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Eigenartige Bande verknüpften Pelle mit der »Familie«. Die drei verwaisten Kinder waren die ersten, die ihm eine freundliche, hilfereichende Hand geleistet hatten, als er drei Tage nach seiner Landung auf offener Straße stand, aller seiner Zehrpfennige beraubt.
Er war ja groß genug dahergekommen, hatte die Nacht nicht auf seiner Bank im Zwischendeck zwischen dem Vieh verschlafen. Die Spannung hielt ihn wach, und er lag da und machte weitgehende Pläne für sich selbst und seine fünfundzwanzig Kronen. Beim ersten Dämmern des Morgens war er auf Deck und spähte nach dem Ufer hinüber, wo die große Stadt mit ihren Türmen und Fabrikschornsteinen aus dem Nebel auftauchte. Oben über der Stadt schwebte ihr dunstiges Licht errötend der Morgensonne entgegen – und machte den Anblick stattlich; und die Einfahrt zwischen den Forts und dem Kriegshafen war großartig genug, um zu imponieren. Das Gewimmel auf der Brücke, ehe der Dampfer anlegte und Kutscher und Lastträger schrien und riefen, schlug ihm fast über dem Kopf zusammen; aber er hatte sich vorgenommen, sich durch nichts verblüffen zu lassen. Es konnte ohnehin schon schwer genug sein, das richtige Ende aus all diesem zu entwirren.
Und dann hatte der Zufall selber für ihn gesorgt. Unten am Kai stand ein dicker, jovialer Mann und sah Pelle so bekannt an: er schrie und rief nicht, sondern sagte nur ganz ruhig: »Guten Tag, Landsmann«, und bot Pelle Kost und Logis für zwei Kronen den Tag an. Es war gut, einen Landsmann in all diesem Wirrwarr zu haben, und Pelle gab sich ihm vertrauensvoll in die Hände. Es war ein selten hilfsbereiter Mann, nicht einmal die grüne Kiste durfte Pelle tragen. »Die werde ich schon holen lassen!« sagte der Mann, und zu allem sagte er flott: »Das werde ich schon in Ordnung bringen, laß mich das nur –!«
Als drei Tage vergangen waren, präsentierte er Pelle eine umständliche Rechnung, die auf genau fünfundzwanzig Kronen lautete. Das war ein sonderbarer Zufall, gerade so viel Geld hatte Pelle ja. Er wollte es ja nicht gern 'rausrücken, aber Gasthofbesitzer Elleby rief den Schutzmann von der Straße herein; Pelle mußte bezahlen.
Da stand er nun mit seiner grünen Kiste auf der Straße und wußte weder aus noch ein, hilflos und verzweifelt, als ein kleiner Knabe pfeifend vorüberkam und fragte, ob er ihm nicht helfen könne. »Ich kann die Kiste gern allein dahin bringen, wohin du sie haben willst, aber dann kostet es fünfundzwanzig Öre und zehn Öre für den Ziehwagen. Wenn ich aber nur den einen Henkel anfassen soll, so kostet das nur zehn Öre«, sagte er und sah Pelle ganz geschäftsmäßig an. Er schien nicht mehr als neun, zehn Jahre alt zu sein.
»Ich weiß ja nur nicht, wo ich hin soll«, sagte Pelle, dem Weinen nahe. »Ich bin auf die Straße gesetzt und habe keinen Ort, wohin ich mich wenden könnte. Ich bin wildfremd hier in der Stadt, alles Geld haben sie mir weggenommen.«
Der kleine Junge machte eine Bewegung in die Luft, als schlage er mit der Stirn gegen etwas: »Ja, das ist eine verdammte Geschichte. – Du bist den Bauernfängern in die Hände geraten, mein Junge. Denn mußt du mit zu uns nach Hause kommen – du kannst gut bei uns wohnen, wenn du an der Erde liegen willst.«
»Was werden deine Eltern aber dazu sagen, wenn du mit mir angeschleppt kommst?«
»Ich hab gar keine Eltern, und Marie und Peter, die sagen nichts. Komm nur mit, und am Ende kannst du Arbeit bei Pichelmeier bekommen. Woher kommst du denn?«
»Von Bornholm!«
»Daher sind wir auch! Das heißt, es ist ja schon lange her – damals, als wir noch Kinder waren. Komm du man mit, Landsmann!« Der Junge lachte ganz vergnügt und faßte an einem Henkel an.
Es war ja freilich auch ein Landsmann gewesen, der Pelle ausgeplündert hatte. Aber er ging trotzdem mit; es war nicht seine Natur, mißtrauisch zu sein.
So hielt er seinen Einzug in der »Arche«, unter dem Schutze eines Kindes. Die beiden ein wenig älteren Geschwister fanden die Handlungsweise des kleinen Karl sehr vernünftig, und die drei Verwaisten, die sonst scheu und zurückhaltend waren, schlossen sich gleich an Pelle an. Sie hatten ihn auf der Straße gefunden und betrachteten ihn wie einen Altersgenossen, der unbekannt war und des Schutzes bedurfte. Sie verschafften ihm den ersten Überblick über die große Stadt und verhalfen ihm zu Arbeit bei Pichelmeier.
Am Tage nach dem Ausflug in den Wald zog Pelle auf den Boden des Vordergebäudes hinüber in eine Stube neben der »Familie«, die gerade leer stand. Marie half sie in Ordnung bringen und die Sachen hinüberschaffen, und erleichterten Sinnes schüttelte er das lästige Verhältnis zu Pichelmeier ab. Jetzt hatte es ein Ende mit der Ausbeuterei und allen Sticheleien, die damit in Zusammenhang standen. Jetzt trat er selbst in ein Verhältnis zu dem Arbeitgeber und konnte seinen Kameraden offen in die Augen sehen. Es war nach verschiedenen Richtungen hin eine beschämende Zeit gewesen, aber er trennte sich ohne Groll von Pichelmeier: er hatte in den wenigen Monaten bei ihm mehr gelernt, als während der ganzen Lehrzeit daheim.
Ein wenig gebrauchtes Werkzeug erstand er bei einem Eisenhändler und kaufte Tisch und Bett auf Abzahlung. Vom Hofschuhmacher bekam er als Anfang etwas Kinderschuhzeug, das schob er dazwischen. Seinen Hauptverdienst fand er bei Meister Beck in der Marktstraße.
Beck war ein Mann von der alten Schule; sein Kundenkreis bestand hauptsächlich aus Nachtwächtern, Bootsführern und alten Seebären, die draußen in Christianshafen hausten. Obwohl er in Kopenhagen geboren und herangewachsen war, glich er einem Provinzialhandwerker, ging in Morgenschuhen, die seine Tochter ihm gestickt hatte, und rauchte des Morgens seine lange Pfeife in der Haustür. Er hatte eine altmodische Anschauung von dem Handwerk und freute sich über Pelle, der jedes Fettleder spannen konnte und nicht bange davor war, mit ein Paar alten Schmierstiefeln anzubinden. Becks Arbeit konnte nicht gut aus dem Hause gegeben werden, und Pelle stellte sich willig in der Werkstatt ein und scheute sich vor keiner Arbeit, die vorkam. Nur wollte er nicht auf altmodische Weise Kost und Logis beim Meister haben.
Vom ersten Tag an war diese Veränderung eine Verbesserung, er arbeitete mit Lust und Liebe und fing an, etwas zurückzulegen, um seine Schulden an Sort abzahlen zu können. Jetzt sah er in der Ferne auch den Tag, an dem er Vater Lasse herüberkommen lassen konnte.
Am Morgen, wenn die Bewohner des Bodens schlaftrunken in dem langen Gang herumtaumelten, um auf Arbeit zu gehen, ehe es ein Viertel vor sechs pfiff, saß Pelle schon da drinnen und hämmerte seine Schusterschläge. Gegen sieben Uhr ging er dann nach Becks Werkstatt, wenn dort etwas für ihn zu tun war. Auch von den Bewohnern der »Arche« bekam er Arbeit.
Über die Arbeit hatte er eine Erfahrung gemacht, und diese Erfahrung war ein fruchtbarer Kern, der da lag und keimte, wohin er geworfen war, und beständig mehr Frucht tragen würde. Es war gleich als eine Verbesserung seiner Verhältnisse zu spüren, daß er den einen Aussauger abgeschüttelt hatte, wenn – man nun doch auch den anderen denselben Weg expedieren und selbst die ganze Ausbeute seiner Arbeit haben konnte!
Das klang ganz phantastisch, aber Pelle hatte keine Lust, hier in die Höhe zu steigen und platt wieder auf der Erde anzulangen. Er hatte eine handgreifliche Erfahrung gemacht und wollte nun auch wissen, wie weit sie wohl reichen würde. Während er dasaß und arbeitete, zwang er die Frage, besonnen zwischen den Gedanken hin und her zu gehen, so daß er sie ordentlich untersuchen konnte.
Pichelmeier war also als Mittelsmann überflüssig; man konnte ein Stück Arbeit schaffen, ohne daß es nötig war, ihn zu passieren und eine Flasche Branntwein für seinen durstigen Hals abzuwerfen. War nun aber mehr Sinn darin, daß das Schuhzeug auf seinem Wege zu den Kunden den Weg über den Hofschuhmacher nahm und Equipagen und Herrenleben abwarf? Konnte Pelle nicht selbst in ein Verhältnis zu der Kundschaft treten? Und Meyer ebenso ausschalten, wie er Pichelmeier ausgeschaltet hatte? – Ja, natürlich! Für 30 000 Kronen Einnahmen im Jahr bezahlte der Hofschuhmacher Steuern, hieß es. »Das sollte gleichmäßig zwischen uns verteilt werden, die wir für ihn arbeiten!« dachte Pelle, während er die Pflöcke einschlug. »Dann brauchte Vater Lasse daheim auch nicht einen Tag länger herumzugehen und sich so jammervoll durchs Leben zu schlagen.«
Dies war etwas, was man in die Hand nehmen und befühlen konnte, ein praktisches Rechenexempel, das er ausgestellt hatte – das scheinbar nichts mit seinem lichten Glauben an das Glück zu schaffen hatte. Der saß noch immer irgendwo im Verborgenen und hielt ihn durch alles hindurch aufrecht – hütete sich aber wohl, bestimmte Forderungen zu stellen; ein schwer erworbener Instinkt sagte ihm, daß es bei armen Leuten darauf ankomme, daß er dehnbar war. Dieser Glaube war sein Familienerbe, und er konnte ihn getreulich durch alle Schickungen hindurchtragen; wie es Millionen vor ihm getan hatten – immer bereit, den Unbekannten aufzunehmen – bis sie das Grab erreichten und resigniert den Traum weitergaben. Es lag eine Hoffnung für ihn selber darin, wenn es aber fehlschlug, so blieb die Hoffnung selber trotzdem bestehen. Das mit dem Glück war schließlich kein Versprechen auf handgreiflichen Erfolg für den einzelnen, sondern eine breite Verheißung, die durch Jahrhunderte der Knechtschaft getragen wurde mit etwas von dem langen Atemzug der Ewigkeit.
Pelle trug die ganze, endlose Wanderung in sich; sie lag tief in sein Gemüt eingegraben als unfaßbar große Langmut. In seiner Welt waren die Fähigkeiten oft groß genug, aber die Resignation war immer größer. Er war gründlich darauf eingestellt, alles zugrunde gehen zu sehen und doch die Hoffnung zu bewahren.
Oft genug hatte es während des langen Marsches Töne angenommen, wie »Du Davidstadt mit goldenen Gassen«, von dem »Tausendjährigen Reich« oder der »Wiederkehr der Herrlichkeit des Herrn«. – Er hatte selbst fragend einigen davon gelauscht; nie aber war es bisher in einem Gesang, der von Essen und Kleidern, Haus und Hof handelte, erklungen; wie sollte er sich da hierin zurechtfinden?
Er saß nur hier und stellte ein Rechenexempel auf, das ihm klar und schnell Anteil an den Gütern dieser Welt schaffen konnte – anspruchsvoll und mit einer Ungeduld, für die er sich nicht hätte Rechenschaft geben können.
Und rings um ihn her wühlte es auf dieselbe Weise. Es war ein erwachendes Zucken durch die Massen gegangen. Sie wanderten nicht mehr geduldig dahin unter dem blinden Bewußtsein, sondern schwankten hin und her in verwirrten Ratschlägen. Das Wunderbare sollte sich nicht mehr selbst vollziehen, wenn die Zeit erfüllet war. Da saß eine böse Macht und drückte ihrer großen Hoffnung die Knie zusammen, so daß sie niemals gebären konnte! Sie mußten selber behilflich sein, das Glück zur Welt zu bringen.
Der unerschütterliche Fatalismus, der bisher das Ganze im schweren Gang erhalten hatte, war in die Brüche gegangen; die Massen ließen sich nicht länger in dumpfer Resignation niederhalten. Menschen, die das ganze Leben hindurch ihren Gewohnheitsgang von und zur Arbeit gewandert waren, blieben plötzlich stehen und begannen unvernünftige Fragen über den Zweck des Ganzen zu stellen. Selbst die Einfältigen wagten es, Zweifel gegen die Ordnung der Dinge aufzuwerfen; es war nicht mehr so, weil es so sein mußte – es gab eine peinliche Ursache zu dem Elend. Damit war die Sache angeschnitten, und nun bekamen sie Lust, das Dasein selbst zu meistern; die Finger juckten ihnen danach, irgend etwas Hemmendes niederzureißen – sie wußten nur nicht was.
Es lag etwas wie ein Wirbel darin, alle Linien verschwanden. Unbekannte Mächte tauchten auf und ließen sich gerade ahnen oder behexten die Gutmütigsten. Leute, die bisher wie die Hunde gekrochen hatten, um nur ihre Nahrung zu haben, wurden plötzlich von einem Eigensinn ergriffen und ließen sich lieber niederschlagen, als daß sie sich beugten. Besonnene Leute, die ihr ganzes Leben an einer Stelle gearbeitet hatten, konnten sich nicht länger in die Dinge finden und gingen eines Wortes willen davon. Die schwer erworbene Langmut war aus dem Sinn geschlagen, die, die ruhig das Ganze auf ihren Schultern getragen hatten, wurden empfindlich; sie wurden unwillig und unregierlich wie schwangere Frauen. Es war, als ächzten sie unter dem inwendigen Druck einer unsichtbaren Macht und versuchten die harte Kruste, die über etwas Neuem in ihnen lag, zu öffnen. Man erkannte das schmerzliche Bestreben an ihrem verwirrten Starren und an diesen plötzlichen wahnsinnigen Griffen in die leere Luft hinein.
Es lag etwas Drohendes in der Ungewißheit selbst, in der die Massen herumtrabten, als lauschten sie auf neue Worte aus der Dunkelheit heraus. Schnell entschlossen schlugen sie sich Altgewohntes und Hergebrachtes aus dem Sinn, um Platz in sich zu machen; ringsumher sprach man von dem Neuen und dem Neuen und versuchte, sich blindlings dafür einzurichten – als sei es etwas Selbstverständliches, daß die Zeit jetzt erfüllt war und die Verheißung sich gerade an ihnen vollziehen sollte. Sie gingen umher, bereit, irgend etwas auszuführen – sie wußten selbst nicht was – sammelten sich zu kleinen Gruppen an und veranstalteten mißglückte Streiks, ganz ins Blaue hinein. Andere schufen Diskussionsvereine und begannen in heftigen Worten um das Neue zu kämpfen, das niemand von ihnen kannte – das waren namentlich die Jungen. Viele von ihnen waren hierhergekommen, um das Glück zu suchen – ebenso wie Pelle selbst, und sie brannten vor Unruhe. Es lag etwas Heftiges über ihnen – ein fieberhafter Zustand.
So lagen die Verhältnisse, als Pelle in die Hauptstadt kam – chaotisch, ohne irgendeinen sichern Plan, nach dem man zu seinem Ziel hätte wandern können. Die Massen stützten einander nicht mehr, sondern waren in der Auflösung begriffen und flatterten verwirrt umher, auf der Suche nach etwas, um das sie sich scharen konnten. Oben in der Gesellschaftsordnung merkte man nur die Unsicherheit in den Arbeitsverhältnissen; dort klagte man über die Unruhe, diese sinnlose Unruhe, die den Ertrag beeinträchtigte und die Konkurrenz mit dem Ausland erschwerte. Aber einzelne Kluge witterten das Volk als großes lauschendes Ohr; neue Prädikanten erstanden und wollten die Menge auf neuem Wege zu Gott führen. Pelle wurde ein paarmal von dem Strome an solche Orte geführt, ließ sich aber nicht erfassen; das waren nur die alten Töne wieder – dort lag es nicht. Niemand ließ sich mehr durch Anweisungen auf den Himmel zufriedenstellen – die neuen Propheten verschwanden ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht waren.
Aber mitten in der Verwirrung entstand ein fester Kern, eine Gemeinde, die durch eine Reihe von Jahren sicher gewachsen war und fanatisch die Verfolgungen und den Spott von oben und unten ertragen hatte, bis sie jetzt einige tausend Mitglieder betrug. Sie stand fest in dem Wirbel und behauptete ebenso hartnäckig, daß ihrer Lehre die Zukunft gehöre. Und nun schien sie Wind in die Segel zu bekommen; sie entsprach auf eine eigene Weise den ungeduldigen Forderungen, den Himmel schon hier auf Erden zu haben und das Glück erreichbar zu machen.
Pelle hatte sich draußen auf dem Schleswigschen Stein von der neuen Lehre erfassen lassen und sich ihr warm und stark in die Arme geworfen. Er besuchte Versammlungen und Diskussionen und brauchte seine Ohren, um etwas Sachliches aufzufassen; seine praktische Natur verlangte etwas Handgreifliches, womit der Gedanke arbeiten konnte. Unten in seinem Wesen rang es tief und stark, wie Ströme unter dem Eis; zuweilen war es an der Oberfläche zu spüren und machte ihn bange. Noch hatte er nicht vermocht, es zu etwas Ganzem zu sammeln; wenn er die Klagen über die verheerende Unruhe hörte, die den Wohlstand des Landes aufs Spiel setzte, konnte er den Zusammenhang darin nicht begreifen.
»Es ist doch verkehrt, daß sie die Arbeit ohne irgendeinen Grund einstellen«, sagte er zu Morten einmal, als der Kutscher des Bäckers seinen Platz verlassen hatte. »So, wie zum Beispiel euer Kutscher – er hatte doch gar keinen Grund sich zu beklagen.«
»Er hat vielleicht plötzlich Schmerzen zwischen den Beinen bekommen, weil sein Urgroßvater einmal auf dem hölzernen Pferd hat reiten müssen. Wer weiß – er war ja vom Lande«, meinte Morten ernsthaft.
Pelle sah ihn schnell an. Er konnte Mortens doppelsinnige Art und Weise zu reden nicht leiden. Sie machte ihn unsicher.
»Kannst du nicht ebensogut vernünftig sprechen?« sagte er, »Ich kann dich nicht verstehen.«
»Nicht? – Aber es ist wohl Grund genug dazu da, Unmengen von Grund aus alten Zeiten her. Zum Teufel auch! Wozu sollen sie gerade einen Grund von gestern haben! Könntest du dir nicht denken, daß der Arbeiter – der so lange die Tretmühle in dem Glauben getreten hat, daß die Bewegung von den anderen ausginge – plötzlich entdeckt, daß er selber das Ganze im Gange hält? Denn das ist es, was vor sich geht! Der arme Mann ist nicht nur ein Sklave, der das Rad tritt und dem von Zeit zu Zeit eine Handvoll Mehl in den Hals geworfen wird, damit er nicht tothungert. Er ist im Begriff zu entdecken, daß er in höherem Dienst steht, du! – Und nun wendet sich die Bewegung und geht von ihm selber aus! – Aber das kannst du wahrscheinlich nicht sehen«, fügte er hinzu, als er Pelles ungläubigen Ausdruck bemerkte.
»Nein, denn ich habe keinen Größenwahn,« erwiderte Pelle lachend – »und du bist doch auch kein Prophet, der so große Dinge weissagen kann. Aber ich habe Verstand genug, um auszurechnen, daß, wenn man Lärm machen will, man unbedingt einen bestimmten Grund haben muß, worüber man Lärm macht. Sonst geht die Sache nicht. Das mit dem hölzernen Pferd ist nicht hinreichend!«
»Es kommt wohl darauf an, wie viele Lärm machen«, erwiderte Morten. »Woran sich alle beteiligen, dafür braucht man wohl keine Gründe anzugeben.«
Pelle grübelte während der Arbeit weiter darüber nach; es ging nicht mit diesen Erwägungen so im allgemeinen; was sich von dieser Art in seiner Gedankenwelt regte, war durch Generationen festgenagelt und handelte hauptsächlich von Tod und Leben. Er mußte praktisch zugreifen und ging wieder auf seine eigene große Erfahrung zurück –:
Pichelmeier war überflüssig, dafür hatte Pelle selbst den Beweis geliefert! Und es lag auch nichts im Wege, weshalb man nicht auch den Hofschuhmacher ausschalten sollte; die Gesellen besorgten das Maßnehmen und Zuschneiden – die ganze Arbeit! Er war eigentlich auch ein Aussauger, der sich an die Spitze des Ganzen gestellt hatte und den Profit einsog. Aber dann hatte Morten ja doch recht mit seiner unverschämten Ansicht, daß der Arbeiter das Ganze trage! Pelle stutzte ein wenig über dies Ergebnis; er stellte vorsichtig fest, daß es auf alle Fälle für sein Fach gültig sei. Da war Sinn darin, sein eigenes zurückzuerobern – aber wie?
Sein gesunder Menschenverstand verlangte etwas, was Meyer und die anderen großen Aussauger ersetzen konnte. Es ging nicht, daß jeder Gesell dasaß und auf seine eigene Hand herumpfuschte, wie die kleinen Meister; davon hatte er hinreichend daheim in der kleinen Stadt gesehen – das schuf nur Pfuscherei!
Da setzte er sich hin, um einen Plan für ein Konsumgeschäft auszuarbeiten. Eine Anzahl Arbeiter vom Fach sollten sich zusammenschließen, sollten jeder sein kleines Kapital dazuschießen und Geschäftslokale mieten. Die Arbeit sollte nach den verschiedenen Anlagen eines jeden Mannes unter sie verteilt werden, und aus ihrer Mitte wählten sie dann einen, der dem Ganzen vorstehen konnte. Auf die Weise ließ sich die Frage lösen – jeder Mann erhielt den vollen Ertrag seiner Arbeit.
Als er seinen Plan gründlich durchdacht hatte, ging er damit zu Morten.
»Das haben sie ja schon in der Bewegung vorgebracht!« rief Morten aus und zog ein Buch heraus. »Aber es ging sonderbarerweise nicht. Wo hast du die Idee her?«
»Die habe ich selbst ausfindig gemacht«, erwiderte Pelle mit Selbstgefühl.
Morten sah ein wenig ungläubig aus, er schlug im Buch nach und zeigte Pelle, wie seine Idee skizziert war – fast Wort für Wort – als Glied in dem Vorwärtsrücken. Es war ein Werk über den Sozialismus.
Nein, Pelle verlor deswegen den Mut nicht! Er war stolz darauf, etwas erfunden zu haben, auf das auch andere gekommen waren – gelehrte Leute obendrein! Er fing an, Vertrauen zu seinem eigenen Gedanken zu bekommen, und besuchte eifrig Versammlungen und Vorträge. Kräfte und Mut hatte er, das wußte er. Er wollte versuchen, tüchtig zu werden! – und dann die aufsuchen, die an der Spitze standen und den Weg bahnten, und ihnen seine Dienste anbieten.
Bisher hatte ihm das Glück immer dunkel vorgeschwebt, wie ein Märchen, das plötzlich auf seinen Mann herniederfiel und ihn in höhere Gefilde emporhob, während alle die anderen zurückblieben und diesem sehnsuchtsvoll nachstarrten – das war ja das Peinliche. Aber hier gewahrte er neue Wege, die für alle, die etwas vor sich brachten, zum Glück führten – so wie es die »Kraft« in seiner Todesstunde phantasiert hatte. Er begriff nicht gleich, woher das alles kommen sollte, aber das war ja die Sache derer, die es entwirren mußten!
Dies alles hielt seine Gedanken in neuer ungewohnter Beschäftigung. Er war nicht daran gewöhnt, auf eigene Faust zu grübeln, sondern hatte sich bisher immer an das gehalten, was ihm von Generation zu Generation als anerkannt überliefert war – und oft war das eine schwere Last gewesen. Dann versuchte er das Ganze zu verscheuchen, um es loszuwerden. Aber es kam immer wieder!
Wenn er müde war, gewann Hanne wieder Macht über ihn, und dann ging er des Abends zu ihnen hinüber. Er wußte sehr wohl, daß es nicht zum Guten führte. Sich eine Zukunft an Hannes Seite zu denken, erschien unmöglich, in Verbindung mit ihr existierte nur der Augenblick. Ihr sonderbares Wesen hatte Macht über ihn – das war das Ganze! Oft gelobte er sich selbst, sich nicht foppen zu lassen, ging aber doch wieder zu ihnen hinüber. Er mußte versuchen, sie zu erobern – und dann die Folgen hinnehmen.
Eines Tages nach Feierabend kam er da hinabgeschlendert. Auf der Galerie war niemand, da ging er in die kleine Küche hinein.
»Bist du es, Pelle?« tönte Hannes Stimme aus der Stube heraus – »komm nur herein!«
Sie hatte offenbar ihren Körper gewaschen und saß nun im weißen Unterrock und Leibchen da und kämmte ihr schönes Haar. Es lag etwas von einer Prinzessin über ihr, so wie sie ihren Körper pflegte und wußte, wie das gemacht werden mußte. Der Spiegel stand vor ihr auf dem Fensterbrett, und draußen vor dem kleinen Hinterstübchen zwischen den Dächern und den fleckigen Brandmauern hindurch sah man die Zuchthausbrücke und den Kanal, der hinauslief. Da draußen bei den Handelsplätzen war die Luft grau gestreift von der Takelage der Schiffe.
Pelle setzte sich auf den Puff am Ofen, die Ellenbogen auf die Knie und starrte zu Boden; ihm war so wunderlich zu Sinn. Wenn nur die Alte bald kommen wollte, dachte er – »ich glaube, ich gehe hinaus und tue, als wenn ich Ausschau halte.« Aber er blieb doch sitzen. An der Wand stand das zweischläfrige Bett mit der rotgeblümten Decke darüber und an der anderen Wand der Tisch, unter den die Stühle geschoben waren. »Sie sollte mich nicht zu sehr reizen,« dachte er wieder, »sonst endet es vielleicht doch noch damit, daß ich zugreife, und dann verbrennt sie sich!«
»Warum sagst du gar nichts zu mir, Pelle?« fragte Hanne.
Er erhob den Kopf und sah sie drinnen im Spiegel. Sie hatte die Spitze ihrer Flechte im Mundwinkel und sah aus wie ein Kätzchen, das sich in den Schwanz beißt.
»Ach, was soll ich wohl sagen!« antwortete er mürrisch.
»Du bist böse auf mich, aber das ist unrecht von dir – wirklich, das ist unrecht! Kann ich was dafür, daß ich solche Angst vor der Armut habe. Ja, wie mir davor graut! Von meiner Geburt an ist da nie was anderes gewesen, und du bist auch arm, Pelle, ebenso arm wie ich selbst! Was sollte wohl aus uns beiden werden – wir kennen ja das Ganze!«
»Was soll denn werden?« fragte Pelle.
»Das weiß ich nicht, und das ist auch ganz gleichgültig – nur etwas, was ich nicht kenne. Hu, alles wird so bekannt, wenn man arm ist, jeden Faden im Zeug kennt man auswendig, man kann sehen, wie er sich abschleißt. Wärest du nur Seemann gewesen, Pelle!«
»Hast du ihn etwa wiedergesehen?« fragte Pelle.
Hanne schüttelte lachend den Kopf. »Nein, aber ich glaube an etwas – an etwas Großartiges! Da drüben liegt ein großes Schiff – ich kann es vom Fenster aus sehen. Das ist voll von herrlichen Dingen, Pelle!«
»Du bist verrückt!« sagte Pelle höhnisch. »Das ist eine Bark, die nach dem Kohlenkai will. Sie kommt mit Kohlen aus England.«
»Das mag gern sein«, erwiderte Hanne gleichgültig. »Was mache ich mir daraus. Da drüben liegt das Schiff und hat mir was aus der Fremde mitgebracht, so singt es in mir, und die Freude kannst du mir doch wohl gönnen.«
Die Mutter kam herein und äffte ihr nach.
»Ja, da drüben liegt das Schiff und hat mir was mitgebracht, ja, da liegt das Schiff und hat mir was mitgebracht – großer Gott! Hast du es denn nicht bald satt, deinen eigenen verschrobenen Blödsinn anzuhören? Deine Kindheit hindurch hast du dagesessen und gefaulenzt und nach dem Schiff ausgesehen, jetzt kann es doch wohl bald genug sein. Und da läßt du Pelle sitzen und zusehen, wie du deine Jugend entblößest – schämst du dich denn gar nicht?«
»Pelle ist so gut, Mutter – und er ist mein Bruder. Der denkt sich nichts dabei.«
»Denkt sich nichts dabei? Ja, er denkt, wie weich und weiß ist ihr Busen! Und in ihm weint es, weil er seinen Kopf nicht dahin legen darf. Ich habe es auch gekannt, wie es ist, Freude zu schenken in meinen jungen Tagen.«
Hanne errötete bis über den Busen hinauf. Sie warf ein Handtuch über und lief in die Küche hinaus.
Die Mutter sah ihr nach.
»Sie hat eine so zarte Haut wie eine Königstochter. Sollte man nicht glauben, daß sie ein Kuckuckskind ist? Der Vater konnte sie auch gar nicht ausstehen. Du hast mich mit irgendeinem von den Feinen betrogen – hat er so oft zu mir gesagt. Wie sollten zwei arme Leute zusammen solch feines Puzellan zuwege bringen? So wahr Gott lebt, Johnsen – sagte ich – du und kein anderer ist der Vater des Mädchens. Aber er hat uns geprügelt und wollt' mir nicht glauben. Er wurde wütend, wenn er das Kind ansah, und haßte uns beide, weil sie so fein war. Es ist denn ja auch kein Wunder, daß sie ein bißchen sonderbar im Kopf geworden ist. Du kannst mir glauben, Pelle, sie hat mir blutige Tränen gekostet. Aber laß du sie fahren, Pelle! Ihr könnte ich es wohl wünschen, daß du sie kriegst, aber für dich ist es nicht gut, daß sie dich so hinhält. Und wenn du sie kriegst, wird es am Ende noch schlimmer für dich. Frauennucken sind ein elendes Mobiliar für eine Häuslichkeit.«
Pelle gab ihr recht in seinem stillen Sinn, er hatte sich betören lassen und vergeudete seine Jugend auf einem Wege, der zu nichts führte. Aber nun sollte es ein Ende haben!
Hanne kam herein und sah ihn an, licht und schwärmerisch. »Willst du mit mir spazierengehen, Pelle?« fragte sie.
»Ja«, antwortete Pelle erfreut und warf schnell alle Vorsätze über Bord.