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Pelle erwachte dadurch, daß Hanne vor seinem Bett stand und ihn an der Nase zupfte und seine komischen Grimassen nachäffte. Sie war über den Boden hereingekommen. »Wo bleibst du nur einmal ab, du?« sagte sie eifrig. »Wir stehen da und warten auf dich!«
»Ich kann ja doch nicht aufstehen!« erwiderte Pelle jämmerlich. »Pichelmeier ist über Nacht mit meinen Hosen ausgegangen und nicht wiedergekommen, und da habe ich mich wieder hingelegt, um zu schlafen.« Hanne lachte, so daß es schallte. »Wenn der nun gar nicht wiederkommt? Dann mußt du ja immer im Bett liegen, so wie Mutter Jahn.«
Da lachte Pelle auch.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll? Ihr müßt wohl ohne mich fortgehen!«
»Nein, das tun wir nicht!« sagte Hanne sehr bestimmt. »Dann holen wir den Vorratskorb hier herauf und decken auf dem Oberbett. Das ist ja grün. Warte mal, nun weiß ich was!«
Sie schlüpfte durch die Brettertür auf den Boden hinaus. Nach einer halben Stunde kam sie wieder und warf ein Paar gestreifte Beinkleider auf das Bett. »Ist's gefällig, Herr Klotzmajor! Nun beeile dich auch ein bißchen. Ich bin zu Leichenkutschers Marie gelaufen, da, wo sie dient, und die hat mir 'ne Alltagshose von ihrem Herrn gegeben. Aber sie muß sie morgen früh wiederhaben, damit ihre Herrschaft nichts merkt.«
Sobald sie gegangen war, schlüpfte Pelle in die Kleider. Als er fast fertig war, hörte er ein gewaltiges Knarren in dem Holzwerk, Pichelmeier war im Ansegeln begriffen. Er hielt das Tau mit der einen Hand, und bei jeder Biegung der Treppe beugte er sich ein paarmal über das Tau hinaus. Ringsumher in den Vorbauen kreischten die Frauenzimmer auf. Das amüsierte ihn. Sein großer ehrwürdiger Kopf strahlte in erhabener Freude. »Ach, halt's Maul!« sagte er gemütlich, sobald er Pelle erblickte. »Ach, halt's Maul!« Er stellte sich in der Tür auf und stand da und gluckste.
Pelle packte ihn beim Kragen. »Wo ist meine Sonntagshose?« fragte er empört. Die alte hatte Pichelmeier an, wo aber war die neue? Pichelmeier sah ihn verständnislos an. Seine schlaffen Züge arbeiteten unter dem Bestreben, irgend etwas aufzugraben. Plötzlich pfiff er. »Hose, sagst du, Junge? Was, was? Hast du wirklich Hose gesagt? – Also du fragst mich, wo deine Hose geblieben ist? Das hättest du doch gleich sagen können! Denn, siehst du, deine Buxe – die hab' ich ja – die hab' ich ja versetzt!«
»Du hast meine gute Hose versetzt?« rief Pelle und ließ ihn entsetzt los.
»Ja, bei Gott, das hab' ich getan! Du kannst ja selbst sehen, daß du gar nicht so hitzig zu werden brauchst. – Denn mich kannst du doch nicht auffressen. – Das klärt sich immer alles von selbst auf. Ja, das tut es. – Man muß sich bloß nicht aufregen!«
»Du bist ein Schuft von einem Dieb!« schrie Pelle. »Ja, das bist du!«
»Nee, nee, Kamerad, man immer ruhig Blut. Schrei dir man nicht die Lunge aus. Bei mir ist nichts zu holen. Pichelmeier ist ein ehrlicher Mann, will ich dir sagen. Hier kannst du selbst sehen! Was willst du mir dafür geben, was?« Er hatte den Pfandzettel aus der Tasche herausgenommen und reichte ihm Pelle todbeleidigt.
Pelle fingerte nervös an seinem Kragen herum; er war ganz außer sich vor Wut. Aber was konnte das nützen? Und nun kamen Hanne und ihre Mutter da drüben heraus. Hanne hatte einen gelben Strohhut mit breiten Bindebändern auf. Reizend sah sie aus; die Alte hatte den Korb über einen Arm. Sorgfältig schloß sie ab und steckte den Schlüssel unter die Türschwelle. Dann gingen sie voraus.
Es war nicht möglich, fertig zu werden vor diesem Jammerlappen von Pichelmeier. Er ging um Pelle herum mit einem unsicheren Lächeln, guckte ihm neugierig ins Gesicht und hielt sich vorsichtig außerhalb seines Bereiches. »Bist du böse, wie?« sagte er tröstend, als spreche er zu einem kleinen Kinde. »Fürchterlich böse? Zum Teufel auch, was willst du auch mit zwei Hosen, Kamerad? – Was willst du bloß mit zwei Hosen!« Es klang ganz verzweifelt vorwurfsvoll.
Pelle zog ein Paar breite Mädchenschuhe unter seinem Bett hervor und schlüpfte durch die Brettertür. Er drückte sich zwischen dem steilen Dach und der Rückseite der Kammer entlang, duckte unter ein paar Balken und plumpste den langen Gang hinab, der durch die Dachetage des Vorderhauses ging und Zimmer zu beiden Seiten hatte. Ein starkes Summen schlug ihm plötzlich entgegen. Die Türen all der kleinen Stuben standen nach dem langen Gang hinaus offen, der als gemeinschaftliches Wohnzimmer diente. Zanken und Plaudern und Kinderweinen kochte zusammen zu einem ohrenbetäubenden Lärm; hier war ein Leben wie in einem Bienenstock. Hier ist es eigentlich ganz lebhaft, dachte er. Morgen ziehe ich hier hinauf! Er hatte lange darüber nachgedacht, und nun sollte es ein Ende haben mit seinem Aufenthalt bei Pichelmeier.
Draußen vor einer der Türen stand ein kleines elfjähriges Mädchen und putzte ein Paar plumpe Jungenschuhe; sie hatte eine Sackleinwandschürze ganz bis unter die Achseln hinauf gebunden und trat doch noch darauf. Drinnen in der Stube gingen zwei Kinder von neun und zwölf Jahren auf und nieder, die Hände in der Tasche und mit mächtigen Schritten. Sie genossen den Sonntag. Sie waren in reinen Hemdärmeln und glichen zwei kleinen Hausvätern. Das war die »Familie«, Pelles Rettungsmannschaft.
»Hier hast du deine Schuhe, Marie«, sagte Pelle. »Besser konnte ich sie nicht machen!«
Sie nahm sie eifrig und betrachtete die Sohlen. Pelle hatte sie mit altem Leder ausgeflickt, sie dafür aber in der Fußhöhlung mit schwarzem Wachs geputzt. »Sie sind so fein geworden!« flüsterte sie und sah ihn dankbar an. Die Jungen kamen und reichten Pelle die Hand. »Was kosten die Schuhe?« fragte der ältere und griff mit ernster Miene nach seinem Geldbeutel.
»Damit wollen wir lieber warten, Peter, ich hab es heute eilig«, sagte Pelle lächelnd. »Wir schreiben es zu Neujahr auf die Rechnung.«
»Dann komme ich heute also doch noch mit den Jungen hinaus«, sagte Marie freudestrahlend. »Und du willst mit Hanne und ihrer Mutter in den Wald, das wissen wir recht gut.« Hüpfend begleitete sie ihn bis an die Treppe und lachte hinunter. Heute glich sie wirklich einem Kinde, das Altkluge und Bekümmerte war wie weggeblasen. »Du kannst ja die Haupttreppe hinuntergehen«, rief sie.
Eine enge Bodentreppe führte zu der Haupttreppe hinab, die inwendig im Hause lag und nur von den Bewohnern, die nach der Straße hinaus wohnten, benutzt werden durfte. Dies war das feine Ende der »Arche«; hier wohnten alte Seebären, Marinezimmerleute und andere Leute mit festen Einnahmen. Die Handeltreibenden unten aus den Kellern, der Kohlenmann, der Eisenhändler und die Trödlerin hatten auch ihre Wohnung hier. Diese Wohnungen bestanden aus zwei herrschaftlichen Zimmern; Küche und Entree gehörten nicht dazu, aber draußen auf der Haupttreppe in der Ecke neben der Tür einer jeden Familie stand eine Abwasche mit einem kleinen Bord darüber. Wenn der Deckel darübergelegt wurde, konnte man die Wasche auch zum Ausruhen benutzen. Es war ganz vornehm.
Die anderen waren schon bis an die Knüppelsbrücke gekommen, als er sie einholte. »Es hat ja so lange mit dir gedauert«, sagte Hanne und faßte ihn unter den Arm. »Wie geht es denn der ›Familie‹? Marie hat sich wohl über die Schuhe gefreut? Die arme Kleine, sie ist die letzten beiden Sonntage nicht ausgegangen, weil sie keine Sohlen unter den Schuhen hatte.«
»Sie hätte doch damit zu mir kommen können, ich bin ihnen ja so viel schuldig!«
»Nein, glaub nur nicht, daß sie das tut. Die ›Familie‹ ist stolz. Ich mußte 'rüber gehen und ihr die Schuhe förmlich stehlen.«
»Die armen Würmer!« sagte Madam Johnsen, »es ist wirklich rührend zu sehen, wie sie zusammenhalten! Und sich durchzuschlagen wissen. – Aber warum faßt du Pelle unter den Arm, Hanne, du meinst ja doch nichts damit.«
»Soll man durchaus was damit meinen, Mütterchen? Pelle ist heute mein Herr und soll mich verteidigen.«
»Großer Gott, gegen wen soll er dich denn verteidigen? Doch wohl höchstens gegen dich selbst, und das ist nicht leicht.«
»Gegen eine Schar Räuber, die mich im Wald überfallen und anstarren wird. Sonst mußt du ja eine große Summe Lösegeld herausrücken!«
»Ach, du lieber Gott! Ich würde viel eher Geld dafür bezahlen, wenn ich dich loswerden könnte. Wenn ich überhaupt Geld hätte. – Aber habt ihr wohl gesehen, wie blau der Himmel ist? Es ist herrlich, mit all der Sonne auf dem Rücken, die wärmt einen ganz bis ans Herz hinan.«
Beim Triangel kamen sie an einen Omnibus und rollten den Strandweg entlang. Der Wagen war voll von fröhlichen Menschen; sie saßen da und lachten über ein paar gemütliche Bürger, die schwitzten und einander dumme Witze zuwarfen. Hinter ihnen rollte sich der Staub drohend auf, blieb aber wie eine träge Wolke um die großen schwarzen Wassertonnen hängen, die gespreizt auf ihren hohen Gerüstbeinen am Wegesrande standen. Draußen auf dem Sund lagen die Boote mit ihren Segeln und kamen nicht von der Stelle. Alles feierte Sonntag.
Drinnen im Tiergarten war es kühl und frisch. Das Buchenlaub hatte noch seinen jungen Glanz und nahm sich wunderbar leicht und festlich aus zu den mächtigen hundertjährigen Stämmen. »Ei, wie schön der Wald ist!« rief Pelle. »Der ist ja wie ein Riesengreis, der sich eine junge Braut genommen hat.« Er war noch niemals in einem richtigen Buchenwald gewesen. Man wanderte hier ja wie in einer Kirche. Unmengen von Menschen waren hier auch. Ganz Kopenhagen war auf den Beinen bei dem guten Wetter. Die Leute waren wie berauscht von dem Sonnenschein, ganz ausgelassen, und der Schall ihrer Stimmen hängte sich an den Baumkronen fest und forderte nur auf, sich Luft zu machen. Drinnen zwischen den Baumstämmen gingen Menschen umher und amüsierten sich auf eigene Faust, schlugen mit großen Zweigen um sich und schrien rücksichtslos auf, nur um ihre eigenen lauten Stimmen zu hören. Einige Männer standen da drüben am Waldessaum und sangen im Chor; sie hatten weiße Mützen auf, und über die Grasebenen spazierten fröhliche Gruppen dahin, spielten Haschen oder rollten sich wie junge Kätzchen im Grünen.
Madam Johnsen trabte getreulich ein paar Schritte vor ihnen her, sie war am bekanntesten hier draußen und führte an. Pelle und Hanne gingen nebeneinander, ohne zu reden. Hanne war stumm und abwesend; Pelle nahm ihre Hand, um sie zu veranlassen, einen Hügel hinaufzulaufen; aber sie merkte es nicht einmal, daß er sie berührte, und die Hand war schlaff und naßkalt. Sie ging wie im Schlaf, alles bei ihr war verschlossen und ausgelöscht.
»Jetzt schwärmt sie wohl!« sagte Pelle und ließ mißmutig ihre Hand los. – Sie fiel tot nieder.
Die Alte wandte sich um und sah sie mit strahlenden Augen an.
»So herrlich hat der Wald seit vielen Jahren nicht geschimmert«, sagte sie. »Nicht, seit ich ein junges Mädchen war.«
Sie kamen oben bei der Eremitage an und gingen von dort aus über die Ebene wieder in den Wald hinein, bis sie an ein kleines Waldwärterhäuschen kamen, wo sie Kaffee tranken und von den mitgebrachten Butterbroten aßen. Dann trabten sie weiter. Madam Johnsen kam nur dies eine Mal in den Wald und wollte darum alles sehen; die Jungen erhoben Einwände, aber sie war gar nicht totzukriegen. Ihre Mädchenzeit hatte Erinnerungen hier draußen, und nach denen sah sie sich um; dann mochten die beiden sagen, was sie wollten. Waren sie es müde, ihr nachzurennen, so fanden sie wohl ihre eigenen Wege. Aber sie folgten ihr getreulich, ermüdet sahen sie aus und gingen ein wenig stumpfsinnig einher, mehr als im Grunde erlaubt war.
Auf dem Steige nach Raavad waren nicht so viele Menschen.
»Hier ist doch noch Waldeinsamkeit, ganz wie in meiner Jugend!« sagte die Alte. »Und schön ist es hier. So wie sich das Laub schließt, so recht ein Ort für Liebespaare. Nun setze ich mich hin und ziehe die Stiefel ein wenig aus, die Ballen fangen an, mir weh zu tun. Seht ihr euch man so lange ein bißchen um.«
Aber die Jungen sahen sich fremd an und ließen sich zu ihren Füßen nieder. Sie hatte die Gamaschenstiefel ausgezogen und kühlte die Ballen in dem frischen Gras, während sie dasaß und plauderte. »Warm ist es heute, die Steine fühlen sich ganz glühend an, aber ihr beide könnt wohl gar kein Feuer fangen. Warum glotzt ihr eigentlich so? So küßt euch doch mal im Grünen! Das schadet nichts! Und es ist so schön anzusehen!«
Pelle rührte sich nicht. Aber Hanne rutschte auf ihren Knien zu ihm hin, faßte ihn langsam um den Kopf und küßte ihn. Als sie das getan hatte, sah sie ihm in die Augen, rührend zärtlich, wie ein Kind ihre Puppe ansieht. Der Hut war ihr in den Nacken geglitten. Auf ihrer weißen Stirn und der Oberlippe saßen klare Schweißtropfen; dann gab sie ihn plötzlich mit einem munteren Lachen frei. Pelle und die Alte hatten Blumen und Buchenzweige gepflückt, jetzt nahmen sie die und ordneten sie. Hanne lag auf dem Rücken und blinzelte zum Himmel empor. »Laß doch das alte Gegucke nach!« sagte die Mutter, »das ist dir gar nicht gut!«
»Ich spiele bloß, Schönheit; es ist schon lange her«, sagte Hanne. »Aber zu Hause in der ›Arche‹ sieht man doch mehr. Hier ist es zu hell!«
»Ja, weiß Gott, da sieht man mehr – eine Kloake und drei Aborte. Ein Glück, daß es da so dunkel ist. Nein, man sollte so viel haben, daß man jeden Sonntag im Sommer in den Wald gehen könnte. Wenn man in der freien Luft aufgewachsen ist, dann ist es hart, sein ganzes Leben lang zwischen schmutzigen Mauern eingesperrt zu sein. Aber jetzt glaube ich, müssen wir weiter! Wir verschwenden so viel Zeit.«
»Ach Gott, ich liege so gut hier!« sagte Hanne träge. »Pelle, schiebe mir doch den Schal mal unter den Kopf!«
Aus den Baumwipfeln hoch oben hinter ihnen brach ein großer Vogel hervor. »Na, na – was für ein Kerl!« rief Pelle und zeigte hinauf. Er segelte langsam abwärts auf seinen mächtigen ausgebreiteten Schwingen, fegte hin und wieder die Luft unter sich mit ein paar derben Schlägen zusammen und flog dann weiter, niedrig dahin über den Baumwipfeln mit forschendem Blicke. »Herrjemine! Das war, glaub' ich, der Storch!« sagte Madam Johnsen. Sie griff erschreckt nach den Gamaschenstiefeln. »Nu will ich aber nicht länger hierbleiben. Man weiß ja nie, was einem passieren kann!« Sie schnürte eifrig und mit einem köstlichen Ausdruck die Stiefel zu. Pelle lachte, so daß ihm die Augen voller Tränen standen.
Hanne hatte den Kopf erhoben. »Das ist gewiß ein Kranich, meinst du nicht auch? Dumm, daß er immer so dahinfliegt und alles so anstarrt, als wenn er kurzsichtig wäre. Wenn ich es wäre, ich stiege geradeaus in die Luft, schlösse die Augen und ließe mich von dannen treiben. Da, wo man dann hinkommt, müßte ja irgend etwas geschehen.«
»Ja, dann würde wohl das geschehen, daß du ins Meer fielest und ertränkst, wenn nicht noch Schlimmeres. Hanne hat immer das Gefühl gehabt, daß irgend etwas geschehen muß; und dabei kann sie nicht einmal das festhalten, was sie zwischen den Händen hat.«
»Nein, denn ich habe ja nichts!« rief Hanne aus und zeigte lächelnd ihre Hände. »Kannst du etwas halten, was du nicht hast, Pelle?« Gegen vier Uhr begaben sie sich nach dem Schleswigschen Stein hinab, wo die Sozialdemokraten eine Versammlung abhielten. Pelle hatte noch keiner großen Versammlung mit agitatorischen Reden beigewohnt, sondern seine Vorstellungen von dem Neuen, was vor sich ging, aus zweiter Hand erhalten. Das stimmte mit dem blinden Trieb in ihm selbst überein. Aber etwas Zündendes hatte er noch nie erlebt; nur dieses wirre, einförmige Kochen, wie damals in seiner Kindheit, wenn er in seinen Holzschuh hineinlauschte.
»Na, hier scheint ja die ganze Gemeinde zu sein«, sagte Madam Johnsen halb spottend. »Da kannst du alle Kopenhagener Sozialdemokraten sehen. Mehr sind es immer noch nicht geworden, obwohl sie behaupten, daß die ganze Gesellschaft zu ihnen gehört. Es geht wohl nicht immer so glatt, wie geschrieben wird.« Pelle runzelte die Stirn, schwieg aber. Er hatte selbst zu wenig Begriff davon, um andere überzeugen zu können.
Die Volksmenge wirkte überwältigend auf ihn; hier waren mehrere Tausend Menschen zu etwas Gemeinsamem versammelt, und es ward ihm handgreiflich klar, daß er selber zu dieser Schar gehörte. »Ich gehöre auch mit dazu!« jubelte es wieder und wieder in ihm. Er hatte das Bedürfnis, es sich selbst zu bestätigen und sich dankbar für den gestrigen Tag zu erweisen. Wenn nun der Hofschuhmacher nicht die Worte gesagt hätte, die ihn dazu getrieben hatten, in den Verein einzutreten, dann hätte er doch außerhalb des Ganzen stehen müssen, so wie die Heiden. Die Handlung von gestern war gleichsam ein Taufbund. Er fühlte sich ganz anders in Gemeinschaft mit diesen Menschen als mit anderen. Und als sie in einen tausendstimmigen Gesang ausbrachen, einen Jubel über das Neue, das kommen würde, durchschauerte es ihn kalt. Er hatte das Gefühl, als würde das Tor aufgetan und etwas, das eng und gedrückt in ihm gelegen hatte, ans Licht gehoben.
Oben auf der Rednertribüne stand ein brünetter Mann und redete heftig, mit mächtiger Stimme. Kopf an Kopf standen sie und lauschten atemlos, mit offenem Munde. Mit offenem Munde, das Gesicht starr auf ihn gerichtet; einige waren so in seinem Bann, daß sie sein Mienenspiel nachahmten. Sie riefen nicht, aber wenn er einen besonderen Ausfall aus seiner Festung machte, ging ein Murmeln der Bewunderung durch die Menge. Er sprach von der Not und dem Elend, von der mühseligen, endlosen Wanderung, ohne vorwärtszugelangen. Wie die Israeliten getreulich ihre Bundeslade durch die Wüste trugen, so hatten die Kleinen ihre Hoffnung mit sich durch unfruchtbare Zeiten getragen. Wenn eine Abteilung stürzte, war gleich eine andere mit den Tragstangen bereit, und jetzt endlich tagte es. Jetzt stand man am Eingang zu dem Lande, mit dem Beweis in der Hand, daß sie seine rechten Einwohner seien.
Das alles war ja ganz selbstverständlich; wenn es etwas gab, was Pelle mit durchgemacht hatte, so war es die mühselige Wanderung des Volkes Gottes durch die Wüste. Das war ja das große Symbol des Elendes. Die Worte vernahm er wie etwas Altbekanntes. Aber die Größe der Stimme ergriff ihn; es war etwas an der Rede des Mannes, das nicht den Weg des Verstandes ging, sondern das gleichsam durch die Haut hineinbrannte und dort dem begegnete, was schwellend in ihm selber lag. Schon allein der Zornesklang traf ihn und schlug auf alte Schäden, daß sie aufgingen wie schlimme Geschwüre und man befreit aufatmete. So eine Stimme, die über alles dahinschallte, hatte Pelle auch damals gehabt, als er auf dem Felde war und die Kühe hütete. Er empfand das Bedürfnis, sich in einem Ruf Luft zu machen und das Ganze seiner Stimme untertan zu machen – er auch. – Ach, wer so reden könnte, donnernd und wieder milde wie die alten Propheten.
Es gingen eigentümliche Kräfte aus von der dichtgedrängten Volksmenge, die dasselbe fühlte und dachte; es wirkte mit einem eigenen Gefühl von Kraft. Pelle war nicht mehr der arme elende Schustergesell, dem es schwer genug wurde, sich durchzuschlagen. Er stand hier und ward eins mit diesem großen Wesen, fühlte seine Kräfte in sich schwellen, wie der kleine Finger mit beiträgt zu der Kraft des ganzen Körpers. Eine blinde Gewißheit der Unüberwindlichkeit ging aus von diesem mächtigen Haufen, ein Ansporn, Sturm zu laufen. Seine Glieder schwollen, er ward zu einem ungeheuren gewichtigen Wesen, das nur vorwärtszutrampeln brauchte, um das Ganze niederzutreten. Es wimmelte in seinem Gehirn von Kräften, von unermeßlichen, unüberwindlichen Kräften!
Nun, Pelle war schon früher aufgestiegen und glücklich wieder heruntergekommen. Auch diesmal kam er wieder auf dem Erdboden an, in einem langen, befreienden Aufatmen, als habe auch er eine große Last von sich abgewälzt. Hannes Arm lag in dem seinen; er versetzte ihm einen leichten Druck.
Aber sie merkte es nicht, auch sie war ganz weg. Er sah es ihrem schönen Nacken an und beugte sich vor, um das Gesicht zu sehen. Der große, gelbe Hut warf einen goldigen Schimmer darüber. Ihr ganzer beweglicher Sinn stand da und spielte unruhig hinter den gespannten, versteinerten Zügen, die Augen sahen starr vor sich hin. Es hat auch dich gefaßt, dachte er voll Glücks, sie ist ganz weg. Es war etwas Wunderbares, sich zu zweien in demselben Interesse zu wissen – Mann und Weib!
Im selben Augenblick fing er zufällig die Richtung ihres festgenagelten Blickes auf, und es ging ihm ein Stich durch das Herz. Draußen auf der Ebene, ganz von der übrigen Versammlung abgetrennt, stand ein großer, schöner Mann, der auffallend an den Besitzer von Steinhof in seinen guten Tagen erinnerte; die Sonne kam und ging dahin über seine braune Haut und seinen weichen Bart. Jetzt wandte er ihm das Gesicht zu, die großen, offenen Züge darin erinnerten an das Meer.
Hanne zuckte zusammen, als erwache sie aus einem Schlummer und gewahrte Pelle.
»Er ist Seemann!« sagte sie wunderlich fern, ohne daß Pelle sie gefragt hatte. Gott weiß, woher sie ihn kennen mag, dachte er ärgerlich und zog seinen Arm aus dem ihren; sie aber nahm ihn sogleich wieder und preßte ihn fest gegen ihren weichen Busen. Es war wie eine plötzliche Kraftversicherung, die sie ihm geben wollte.
Sie hing jetzt schwer an seinem Arm und stand da, den Blick unverwandt auf die Rednertribüne gerichtet. Die Hände griffen nervös in ihren Haaren herum! »Du bist so unruhig, Kind«, sagte die Mutter, die sich zu ihren Füßen niedergesetzt hatte. »Du kannst mich doch meinen Rücken an deine Knie legen lassen, vorhin saß ich so gut.«
»Ja«, sagte Hanne und stellte sich zurecht. Ihre Stimme klang ganz erregt.
»Pelle,« flüsterte sie plötzlich, »wenn er zu uns hinkommt, so antworte ich ihm nicht, ich tue es nicht.«
»Kennst du ihn denn?«
»Nein, aber es kommt ja vor, daß Männer kommen und einen anreden. Aber dann sagst du, daß ich dir gehöre, nicht wahr?«
Pelle wollte abweisend antworten, aber es ging ein Schauer durch sie. Sie hat Fieber, dachte er mitleidig; das bekam man so leicht in der »Arche«. Es stieg mit den Dünsten aus den Kloaken auf. Sie kann dir ja auch sehr gut was vorgelogen haben, dachte er nach einer Weile. Weiber sind hinterlistig; er war zu stolz, um sie auszufragen. Aber dann rief die Menge Hurra, daß es schallte. Pelle rief mit, und als sie aufhörten, war der Mann verschwunden.
Sie gingen hinüber nach dem »Hügel«; die Alte stapfte ihre zwei Schritte voraus. Hanne ging summend dahin; von Zeit zu Zeit sah sie Pelle fragend an – dann summte sie weiter.
»Es geht mich ja nichts an«, sagte Pelle finster. »Aber es ist doch nicht richtig von dir, daß du mich belügst.«
»Ich dich belügen? Aber Pelle!« Sie sah ihm verwundert in die Augen.
»Ja, das tust du! Da ist was zwischen dir und ihm.«
Hanne lachte klar und rein, hielt aber plötzlich inne. »Nein, Pelle, nein, was mache ich mir wohl aus ihm. Ich habe ihn ja noch nie gesehen. – Ich habe ja noch niemals einen Mann geküßt – ja dich, aber du bist ja auch mein Bruder.«
»Ich mache mir gar nichts daraus, dein Bruder zu sein – nicht die Bohne, daß du das man weißt!«
»Habe ich dir was getan? – Denn dann tut es mir leid.« Sie faßte ihn bei der Hand.
»Ich will dich zur Frau haben!« rief Pelle heftig.
Hanne lachte. »Hast du es gehört, Mutter? Pelle will mich zur Frau haben«, rief sie sprudelnd.
»Ja ich höre und sehe mehr, als du glaubst«, erwiderte Madam Johnsen kurz.
Hanne sah von der Mutter zu Pelle hinüber und ward ernsthaft. »Du bist so gut, Pelle«, sagte sie leise. »Aber du kannst nicht mit etwas aus der Fremde zu mir kommen. Ich kenne ja alles an dir, und ich habe noch nie des Nachts von dir geträumt. Hast du denn das Glück?«
»Daß ich das habe, will ich dir schon zeigen«, erwiderte Pelle und erhob den Kopf. »Wenn du mir nur ein wenig Zeit lassen wolltest.«
»Herr Gott, nu drischt sie wieder auf das Glück los«, rief die Mutter und wandte sich jäh um. »Du hast doch auch wirklich nicht nötig, uns diesen schönen Tag mit deinem Unsinn zu verderben. Ich war so glücklich über alles.«
Hanne lächelte hilflos. »Mutter behauptet, daß ich nicht ganz bei Verstand bin, weil Vater mich einmal an den Kopf geschlagen hat, als ich noch ein Kind war«, sagte sie zu Pelle.
»Ja, seitdem hat sie es mit diesen Anfällen gehabt. Dann will sie nichts anderes, als mit Sinnen und Gedanken in das Ungewisse hinausschweifen. Ganze Tage konnte sie am Fenster sitzen und glotzen, und die Kinder unten in dem Hofe machte sie noch verrückter mit ihrem Blödsinn, wenn das über sie kam. Und mich kriegte sie immer herum, daß ich alles stehen und liegen ließ – so arm wie wir nach meines Mannes Tode waren –, um nur mit der Puppe und ihr im Zimmer herumzugehen und das Grafenlied zu singen. Ja, du kannst es glauben, Pelle, ich hab meine blutigen Tränen über sie geweint.«
Hanne ging einher und summte lächelnd zu dem Schelten der Mutter – es waren die Töne des Grafenliedes.
»Da hörst du es selbst«, sagte die Alte und stieß Pelle an – »sie schämt sich nicht einmal, es ist gar nicht mit ihr auszukommen.«
Oben auf dem »Hügel« war ein ohrenbetäubender Spektakel von ausgelassenen Menschen, die in Gruppen hin und her wanderten, auf Kindertrompeten und Schreiballons bliesen und sich wie fröhliche Wilde gebärdeten. Jeden Augenblick bekam man ein Getute ins Ohr, daß man zusammenzuckte, oder man entdeckte plötzlich, daß irgendein Schelm damit beschäftigt war, einem von hinten etwas an die Kleider zu heften. Hanne war nervös, sie hielt sich zwischen der Mutter und Pelle und konnte nicht stillstehen. »Ach nein, wir wollen machen, daß wir wegkommen – irgendwohin«, sagte sie und lachte verzweifelt.
Pelle wollte Kaffee spendieren, und da gingen sie hin und suchten nach einem Zelt, wo Platz war. Hallo! Da stand der Leierkastenmann von daheim in einem Karussel und nickte ihnen zu, während er darauf losdrehte. Er hielt die Hand wie ein Schallrohr vor den Mund, um den Lärm zu übertäuben: »Mutter trefft Ihr dahinten zusammen mit Olsens«, brüllte er.
»Ich kann gar nicht hören, was er sagt«, sagte Madam Johnsen, heute machte sie sich nichts daraus, Leute aus der »Arche« zu treffen.
Als der Kaffee getrunken war, wanderten sie weiter zwischen den Buden auf und ab und amüsierten sich über das Gewimmel. Hanne ließ sich weissagen; es kostete fünfundzwanzig Öre; aber es ward dann auch ein unerwarteter Freier daraus, der mit viel Geld über das Meer kam. Ihre Augen strahlten.
»Das hätte ich viel besser machen können!« sagte Madam Johnsen.
»Nein, Mutter – denn du weissagst mir ja nie was anderes als Unglück«, erwiderte Hanne lachend.
Madam Johnsen traf eine Bekannte, die Schreiballons verkaufte, und ließ sich bei ihr nieder. »Geht ihr nun hinüber und macht ein Tänzchen, während ich meine müden Beine ausruhe«, sagte sie.
Die Jungen gingen in das Tanzzelt hinüber und stellten sich zwischen den Zuschauern auf. Von Zeit zu Zeit machten sie einen Tanz zu fünf Öre. Wenn andere kamen und Hanne aufforderten, schüttelte sie den Kopf; sie machte sich nichts daraus, mit anderen als mit Pelle zu tanzen. In einiger Entfernung stellten sich die Verschmähten auf und standen da, den Hut im Nacken und schimpften. Pelle mußte sie schelten: »Du beleidigst sie ja,« sagte er, »und vielleicht haben sie was im Kopf und fangen Zänkereien an!«
»Wozu soll ich mich zwingen lassen, mit jemand zu tanzen, den ich gar nicht kenne?« erwiderte Hanne. »Ich will nur mit dir tanzen!« Sie machte zornige Augen und sah entzückend aus in ihrer Unerschütterlichkeit; Pelle hatte nichts dagegen, der einzige zu sein. Er hätte sich gern für sie geprügelt, wenn es nötig gewesen wäre.
Als sie gehen wollten, entdeckte er den Fremden drüben im Hintergrund des Tanzzeltes. Er trieb Hanne zur Eile an, sie aber stand da und starrte geistesabwesend in den Kreis der Tanzenden hinein, als wisse sie nicht, was um sie her vorging. Der Fremde kam zu ihnen hinüber; Pelle war sicher, daß sie ihn nicht gesehen hatte.
Plötzlich erwachte sie und ergriff Pelles Arm. »Wollen wir denn nicht gehen?« sagte sie ungeduldig und zog ihn mit sich fort.
An der Tür holte der Fremde sie ein und verneigte sich vor Hanne. Sie sah nicht auf, aber es zuckte in ihrem linken Arm, als wolle sie ihn auf seine Schultern legen.
»Meine Braut tanzt nicht mehr, sie ist müde«, erwiderte Pelle kurz und führte sie fort.
»Gut, daß wir da heraus sind«, rief sie in einem Gefühl von Befreiung, als sie zur Mutter zurückkehrten. »Es waren keine amüsanten Tänzer.«
Pelle stutzte; sie hatte den Fremden also nicht gesehen, sondern nur geglaubt, daß es einer von den anderen gewesen sei, der sie aufforderte! Es war auch nicht zu verstehen, wann sie ihn erblickt haben sollte; und doch hatte ein besonderes Wissen über ihr gelegen, als sähe sie quer durch die gesenkten Augenlider hindurch, und Weiber konnten ja bekanntlich um die Ecken sehen! – Und dann das Zucken des Armes! – Er wußte weder aus noch ein. »Na, mir ist es einerlei,« – dachte er – »denn ich lasse mir nicht auf der Nase herumspielen!«
Er hatte sie beide unterm Arm, als sie unter den Bäumen nach dem Halteplatz zugingen. Die Alte war lebhaft; Hanne ging schweigend einher und ließ die beiden reden. Aber plötzlich bat sie Pelle, einen Augenblick zu schweigen – er sah sie verwundert an.
»Es saust mir so herrlich in den Ohren; aber wenn du redest, dann hört es auf!«
»Unsinn! Dein Blut ist so unregierlich,« sagte die Mutter, »und der Mond ist im Zunehmen begriffen.«
Während der Fahrt war Pelle schweigsam. Hin und wieder drückte er Hannes Hand, die warm und ein wenig schweißig in der seinen auf dem Sitz ruhte.
Aber die Freude der Alten wollte nicht ausbrennen. Die Lichter drinnen von der Stadt und der dunkel ruhende Sund brachten ihrem verschlissenen Dasein Botschaft, und mit einer dünnen, zitternden Fistelstimme begann sie zu singen:
»Leise naht die Nacht auf weichen Schwingen,
Hell am Himmel blitzt der Sternenschein,
Und die Abendglocken klingen,
Menschen ziehen heimwärts und die Vögel schlummern ein.«
Aber vom Triangel an wurde es ihr schwer, Schritt zu halten; sie hatte sich doch müde gelaufen.
»Vielen Dank für heute«, sagte sie zu Pelle unten im Hofe. »Morgen muß man dann wieder an die Arbeit gehen und alte Soldatenhosen kehren. Aber ein schöner Ausflug ist es doch gewesen.« Sie latschte voraus, die Treppe hinauf – stöhnte ein klein wenig über die vielen Treppen und sprach vor sich hin.
Hanne stand da und zögerte. »Warum sagtest du meine Braut?« fragte sie plötzlich, »das bin ich ja doch gar nicht.«
»Du hast mich ja darum gebeten«, erwiderte Pelle – er hätte gern noch mehr gesagt.
»Na ja«, sagte Hanne und lief die Treppe hinauf. »Gute Nacht, Pelle!« rief sie ihm von oben zu.