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XXVI

Ende Januar erhielt Pelle einen Platz als Arbeitsmann in der Maschinenfabrik »Dänemark«. Er wurde schlecht bezahlt, aber Ellen freute sich doch. Mit nichts konnte man nur weinen – mit wenig ward sie stark. Sie war noch ein wenig blaß nach dem Wochenbett, sah aber mutig aus. Bei dem ersten Wort, daß Arbeit da sei, wimmelte es in ihrem Kopf von weit ausholenden Plänen. Sie machte sich gleich daran, Sachen einzulösen und kleine Schulden abzuwickeln; ein ganzes System machte sie und führte es unweigerlich aus.

Die neue Schwester war etwas für den kleinen Lasse; er begriff sofort, daß das eine war, die er bekommen hatte, um sich mit ihr in seiner Einsamkeit zu unterhalten. Solange die Sache währte, war er drüben bei den Großeltern gewesen, damit der Storch ihn nicht mitnehmen sollte, wenn er mit der kleinen Schwester kam – denn lieb war er ja! Als er dann wieder nach Hause kam, lag sie in seiner Wiege und schlief. Er tippte sie gleich auf die Augenlider, um zu sehen, ob sie auch Augen habe, so wie er selbst. Da gab es eins auf die Finger, und er konnte die spannende Frage an dem Tage nicht lösen.

Aber Augen hatte die Schwester, große dunkle Augen, die ihn durch die Stube verfolgten, hinter dem Kopfende und auf die andere Seite herum immer mit aufmerksamem Ausdruck, während die runden Wangen aus- und eingingen wie ein Sauger. Und der kleine Lasse fühlte sehr wohl, daß es verpflichtete, wenn die Augen auf einem ruhten. Er war schon ein ganz kleiner Mann mit dem Verlangen, sich bemerkbar zu machen, und so ging er denn hin und blies sich auf, rollte den Körper wie ein Clown und spielte den starken Mann mit dem Schemel – während die Schwester mit den Augen folgte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Er fand, sie hätte wohl ein wenig Beifall äußern können, wenn er sich doch so viel Mühe gab!

Eines Tages blies er eine Papiertüte auf und zerknallte sie vor ihrem Gesicht. Das half. Schwester vergaß ihre Unerschütterlichkeit, fuhr in die Höhe und fing an zu brüllen. Es setzte Prügel dafür, aber dafür hatte er sie nun. Es zuckte schon in ihrem kleinen Gesicht, wenn er nur hinkam, um ihr irgend etwas zu zeigen; oft brüllte sie schon auf, noch bevor seine Kunststücke losgingen. »Geh weg von Schwester, Lasse-Frederik!« sagte die Mutter. »Du erschreckst sie ja!«

Aber nur einen Monat später war es wieder ganz anders. Da gab es niemand, der Klein-Lasses Unternehmungen besser verstand als Schwester. Sie zwitscherte wie ein Star, wenn er seinen kleinen drallen Körper nur bewegte oder einen Laut von sich gab.

Ellens versteinerter Ausdruck war verschwunden jetzt, wo sie wieder etwas hatte, womit sie wirken konnte. Die Kälte hatte ihr allerlei von ihren Ansprüchen abgewöhnt, andere waren durch die Kinder befriedigt. Die beiden Kleinen beschäftigten sie sehr; sie entbehrte Pelle nicht mehr. Sie hatte sich daran gewöhnt, daß er beständig von Hause fort war, und ihn auf ihre eigene Weise in ihre Gedanken aufgenommen. Während der Arbeit ging sie umher und plauderte inwendig mit ihm; es war ihr eine Freude, es ihm gemütlich zu machen während der kurzen Zeit, wo er zu Hause war.

Pelle empfand das Heim als trauliche, kleine Welt, in der er Zuflucht finden konnte, wenn er müde war. Das dunkle Ziehen in Ellens Blick hatte er ausgelöst – in Gestalt von zwei lieben kleinen Geschöpfen, die ihr genug zu tun gaben. Jetzt war es ihr Wesen selber, das ihm entgegenkam. Und es lag eine eigene Treue in ihr, die sein Herz packte; sie schmollte nicht über den kleinen Verdienst und machte ihm keine Vorwürfe, weil er nur Arbeitsmann war.

Seine Stellung als Vorsitzender im Fachverein hatte er wegen der größeren Wirksamkeit aufgeben müssen. Es war auch keine Aussicht vorhanden, fürs erste zu seinem Beruf zurückzukehren – und die harte körperliche Arbeit sagte ihm zu.

Um dem kleinen Tagelohn aufzuhelfen, beschäftigte er sich abends mit Flickarbeit. Ellen half ihm, und sie saßen da und plauderten drauflos. Auf die Bewegung ließen sie sich nicht ein, das interessierte Ellen nicht, und er hatte nichts dagegen, für einen Augenblick Ruhe zu haben. Klein-Lasse saß am Tisch, er zeichnete und gab seinen Senf mit dazu. Oft, wenn Pelle die Arbeit hervorholte, hatte Ellen im Laufe des Tages das meiste ausgeführt, und nur übriggelassen, worauf sie sich nicht verstand. Dafür ersann er Kleinigkeiten, durch die er sie erfreuen konnte.

Im neuen Jahr war der Winter nicht mehr so schlimm. Schon der Februar brachte die ersten Frühlingsverheißungen. Das spürte man an Ellen.

»Wollen wir uns nicht einen Proviantkorb packen und Sonntag nach einem von den Wirtsgärten hinausfahren? Es tut den Kindern gut, in die Luft zu kommen«, konnte sie wohl sagen.

Pelle wollte gern. Aber Sonntag war Versammlung in der Parteileitung und Versammlung über Angelegenheiten der Fabrik – an beiden Stellen mußte er zugegen sein. Am Abend hatte er versprochen, in einem Verein zu reden.

»Dann fahren wir selbst hinaus, die Kinder und ich!« erwiderte Ellen ruhig. Sie kamen nach Hause und hatten sich vorzüglich amüsiert; Pelle war nicht mehr unentbehrlich.


Der strenge Winter war endlich vorüber. Es fror noch – namentlich des Nachts –, aber die Leute wußten es trotzdem. Und auch das Eis in den Kanälen wußte es. Es fing an, Risse die Kreuz und Quer zu bekommen und hinauszuwandern. Auch die Häuser hatten Frühlingsgefühl und wurden heller im Ton, und oben in der Luft schien die Sonne; wenn man hinaufsah, konnte man ihren Schimmer über den Dächern sehen. Unten auf den Gassen und in den brunnentiefen Höfen trabten die Kinder im Schneeschlamm herum und sangen der Sonne zu, die sie nicht sehen konnten.

Die Leute fingen wieder an sich aufzurichten nach dem langen Krummliegen im Winter. Jederzeit konnte die Kälte wieder da sein; aber alles war darüber einig, an den Frühling zu glauben. Der Star fing an, sich einzufinden, die Säfte der Erde stiegen wieder bis an die Oberfläche hinauf und brachten auf der harten Kruste dunkle Flecke hervor, und der Umsatz wagte sich hervor. Es war ein sonderbarer gleichartiger Wille, der das Ganze beherrschte. Unten in der Erde keimte es mitten im Frost und Schnee und kroch jung hervor, gleichsam von der Kälte selbst geboren, und in den Verfrorenen des Winters entfalteten sich die Verheißungen – trotz allem. Die Arbeiterviertel fingen an aufzuleben; jetzt konnte es wieder nützen, sich nach Arbeit umzusehen. Es tat gut, hinauszukommen und sich ein wenig im Licht zu bewegen. Es mußte auch gut tun, jeden Tag den Bauch wieder zu füllen und die Habseligkeiten von dem Pfandleiher wieder nach Hause zu holen und sie ein wenig zu lüften, bis die Reihe wieder an sie kam.

Aber es ging nicht so flott, wie es gehen sollte. Es sah aus, als habe die Kälte diejenigen, die den Betrieben vorstanden, vollständig gelähmt. Der Frühling rückte näher, die Sonne stieg mit jedem Tag und fing an, Macht zu bekommen. Aber die Geschäfte wollten nicht recht wieder in Gang kommen über das hinaus, was der Tag erforderte. Es war kein Schwung darin so wie sonst! In dieser Jahreszeit pflegte man gern für das Lager zu arbeiten, um den Bedarf des Sommers decken zu können; was der Winter gehemmt hatte, pflegte man jetzt einzuholen – indem man alle Kräfte anspannte und Überstunden machte.

Viele bekümmerte Fragen gingen hin und her – was war hier nur einmal los? Warum kamen die Dinge nicht in Gang? Der »Arbeiter« gab vorläufig keine Erklärung, sondern enthielt einige verblümte Warnungen für gewisse Leute, daß sie sich nicht mit der Not verbünden sollten.

Allmählich erhielten die Vorstellungen feste Formen: die Arbeitgeber bereiteten irgend etwas vor, deshalb nahmen sie die Betriebe nicht so kräftig auf. Die Arbeiter hatten trotz der Winternot wieder einige von den Ihren in den Reichstag gebracht, und nun bereiteten sie sich vor, bei den städtischen Wahlen eine Schlacht zu schlagen. Das war es, was los war! Und in erster Linie die beständig wachsende Organisation, die jetzt als ein Ganzes alle Berufe und das ganze Land umspannte – und verlangte, mit über die Verhältnisse zu bestimmen! Der arme Mann sollte fühlen, wie wenig er vermochte ohne die, die alles im Gange hielten.

In all dies hinein drangen Gerüchte, daß ein Lahmlegen jeglicher Wirksamkeit vorbereitet werde, um mit einem Schlage die Organisation zu zertrümmern; aber das war zu unbegreiflich. Man hatte nur kleinere Arbeitsstockungen erlebt, wo Uneinigkeit über einen bestimmten Punkt vorlag. Daß jemand daran denken konnte, die Winternot gegen den Willen der Natur fortzusetzen, wo ein jeder willig war, auf Grundlage der geltenden Ordnung zu arbeiten – nein, der Gedanke war zu teuflisch!

Aber eine Linie war zu erkennen. Leuten, die sich besonders für die Bewegung ins Zeug gelegt hatten, wurde es schwerer, wieder Arbeit zu bekommen als anderen. Sie wurden zurückgesetzt oder waren ganz einfach durch andere ersetzt, wenn sie kamen und sich nach der Arbeitslosigkeit des Winters wieder meldeten. Unsicherheit herrschte namentlich in den Berufen, die in der Organisation am weitesten gediehen waren; man konnte nicht umhin, das als eine Verfolgung des Zusammenschlusses anzusehen. Daraus wuchs Unsicherheit hervor. Jeder fühlte, daß der Zustand unhaltbar war, und witterte irgend etwas Böses. Und namentlich innerhalb der Eisenindustrie waren die Verhältnisse gespannt. Die Eisenmänner hatten immer harte Hände; dort sah man zuerst die Absicht von dem, was im Werden war.

Pelle sah besorgt, was heraufzog. Wenn jetzt ein Kampf käme, würde er eine Niederlage für die Arbeiter bedeuten, die ohne Vorräte dastanden, bis auf die Haut entblößt. Der Winter hatte ihr bißchen Festungswerk der Erde gleichgemacht; ein Sturmlauf gegen sie würde wahrscheinlich ihr Zusammenhalten auseinandersprengen. Er äußerte seine Sorgen ihnen gegenüber nicht. Sie waren im Grunde wie kleine Kinder; es nützte nichts, daß sie unter zu großer Angst dahingingen. Aber in der Leitung bestand er darauf, daß man sehen müsse, den Kampf zu vermeiden, selbst wenn man Zugeständnisse machen müsse. Zum erstenmal machte Pelle den Vorschlag, rückwärtszugehen!

Eine Woche folgte der anderen, die Spannung wuchs, es geschah aber nichts. Die Arbeitgeber scheuten sich der öffentlichen Meinung gegenüber. Der Winter hatte große Wunden geschlagen; sie wagten nicht, die Verantwortung für eine Kriegserklärung auf sich zu nehmen.


In der Maschinenfabrik »Dänemark« war die Spannung älteren Datums. Damals, als die Landwirtschaft, von den Verhältnissen auf dem Weltmarkt gezwungen, vom Kornbau zum Molkereibetrieb überging, sah der Leiter der Fabrik voraus, daß hier die Zukunft liegen würde, und fing an, Molkereimaschinen herzustellen. Es gelang der Fabrik, eine Zentrifuge zu konstruieren, die gut anschlug, und der neue Industriezweig beschäftigte nun eine beständig wachsende Schar Arbeiter. Es waren die tüchtigsten Leute, die hierzu ausgewählt wurden; sie verbesserten beständig das Fabrikat, und der Absatz wuchs im Inlande wie im Auslande. Die Arbeiter wurden allmählich so geübt in der neuen Spezialität, daß die Fabrik sich gezwungen sah, den Akkord herabzusetzen – da sie sonst zu viel verdienten. Dies war zweimal im Laufe der Jahre geschehen, mit dem Hinweis darauf, daß man ja auf dem Weltmarkt konkurrieren müsse. Gleichzeitig stiegen aber die Zentrifugen der Fabrik beständig im Preise auf Grund der großen Nachfrage, die nach ihnen herrschte. Die Arbeiter hatten sich in die Herabsetzung, als etwas Unvermeidliches, gefunden und sich bemüht, ihre Geschicklichkeit noch weiter zu steigern, so daß sie jetzt wieder einen einigermaßen guten Verdienst erreicht hatten.

Jetzt gleich nach dem Winterschlaf fingen Gerüchte an umherzuschwirren, daß die Fabrik wieder den Akkord herabsetzen wolle. Aber jetzt hatten sie nicht die Absicht, sich dareinzufinden. Der Groll über die Ungerechtigkeit in diesem Vorgehen stieg ihnen zu Kopf; sie waren kurz davor, auf das bloße Gerücht hin zu demonstrieren. Pelle gelang es jedoch, sie zu der Einsicht zu bringen, daß ja nichts weiter vorlag als dummes Gerede, für das niemand Verantwortung hätte. Hinterher, als der Schrecken überstanden war und alles wieder seinen täglichen Gang ging, kamen sie zu ihm und dankten ihm.

Aber am nächsten Zahltag war da ein Bescheid vom Kontor, daß der geltende Tarif nicht zeitentsprechend sei – er solle verbessert werden. Das klang ja recht unschuldig, aber jeder wußte, was dahintersteckte.

Es war an einem der ersten Frühlingstage, die Sonne schien in den großen Fabrikraum und zog mächtige Lichtbalken hindurch, und drinnen in dem blauen Sonnennebel liefen die Gurten und Scheiben. Die Arbeiter standen da und pfiffen zu dem Ton der vielen Räder und des singenden Metalles. Der Lärm übertäubte alles andere, aber man konnte ihren Gesichtern ansehen, daß sie pfiffen und sangen. Sie glichen einer Schar Vögel, die eben an bekannten Küsten gelandet sind und den Frühling begrüßen.

Pelle trug Rohmaterial herbei, als die Nachricht kam und alle Freude auslöschte. Sie wanderte auf einem Zettel von Mann zu Mann, kurz und harthändig: die Fabrikleitung wollte nichts mit der Organisation zu schaffen haben, sondern umging sie schweigend. Jedermann hatte 14 Tage Frist, um den neu basierten Tarif zu unterschreiben. »Keine Verhandlung, Unterschrift, bitte schön – oder fertig!« Als der Zettel zu Pelle kam, waren alle Augen auf ihn gerichtet, als erwarte man ein Signal; das Werkzeug ruhte, die Maschinen lärmten eine Weile auf eigene Rechnung. Pelle las den Zettel und beugte sich dann über seine Arbeit nieder.

In der Mittagspause scharten sie sich um ihn. »Was nun?« fragten sie, und ihre Augen hingen an ihm, ihre Fäuste zitterten. »Sollen wir nicht zusammenpacken und sofort gehen? Denn nun wird es doch bald zu arg mit diesem Scheren, jedesmal wenn wieder ein klein wenig Wolle auf uns gewachsen ist.«

»Abwarten!« antwortete Pelle. »Wartet nur ab! Laßt die anderen das Ganze machen und laßt uns sehen, wie weit sie gehen werden! Tut, als sei nichts vorgefallen, und verrichtet eure Arbeit. Ihr habt Verantwortung für Frau und Kinder!«

Sie folgten murrend seinem Rat und gingen wieder an die Arbeit. Er wunderte sich nicht über sie; es hatte eine Zeit gegeben, in der auch er die Arbeit hinwarf, wenn man ihm zu nahe trat – selbst wenn alles zum Teufel gehen sollte. Aber jetzt stand er mit der Verantwortung für die vielen – das sollte einem Mann wohl Besonnenheit verleihen. »Abwarten!« sagte er wieder und wieder zu ihnen – »morgen wissen wir mehr als heute! Es gehört Überblick dazu, ehe man handelt!«

So legten sie denn den neuen Tarif zur Seite und gingen an ihre Arbeit, als sei nichts geschehen. Die Leitung der Fabrik schien die Sache als geordnet zu betrachten, die Direktoren gingen umher und sahen so vergnügt aus. Pelle bewunderte die Fassung der Kameraden; nach ein paar Tagen war derselbe Humor wieder da – sie trieben allerlei Kurzweil in den Essenspausen.

Sobald es zu Mittag pfiff, hielten die Maschinen an, und alle Leute warfen das Werkzeug hin. Einige zogen schnell eine Jacke über und wollten nach Hause, um einen Löffel voll warmen Essens zu bekommen, einzelne gingen in eine Kellerwirtschaft in der Nähe und aßen dort. Die einen weiten Heimweg hatten, ließen sich auf den Drehbänken nieder und hielten dort ihre Mahlzeit ab. Wenn das Essen verzehrt war, scharten sie sich in Haufen zusammen, plauderten und foppten bald diesen, bald jenen Kameraden. Pelle benutzte oft die Mittagspause, um in die »Arche« hinüberzugehen und Vater Lasse zu begrüßen, der Arbeit in einem der Speicher bekommen hatte und sich ganz ordentlich durchschlug.

Eines Mittags stand Pelle mitten in einem Haufen und zeichnete einen aufgeblasenen Werkmeister mit Kreide auf eine große Eisenplatte. Die Zeichnung erregte viel Munterkeit. Ein paar von den Kameraden hatten sich währenddem über den aufragenden Teil der Maschine in einem Taucherboot gezankt. Pelle wischte schnell seine Karikatur aus und entwarf schweigend einen Riß von der Maschine. Er hatte sie so oft gesehen, wenn das Boot daheim im Hafen lag. Die anderen mußten zugestehen, daß es so war.

Es trat eine plötzliche Stille ein, als einer der Ingenieure einen Augenblick durch die Halle ging. Er erblickte die Zeichnung und fragte, wer sie angefertigt habe.

Pelle mußte mit aufs Kontor hinaufkommen. Der Ingenieur fragte ihn nach allerlei aus und war erstaunt, daß er niemals Zeichenunterricht gehabt hatte. »Vielleicht können wir Sie hier oben gebrauchen«, sagte er. »Wollen Sie es versuchen?«

Es ging ein plötzliches Zucken durch Pelles Herz. Jetzt war das Glück da, das wahre, große Glück, das er des Fortschritts halber über Bord geworfen hatte – das seinen Mann nahm und ihn jäh in lichte Gefilde emporzog. »Ja,« stammelte er, »ja, vielen Dank!« Die Gemütsbewegung war nahe daran, ihn zu ersticken.

»Dann kommen Sie morgen um sieben Uhr auf die Zeichenstube«, sagte der Ingenieur. »Nein, was haben wir heute für einen Tag? Sonnabend, also Montag morgen.« Und damit war die Sache abgemacht, ohne Umschweife irgendwelcher Art. Das war ein Mann nach Pelles Herzen!

Als er dann wieder hinabkam, scharten sie sich um ihn, um das Ergebnis zu erfahren. »Jetzt ist dein Glück gemacht,« sagten sie, »jetzt wirst du beim Zeichnen angestellt, und wenn du deine Sache verstehst, bekommst du selbständige Aufgaben und wirst Konstrukteur. Den Weg ist Direktor Jeppesen gegangen, er hat hier unten bei den Sandformen angefangen, jetzt ist er Matador!« Ihre Gesichter leuchteten vor Freude über sein Glück. Er sah es ihnen an, daß sie ihn für fähig hielten, es zu allem möglichen zu bringen.

Wie im Traum verbrachte er den Rest des Tages und eilte dann nach Hause, um Ellen die Neuigkeit mitzuteilen; er war ganz verwirrt, es kochte in seinen Ohren wie in der Kindheit, wenn ihm das Leben plötzlich eines seiner Wunder offenbarte. Ellen schlang die Arme vor Freude um ihn, sie wollte ihn nicht wieder loslassen, sondern hielt ihn fest und starrte ihn an, bewundernd wie in den ersten Zeiten. »Ich hab' ja immer gewußt, daß du zu etwas bestimmt bist«, sagte sie und sah ihn stolz an. »Du gleichst ja keinem andern! Und jetzt sieh nur! Aber die Kinder, die sollen es auch wissen.« Und dann riß sie Schwesterchen aus dem Schlaf und erzählte ihr, was geschehen war. Die Kleine fing an zu weinen.

»Du erschreckst sie ja mit deiner Freude«, sagte Pelle und lachte selbst über das ganze Gesicht.

»Aber was nun – dann werden wir wohl mit feinen Leuten verkehren müssen?« sagte Ellen plötzlich, während sie den Tisch deckte. »Wenn ich mich nur dazu eigne. Und der Junge soll in die Bürgerschule gehen.«

Als Pelle gegessen hatte, wollte er sich an eine Flickarbeit setzen. »Nein,« sagte Ellen bestimmt und nahm ihm die Arbeit weg – »das ist jetzt keine Arbeit mehr für dich!«

»Aber es muß doch fertig gemacht werden,« sagte Pelle, »wir können doch keine halbfertige Arbeit abliefern.«

»Das will ich schon fertig machen, zieh du jetzt nur deine guten Kleider an, du siehst ja aus wie ein –«

»Wie ein Arbeitsmann, nicht wahr?« sagte Pelle lachend.

Pelle kleidete sich um und ging nach der »Arche«, um Lasse die Neuigkeit mitzuteilen. Später wollte er dann die anderen bei Ellens Eltern treffen. Lasse war zu Hause und saß da und verzehrte sein Abendbrot. Er hatte sich ein Spiegelei im Ofen gebraten, und auf dem Tisch standen Bier und Branntwein. Er hatte sich eine kleine Kammer auf dem langen Gang neben dem blöden Vinzlev gemietet; da war kein Fenster, sondern nur eine Fensterscheibe über der Tür nach dem dunklen Gang hinaus. Der Kalk war von den Wänden abgefallen, so daß der Lehm in großen Flächen hervorguckte.

»Ei, ei, sieh mal einer an«, sagte Lasse entzückt. »Nu is es also doch gekommen. Ich habe mich oft bei mir selbst gewundert, wozu du die unnütze Gabe bekommen hast – so dazuliegen und Wände und Papier zu bemalen – du, ein armer Arbeiterjunge. Etwas muß wohl damit beabsichtigt sein, habe ich so in meinem stillen Sinn zu mir gesagt, vielleicht is das die Gottesgabe – die ihn vorwärtsbringen soll! Und nu scheint es ja wirklich, als wenn sie ihren Nutzen schaffen soll.«

»Hier bei dir ist es nicht gemütlich, Vater!« sagte Pelle. »Aber nun nehme ich dich bald von hier fort, du magst wollen oder nicht. Wenn wir jetzt ein wenig von unseren Schulden vom Winter her von der Hand geschafft haben, dann ziehen wir in eine Dreizimmerwohnung, und dann bekommst du die eine Stube zu deiner Verfügung; aber dann darfst du nicht mehr auf Arbeit gehen, darauf mußt du dich gefaßt machen.«

»Ja, ja, ich habe nichts dagegen, bei euch zu wohnen, wenn es erst so weit is, daß ich den anderen nich' das Brot vom Munde wegnehme. Ach nein, Pelle, es wird mir nich' schwer werden, mich von der Arbeit zurückzuziehen; ich hab' mich abmaracht, seit ich hab' kriechen können; fast siebzig Jahre habe ich mich um mein tägliches Brot abgemüht – und nu bin ich müde! So hab' denn vielen Dank für deine gute Gesinnung. Ich will die Zeit schon mit den Kindern hinbringen. Schick du mir man Bescheid, wenn du willst.«

Die Neuigkeit war in der »Arche« schon bekannt, und sie kamen heran und wünschten ihm Glück, als er ging. »Nu läufst du hier nicht mehr herum und plauderst mit uns, wenn du erst in deine neue Tätigkeit gekommen bist,« sagten sie, »das geht ja nicht an! Aber vergiß uns darum doch nicht ganz, weil wir arme Vögel sind.«

»Ach nee, Pelle hat so viele Hungerzeiten mit uns Armen durchgemacht; er ist keiner von denen, der alte Freundschaft übertüncht!« antworteten sie sich selbst.

Erst jetzt, wo er die »Arche« verließ, fiel ihm ein, daß auch er Abschied zu nehmen hatte. Es war die herzliche Gemeinschaft mit all seinesgleichen, ihr lichter Glaube an ihn, und sein eigener Glaube an seine Aufgabe dort; es hatte eine eigene Freude in dieser halbverkümmerten Sorglosigkeit, in der Gemeinschaft und in dem Kampf gelegen. War er nicht gewissermaßen der Prinz der Armut, zu dem sie alle aufsahen und von dem sie erwarteten, daß er sie in das Ungewöhnliche hineinführen sollte? Und konnte er es verantworten, die Vielen um seines eigenen Glückes willen im Stich zu lassen? Vielleicht war er wirklich ausersehen, die Bewegung durchzuführen – als einziger, der es konnte.

Dieser Glaube hatte die ganze Zeit hindurch schwach in Pelle gedämmert, hatte hinter seiner Ausdauer im Kampf gestanden und hinter all der Freude, mit der er die Entbehrungen trug. Jetzt, wo er sich bewußt formte, verwarf er ihn als Hochmut – nein, so aufgeblasen war er nicht! Da waren genug, die außer ihm die Sache durchführen konnten – und das Glück hatte bei ihm angepocht. »Geh vorwärts, Pelle!« sagt es in ihm. »Was ist da noch zu besinnen? Du hast nicht das Recht, das Glück von dir zu stoßen! – Willst du dein eigenes Verderben, ohne den anderen zu nützen? Du bist ein guter Kamerad gewesen, aber hier trennen sich eure Wege. Gott selbst hat dir das Talent gegeben, schon als kleiner Junge übtest du es ja; niemand hat Nutzen davon, daß du im Elend bleibst. Wähle jetzt deinen eigenen Weg!«

Ja, Pelle hatte bereits gewählt! Er wußte sehr wohl, daß er das Glück annahm, was auch alle Welt dazu sagen mochte. Es tat ihm nur weh, die anderen dasitzen zu lassen! Er war viel zu herzlich mit der Armut verbunden, so schwer solidarisch fühlte er sich, daß es schmerzte, sich loszureißen. Durch die gemeinsamen Sorgen war er Mensch geworden, und der Kampf hatte eine eigene glückerfüllte Kraft gespendet. Nun kam er also nicht mehr zu den Versammlungen! Es war so sonderbar, daß er fortan dort nichts mehr zu schaffen hatte, sondern auf die andere Seite gehörte – er, Pelle, der der lichte Brand gewesen war. Nun, sie im Stich lassen würde er nie, das wußte er; selbst wenn er hoch emporstieg – und in der Beziehung hegte er keinen Zweifel –, so würde er doch immer für die alten Genossen fühlen und ihnen den Weg zu guten Verhältnissen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern weisen.

Ellen merkte seinen Ernst – vielleicht ahnte sie auch die Gewissensbisse; sie wollte ihm helfen, sich darüber hinwegzusetzen. »Wollen wir deinen Vater nicht schon morgen zu uns nehmen?« sagte sie. »Er kann ja im Wohnzimmer auf der Chaiselongue liegen, bis wir die neue Wohnung bekommen. Es ist unrecht, ihn so da herumgehen zu lassen, und in deiner neuen Stellung kannst du das auch gar nicht tun.«


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