommt, denn ist es immer schon alle.«

»Das ist ja nicht wahr«, sagte Madam Johnsen hart. »Da ist Essen genug in dem Wohltätigkeitskessel für alle, die es bloß verstehen, sich 'ranzuhalten. Der Arme muß der Scham den Kopf abreißen – und heute bringt sie auch was!«

Die Kleine stand auf und hauchte ein Loch in das Eis der Fensterscheibe.

»Sieh mal nach, ob es nicht ein wenig schneien will, damit der arme Mann doch einen Tag Verdienst hat«, sagte die Alte.

Nein, der Wind wehte noch immer aus Norden, sonst pflegte er ja gewöhnlich an den Kanälen entlang zu schlürfen, aber nun saß er Woche auf Woche oben auf dem Nikolaiturm und blies die Flöte auf den hohlen Knochen der Armut. Die Kanäle waren mit Eis bedeckt, und die Erde sah entsetzlich hart aus. Der nackte Frost jagte die Leute wie welke Blätter darüberhin. Mit einem dünnen Rascheln wurden sie über die Brücke gefegt und verschwanden.

Da kam ein großer gelber Wagen gefahren. Die mächtige Tür des Gefängnisses öffnete sich langsam und verschluckte ihn. ES war der Wagen mit Fleisch für die Gefangenen. Die Kleine verfolgte ihn mit einem verlorenen Ausdruck.

»Mutter kommt ja nicht,« sagte sie verzagend – »ich bin so hungrig.«

»Sie wird schon kommen – warte du nur! Und steh nicht da im Licht, sondern komm hierher in die Ecke! Das Licht schlägt die Kälte durch einen durch.«

»Ich finde aber, daß es im Dunkeln noch kälter ist.«

»Das kommt bloß davon, weil du noch nichts verstehst. Ich sehne mich jetzt nur noch nach dem großen Dunkel.«

»Und ich sehne mich nach der Sonne«, entgegnete die Kleine trotzig.

Draußen in dem Holzwerk auf dem Hof knirschte es. Das Kind lief hinaus und öffnete die Tür nach der Galerie. Es waren nur die Leute ihnen gegenüber, die sich daran machten, eine Stufe loszubrechen.

Aber da kam die Mutter, mit einem blechernen Eimer in der Hand und einem Bündel unter dem Arm, und da war was im Eimer – er sah so schwer aus. Tralala! Und das Bündel, das Bündel! Was wohl darin war? »Mutter, Mutter!« sang es schrill, und die Kleine lehnte sich weit über das gebrechliche Geländer hinaus.

Hanne kam schnell die Treppe hinauf, mit offenem Mund und roten Wangen; aus jedem kleinen Nest guckte ein Gesicht heraus. »Nu is Witwe Hanne ihren schwersten Gang gegangen«, sagte ein jeder zu den Seinen. Sie wußten, eine wie große Ehre sie darin gesetzt hatte, Mutter und Kind selbst zu versorgen. Ein gutes Mädchen war sie.

Und Witwe Hanne nickte jedem von ihnen zu, als wollte sie sagen: Jetzt ist es getan – Gott sei Dank!

Dann stand sie über den Tisch gelehnt und hob den Deckel von dem Eimer: »Seht,« sagte sie und rührte mit einer Kelle in der Suppe herum, »da sind Graupen und auch Suppenkraut. Wenn wir jetzt bloß was hätten, womit wir es aufwärmen könnten.«

»Wir können ja auch ein bißchen von dem Holzwerk abbrechen, ebensogut wie die anderen«, sagte die Mutter.

»Ja,« antwortete Hanne atemlos, »ja, warum auch nicht! Wenn man betteln kann, kann man das wohl auch tun.«

Sie lief auf die Galerie hinaus und brach einige Gitterstäbe los, so daß es im Hof widerhallte. Aus allen den dunklen Nestern sahen sie es. Nun hatte Witwe Hanne ihrem Stolz den Kopf abgerissen.

Und dann saßen sie über der Suppe, die Alte und das Kind. »Eßt«, sagte Hanne, sie stand da und sah ihnen mit glühenden Augen zu, in ihren Wangen brannte es. Sie war heute so schön.

»Du siehst aus wie eine Blume in der Kälte«, sagte die Mutter. »Iß doch selbst, du kommst ja sonst um.«

Nein, Hanne wollte nicht essen. »Ich fühle mich so leicht,« sagte sie – »ich hab' kein Essen nötig.« Sie stand auf und fingerte an dem Bündel herum; in ihrer ganzen Gestalt war keine Ruhe, und der Mund ging ihr wie einer Fieberkranken.

»Was hast du da?« fragte Madam Johnsen.

»Kleider für dich und die kleine Marie. Ihr friert ja so. Ich habe sie unten bei der Trödlerin gekauft, es war so billig.«

»Gekauft hast du es, sagst du?«

»Ja, ich habe es auf Pump gekriegt.«

»Na, ja, wenn du dir bloß nicht zu viel auflädst. Aber es wird gut tun, etwas Warmes auf den Rücken zu kriegen!«

Hanne machte das Bündel auf, während die anderen gespannt zusahen. Ein leichtes Sommerkleid kam zum Vorschein, gekräuselt und ausgeschnitten – blau wie die Augen der kleinen Marie, und feine Damenwäsche und ein Paar dünne Ziegenlederschuhe. Das Kind und die Alte starrten den Staat verwundert an. »Nee, so was Feines«, sagten sie, sie hatten alles vergessen und bewunderten nur. Aber Hanne stand starr vor Entsetzen da, und plötzlich brach sie schluchzend zusammen.

»Na, na, Hanne«, sagte die Mutter und klopfte ihr auf den Rücken. »Du hast auch mal Staat für dich selbst gekauft, das ist ja doch nicht so schlimm. Die Jugend fordert ja auch ihr Recht!«

»Nein, Mutter, nein, ich habe es ja gar nicht gekauft! Ich fand, ihr beiden brauchtet etwas gegen die Kälte, und da ging ich in ein feines Haus und bat, ob sie nicht abgelegte Sachen hätten; und da war ein junges Fräulein, die hat mir dies gegeben, und sie war so lieb – Nein, ich wußte ja gar nicht, was in dem Bündel war – ich hab' es wirklich nicht gewußt, liebe Mutter!«

»Na, ja, ja, das ist schön genug, das schadet doch nichts«, sagte die Alte und breitete den Staat vor sich aus. »Es sind feine Sachen.« Aber Hanne legte das Ganze zusammen und warf es in die Ofenecke.

»Du bist krank,« sagte die Mutter und sah sie forschend an – »deine Augen brennen ja wie Kohlen.«

Die Dunkelheit brach herein, und sie gingen zu Bett. Dann brannte man nicht unnütz Licht, und im Bett war es schließlich noch am besten. Sie hatten das Federbett quer über sich gelegt, dann reichte es bequem über alle drei, und ihre täglichen Kleider lagen unten am Fußende. Die kleine Marie lag in der Mitte. Da konnte ihr nichts zustoßen, und sie redeten ins Blaue hinein über irgend etwas Gleichgültiges. Hannes Stimme klang hoch und festlich in der Dunkelheit, als komme sie aus lichten Gefilden.

»Du bist so unruhig«, sagte die Mutter. »Willst du nicht versuchen, ein wenig zu schlafen? Ich kann den Brand in dir bis hierher merken.«

»Mir ist so leicht,« erwiderte Hanne, »ich kann nicht still liegen.« Und dann lag sie doch still und starrte mit einem unhörbaren Summen vor sich hin, während das Fieber in ihr raste.

Nach einer Weile erwachte die Alte, weil sie fror. Hanne stand mitten im Zimmer mit offenem Munde und war im Begriff, beim Schein eines Lichtstummels die feine Wäsche anzuziehen. Ihr Atem kam in kurzen Stößen und lag weiß im Raum.

»Stehst du da nackend in der Kälte?« sagte Madam Johnsen vorwurfsvoll. »Du solltest dich ein wenig in acht nehmen.«

»Ach, Mutter, ich bin ja so warm! Denn es ist ja doch jetzt Sommer!«

»Was hast du vor, Kind?«

»Ich mache mich ja nur ein wenig fein, liebe Mutter!«

»Ja, ja – tanz Püppchen, tanz – – –! Das Beste von deiner Jugend hast du noch immer zugut, du Ärmste! Warum hast du dir nicht auch einen Mann gefangen, da wo du das Kind fingst?«

Hanne summte nur vor sich hin und zog das hellblaue Sommerkleid an. Es war ein wenig weit über der Brust. Aber der Ausschnitt saß gut über dem entblößten Busen. Eine leichte Wolke von Dampf entstieg ihrem Körper wie Sonnenrauch.

Die Mutter mußte ihr das Kleid im Rücken zuhaken. »Daß wir nur ja nicht Marie wecken!« flüsterte sie ganz erfüllt von der Pracht. »Und die feinen Spitzen an dem Hemd kannst du immer ein wenig hervorgucken lassen aus dem Kleid, das sieht so hübsch aus. Nu siehst du ja wirklich aus wie eine Sommerbraut!«

»Ich will mal 'runterlaufen und es Frau Olsen zeigen«, sagte Hanne und preßte die Hand gegen die glühenden Wangen.

»Ja, tu du das – arme Freude will auch ihr Teil haben«, erwiderte die Alte und wandte sich nach der Wand um.

Hanne lief die Treppe hinab und weiter hinab über den Hof und auf die Straße hinaus. Die Erde lag hart und klingend da unter dem nackten Frost; sie zerrte wütend an allem, Hanne aber brannte sie durch die dünnen Schuhe. Sie lief über den Markt, über die Brücke und hinüber nach dem lichteren Stadtteil – Pelle gerade in die Arme, der hinwollte, um sich nach Vater Lasse umzusehen.

Pelle war müde und abgestumpft von dem fortgesetzten Kampf mit der harten Wirklichkeit. Die Bodenlosigkeit des Elends begann, an seinem Mut zu zehren. Nützte es denn wohl etwas, die vielen zusammenzuhalten? Das machte ja nur die Qual noch härter für sie. Aber im Augenblick sah er alles so licht an, er war in einen Rausch hineingelangt, wie so oft in dieser letzten Zeit. Mitten in der härtesten Wirklichkeit geschah es, daß seine Seele absprang und ihm die neue Zeit des Glücks vorzauberte; der entsetzliche Mangel warf ihn dem Überfluß in die Arme! Und in diesem Zustand befand er sich jetzt. Er spürte die Kälte nicht, die große Not existierte nicht; starke seelische Anspannung zusammen mit mangelnder Ernährung bewirkten, daß ihm das Blut immer in den Ohren sang. Er vernahm es wie ein glückliches Summen aus einer zufriedenen Welt. Es wunderte ihn nicht, daß er Hanne in Sommerkleidung und zum Ball geschmückt begegnete.

»Pelle, mein Schatz«, sagte sie und griff nach seiner Hand. »Willst du mit zum Tanz?«

Das ist ja die alte Hanne, dachte Pelle erfreut – die sorglose Prinzessin der »Arche«, und sie hat Fieber noch immer so wie damals. Er hatte selbst Fieber. Wenn ihre Augen sich begegneten, schlugen sie seltsame, kalte Funken. Er hatte ganz Vater Lasse und sein Vorhaben vergessen und ging mit ihr.

Der Eingang »Zum siebenten Himmel« lag in Licht gebadet da, und dies Licht entblößte die Kälte der Straße. Da drinnen in dem Lichtmeer drängten die Kinder des großen Winters sich zusammen, zerzaust, verfroren. Sie standen da und schudderten sich, wühlten in den Taschen, um ein Fünförestück zu finden, und wenn sie eins fanden, schlichen sie durch den blutroten Tunnel in den Tanzsaal hinein.

Aber da drinnen war es auch kalt, der Atem hing wie weißer Puder in der Luft, und von dem gebohnten Fußboden funkelten Eiskristalle auf. Wer hatte wohl daran gedacht, in einem Raum einzuheizen, wo die Lebensfreude mit tausend schwelenden Schnuppen brannte? Hier pflegte die Sorglosigkeit ihren Überfluß abzugeben, so daß der hohe Raum im Nebel dalag und die Musikanten schwitzten.

Jetzt hatte die Kälte diesen Überschuß weggenommen. An den Tischen lungerten die Arbeitslosen herum und mochten sich nicht rühren. Nicht einmal den Ärmsten hatte sie ein bißchen Leichtsinn übriggelassen. Cerberus Olsen konnte sich die Mühe sparen, mit ausgebreiteten Riesenarmen herumzugehen und die zwei, drei Paar Tanzenden mit ihren fünf Ören nach der Musik hinzutreiben – als sei es eine ganze Schar. Man glitt nur über die Bretter dahin, um Erlaubnis zu haben, hierzubleiben. Mein Gott, einige von ihnen hatten ja eine Uhr und einen goldenen Ring, und Cerberus hatte Bargeld. Was war da für Not? Hier saßen sie unter der Stuckdecke und den vergoldeten Spiegeln, die Männer über ein Glas Bier, und ließen die Mädchen frieren – selbst Elvira durfte still dasitzen. »Mazurka!« brüllte Cerberus und ging drohend von Tisch zu Tisch. Sie schlenderten in den Saal wie verdrossene Hunde, tanzten mißmutig einmal herum – und bezahlten.

Aber was ist denn das? Schritt da nicht der Sommer selbst in den Saal hinein? Glühend und luftig gekleidet in Vergißmeinnichtblau – mit einer Rose im blonden Haar? Die Wärme spielt wie fliegender Sommer über ihren nackten Schultern, obwohl sie geradeswegs aus dem großen Winter herauskommt, und die Beine setzt sie dreist vor sich wie ein Freudenmädchen. Wie stolz sie ihren Schoß trägt, als sei sie die Braut des Glückes selber – und wie sie brennt! Wer ist sie nur? Kennt denn niemand sie?

Ach, das ist ja Witwe Hanne, ein anständiges Mädchen, das sieben Jahre lang zur Fabrik und wieder zurück ihren treuen Gang gegangen ist, um ihre alte Mutter und ihr Kind zu versorgen!

Aber wie kommt es nur, daß sie den besonnenen Pelle am Arm hat? Ihn, der doch seine eigene Jugend an den Teufel verkauft hat, um das Elend zu mildern. – Was will er hier auf dem Tanzboden? Und Hanne, woher hat sie den Staat? Sie ist ja doch arbeitslos? Und wie in aller Welt ist sie nur so hübsch geworden?

Sie flüstern hinter ihr drein, während sie dahingeht, und mitten im Saal bleibt sie stehen und lächelt. Ihre Augen sind wie ein Krater. Ein junger Mann taumelt vor und umfaßt sie. Ein Tanz mit Hanne! Ein Tanz mit Hanne! – –

Hanne tanzt mit einem eigenen Zögern, als hole sie ihre Freude von weit her. Schwer und weich ruht sie in dem Arm ihres Tänzers, und aus ihrem nackten Busen steigt die Wärme auf und löscht die Kälte des großen Winters. Ist es nicht, als brenne sie? Wer sich doch bei ihr wärmen könnte!

Jetzt spendet der Raum wieder Wärme. Hanne ist wie eine Feuerkugel, die darin rundherum kreist und alles entzündet; wo sie vorübergleitet, fängt es Feuer, jung rollt das Blut in einem. Sie stürzen die Stühle um, nur um mit ihr tanzen zu können. »Heda, Tanzmeister! Fünf Kronen auf meine Uhr. Aber sputen Sie sich!« – »Ach, Hanne, einen Tanz mit mir!« »Weißt du noch, daß wir auf der Fabrik zusammen gewesen sind? – Wir beide sind ja zusammen in die Schule gegangen!«

Hanne antwortet nicht, aber sie läßt Pelle los und legt ihren nackten Arm auf ihre Schultern, und wenn sie ihn mit der Wange berühren, so durchströmt sie Feuer. Sie wollen sie nicht wieder loslassen, sondern halten sie fest umschlungen und schleifen sie mit hin an die Musik, wo bezahlt werden soll. Es kommt kein Wort über ihre Lippen, aber der Brand in ihr ist ein Versprechen an einen jeden, das das Teuerste verheißt. »Darf ich dich heute abend nach Hause begleiten?« flüstern sie und hängen an ihren stummen Lippen.

Aber mit Pelle spricht sie, während sie dahinfliegt. »Pelle, wie bist du stark, warum hast du mich nicht genommen? Liebst du mich?« Sie hat die Hand in seine Schulter gekrallt und wirbelt mit ihm dahin. Ihr Atem brennt ihm ins Ohr hinein.

»Ich weiß nicht!« sagte er ängstlich. »Aber halte nur auf, du bist ja krank.«

»So halte mich an! Warum bist du nie stärker gewesen als ich? Willst du mich gern haben? Pelle, ich will die Deine sein!«

Pelle schüttelt den Kopf. »Nein, jetzt habe ich dich nur lieb wie eine Schwester!«

»Und ich liebe dich jetzt! Sieh, du bist mir so fremd – ich verstehe dich nicht! und deine Hand ist so hart, als kämest du aus einer anderen Welt. Du wiegst viel, Pelle, du bist schwer! Hast du das Glück aus der Fremde mit dir gebracht?«

»Hanne, du bist krank! Hör jetzt auf und laß mich dich nach Hause bringen!«

»Pelle, du warst doch nicht der Richtige. Wo hast du das Fremde? – Du hast ja doch nichts! So laß mich doch in Ruhe – ich will auch mit den anderen tanzen!«

Hanne hat bisher ununterbrochen getanzt. Die Männer stehen da und warten, wenn einer sie losläßt, springen zehn herzu, und Hanne will heute abend mit ihnen allen tanzen. Jeder soll Erlaubnis haben, sich an ihr zu wärmen! Die Augen, mit denen sie sieht, sind wie Funken in der Dunkelheit, ihr stummes Wesen regt sie auf, sie schwingen sie wilder und wilder. Wer nicht mit ihr tanzen kann, muß das Feuer in sich mit Getränken löschen. Der große Winter ist vertrieben, es ist warm hier wie in der Hölle. Das Blut brodelt in den Köpfen auf und in dem Weißen der Augen, es äußert sich in Unbändigkeit, in einem Bedürfnis, alles über den Haufen zu tanzen oder um sich zu schlagen.

Hanne ist heute abend wild – sie hat wohl ihre zweite Jugend, sagten Elvira und die anderen Mädchen schadenfroh.

Haltet den Mund! Hannes Wesen soll niemand beflecken! Wunderlich ist es, sie anzurühren, als sei sie nicht Fleisch und Blut, sondern das Feuer des Himmels, es schmerzt, wenn man ihrer Haut begegnet! Sie sagen, daß sie seit acht Tagen keinen Bissen gegessen hat. Das Kind und die Alte haben alles bekommen, was da war. Und dabei brennt sie doch! Und seht, jetzt hat sie seit zwei Stunden ununterbrochen getanzt! – Ist das zu verstehen? – – Hanne tanzt wie ein Bote aus einer anderen Welt, wo Feuer und nicht Kälte ihre Nahrung sind. Darum schleudert jeder seine Dame zur Seite, sobald sie frei ist. Wie leicht sie im Tanz ist! Es trägt empor, wenn man mit ihr tanzt – fort von der Kälte. Allen Jammer vergißt man in ihren Armen.

Bleicher und bleicher ist sie freilich geworden; sie tanzt sich den Brand weg, wo sich andere ihn antanzen. Jetzt ist sie ganz weiß, und Olsens Elvira kommt hin und zupft sie am Kleide, mit Angst im Blick: »Hanne, aber Hanne!« Aber sie sieht sie nicht, sie sehnt sich nur nach den nächsten Armen – mit geschlossenen Augen. Was sie doch alles hat und nachholen muß! Und die soll so rein sein? Sie merkt es ja nicht einmal, daß sie den anderen die Freude raubt. Ob sie wohl die Drehkrankheit gekriegt hat? – Den Veitstanz, in ihrem Witwenstand?

Halts Maul! Wie schön sie doch ist! Jetzt errötet sie wieder und öffnet die Augen. Flammen schlagen daraus hervor; sie hat Pelle aus seinem Winkel hervorgeholt und flüstert ihm errötend etwas zu – vielleicht das teure Versprechen, das sonst niemand ihr hat entlocken können. Immer muß auch Pelle der Glückliche sein.

»Pelle, warum willst du nicht mehr mit mir tanzen? Warum sitzt du da immer in der Ecke und schmollst? Bist du böse auf mich wie damals, und warum bist du so hart und kalt? – und deine Kleider sind ganz steif.«

»Ich komme von draußen her, aus dem großen Winter, Hanne! Die Kinder weinen nach Brot, und die Frauen hungern sich tot. Die Männer gehen mit müßigen Händen und schlagen den Blick zu Boden – sie schämen sich ihrer Beschäftigungslosigkeit!«

»Aber warum denn? Es ist ja doch Sommer. Sieh nur, wie froh sie alle sind! Nimm mich doch, Pelle!«

Hanne wird rot, röter wie Blut, und lehnt ihren Kopf an seine Schulter. Seht nur, wie sie sich hingibt, selig in einem schamlosen Rausch! Sie hängt hintenüber in seinen Armen, und zwischen ihren Lippen springt eine große Blutrose hervor und strömt herab über das sommerblaue Kleid.

Festgenagelt unter der entsetzlichen Last steht Pelle da und kann keinen Fuß rühren. Er starrt Hanne nur an, bis Cerberus sie in seine Riesenarme nimmt und sie hinausträgt. Sie ist ja so leicht in ihrem Sommerstaat – wiegt ja nichts!

»Mazurka!« brüllt er, als er zurückkehrt, und geht befehlend an den Reihen entlang.


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