Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Pelle kam von Meister Becks Werkstatt nach Hause gestürzt, warf Jacke und Weste ab und steckte den Kopf in einen Kübel Wasser. Während er sich trocken schruppte, lief er zu der »Familie« hinüber. »Wollt ihr mit ausgehen? Ich habe ein paar Billetts für eine Abendunterhaltung – aber da müßt ihr euch sputen.«

Die drei Kinder saßen zusammen um den Tisch und machten Kartenkunststücke. Das Feuer knatterte im Ofen, und es roch lieblich nach Kaffee. Sie waren müde nach der Arbeit des Tages und hatten keine Lust, sich noch umzuziehen, um auszugehen. Man konnte es ihnen ansehen, wie wohl sie sich fühlten, zu Hause zu sein. »Du solltest Hanne und ihrer Mutter die Karten geben!« sagte Marie – »die kommen nie wo hin.«

Pelle kaute ein wenig daran, während er sich fertig machte. Ja, warum eigentlich nicht? Es war im Grunde eine Dummheit, alte Geschichten nachzutragen.

Hanne wollte nicht mit. Sie saß mit niedergeschlagenen Augen da, wie ein Edelfräulein in der Kemenate, und sah ihn nicht an. Aber Madam Johnsen war gleich bereit. Die arme Alte kam schnell in ihren Staat.

»Es ist lange her, seit wir beide nebeneinander gegangen sind, Pelle«, sagte sie lebhaft, als sie der Stadt zuschritten. »Du hattest in der letzten Zeit so schrecklich viel zu tun. Du rennst zu Versammlungen, sagen sie. Das ist auch was Rechtes für einen jungen Mann – kann man dadurch was erreichen?«

»Ja, etwas kann man wohl dadurch erreichen – wenn man nur Kräfte anwendet!«

»Was soll denn erreicht werden? Soll der Deutsche wieder gefressen werden – so wie in unseren jungen Jahren? oder was hast du vor?«

»Wir wollen das Leben gern ein wenig glücklicher machen«, sagte Pelle ruhig.

»Ach, nichts weiter als das Glück willst du einführen? – Das wirst du auch schon erreichen«, sagte Madam Johnsen und lachte laut. »Ja, natürlich, in meiner schönen Jugendzeit da wollten die Mannsleute auch nach der Hauptstadt und das Glück schaffen. Ich war damals erst sechzehn Jahre, als ich mit meinen eigenen Absichten hierherkam – wo war die Herrlichkeit für ein hübsches Mädchen wohl zu finden, wenn nicht hier? Freunde fand man reichlich, da waren genug, die neben einem netten Mädchen in dünnen Schuhen einhergehen und ihr schöne Sachen schenken wollten – und jeder Tag brachte sein Glück mit sich. Aber dann traf ich einen Mann, der das Beste mit mir wollte und auch an sich selbst glaubte. Er flößte mir den Glauben ein, daß wir beide jetzt etwas zusammen schaffen würden, was von Dauer wäre. Und er war eben solch armer Vogel wie ich mit leeren Händen, aber er griff tüchtig zu. Geschickt in seiner Arbeit war er auch, und ein kleines glückliches Dasein mit gutem Auskommen und Traulichkeit zwischen den vier Wänden, meinte er, könnten wir uns schon schaffen, wenn wir bloß arbeiten wollten. Pah, Glück! – Er wollte ja durchaus Meister werden, denn was kann ein Geselle wohl verdienen! Mehr als einmal hatten wir auch ein wenig zusammengeschrabt und meinten, daß es jetzt lichter werde; aber dann schlug allemal das Unglück nieder und nahm das Ganze mit weg. Es hängt immer schwebend wie ein großer Vogel über dem Heim des armen Mannes; und wenn du es wegjagen willst, mußt du einen langen Stock haben! – Wenn wir dann ein wenig in die Höhe kamen, war es immer wieder dasselbe. Einen ganzen Winter war er krank. Wir hielten das Leben nur dadurch aufrecht, daß wir alles verpfändeten, was wir hatten, Stück für Stück. Als dann das letzte zum Teufel gegangen war, liehen wir etwas auf die Pfandzettel.« Die Alte mußte innehalten und sich verschnaufen.

»Warum rennen wir eigentlich so?« sagte sie keuchend. »Man sollte glauben, die Welt wolle vor uns weglaufen.«

»Ja, dann war da nichts weiter!« fuhr sie fort und schlurrte wieder vorwärts – »und von vorn wieder anzufangen, dazu war er zu müde. So zogen wir denn in die »Arche«. Wenn er ein paar Schillinge hatte, suchte er sich zu trösten; aber für mich war das ein schlechter Trost, das kannst du mir glauben! Ich erwartete Hanne. Sie kam wie ein Geschenk nach all dem Unglück; aber er konnte sie nicht leiden, weil unsere Nucken von dem bißchen Herrlichkeit in ihr wieder geboren wurden. Sie hatte das ja von uns geerbt, die Ärmste – und Lumpen und Schmutz dazu, um es sich daraus zusammenzusetzen. Du hättest sie nur sehen sollen, wie sie als ganz kleines Kind die Welt der feinen Leute aus Lumpen aufbaute, die sie aus dem Kehrichtkasten zusammensuchte. Was ist das? – fragte Johnsen, er war ein wenig beschwipst wie gewöhnlich. Ach, das ist die gute Stube mit dem Teppich auf dem Fußboden, und da beim Ofen da ist dein Zimmer, Vater. Aber du mußt nicht auf den Fußboden spucken, denn wir sind feine Leute.«

Madam Johnsen fing an zu weinen. »Und da schlug er sie an den Kopf: Halt's Maul, rief er und fluchte schrecklich über das Kind. Ich will das verdammte Gedröhn nicht hören! So war er. Das Leben fing gerade an, ein wenig leichter für uns zu werden, als er in der Kloake endete. Die Zeit, wo ich mich hätte amüsieren können, die raubte er mir mit seinen Zukunftsredereien, und nun sitze ich da und kehre alte Soldatenhosen, die die Stube mit Schweinerei anfüllen; wenn ich am Tage zwei wende, kann ich eine Mark verdienen. Und Hanne geht wie eine Nachtwandlerin herum. Glück! Ja, Kuchen! Ist in der ›Arche‹ wohl irgend jemand, der anders angefangen hätte als mit dem festen Glauben an was Besseres? Man zieht nicht mit gutem Willen in so ein buntes Lausenest, aber man endet da doch. Und ist da wohl irgend jemand, der nur das tägliche Brot gesichert hat? Ja, am Ende Olsens mit der warmen Wand, aber das haben sie auch der Schande ihrer Tochter zu verdanken.«

»Um so mehr Grund ist da, die Sache in Angriff zu nehmen.«

»Ja, du kannst wohl reden! Aber wer gegen das Unüberwindliche ankämpft, wird bald müde werden. Nein, laß du das alles fahren und amüsiere dich, solange du noch jung bist. Kehr dich nicht an mich alte Jammerliese, die hier neben dir hergeht und Trübsal bläst – jetzt wollen wir ja aus und uns amüsieren.« Sie sah wieder ganz vergnügt aus.

»Dann faß mich unter, das gehört sich ja so zwischen Liebesleuten«, sagte Pelle scherzend. Die alte Frau nahm seinen Arm und trippelte jugendlich. »Ja, wäre es in meinen jungen Jahren gewesen, dann hätte ich dich schon von deinen dummen Streichen abbringen können,« sagte sie munter, »dann hätte ich dich zum Tanz geführt.«

»Aber Johnsen haben Sie doch nicht davon abbringen können«, wandte Pelle ein.

»Nein, denn damals war man ja noch zuversichtlich. Aber jetzt sollte es niemand gelingen, mir meine Jugend zu rauben.«

Die Versammlung, die in einem großen Saal in einer der Seitenstraßen des Nordens abgehalten wurde, war agitatorisch unterhaltend, meist für die Unmündigen berechnet. Es waren auch viele Frauen und junge Mädchen gekommen. Es wurde vorgelesen, unter anderem ein Gedicht, das von einem alten ehrlichen Schmied handelte, der über einem Streik zugrunde ging. »Das mag ja ganz schön und rührend sein,« flüsterte Madam Johnsen und putzte die Nase vor Rührung – »aber man hat wirklich was nötig, worüber man lachen kann. Das Elend sieht man jeden Tag.«

Dann sang ein kleiner Chor von Handwerkern einige Lieder, und einer von den älteren Führern trat auf die Rednertribüne und erzählte von den Kinderjahren der Bewegung. Als er damit fertig war, fragte er, ob nicht andere auch etwas zu erzählen hätten. Es hielt offenbar schwer, den Abend auszufüllen.

Es war keine rechte Stimmung in der Versammlung. Die Frauen amüsierten sich nicht, und die Männer saßen da und lauschten nach etwas, das durchgreifen würde. Pelle kannte die meisten von den Diskussionsversammlungen; selbst die Jungen hatten harte Gesichter, aus denen ein hartnäckiges Fragen leuchtete. Diese einfache, unschuldige Unterhaltung stillte nicht die brennende Ungeduld, die die Gemüter erfüllte und sie gespannt nach Verheißungen lauschen ließ.

Pelle saß da und litt unter dem Verlauf; das eifrige Drauflosgehen und Agitieren saß ihm im Blut. So eine Gelegenheit, einen Schlag für den Zusammenschluß zu schlagen, ging hier unbenutzt vorüber. Die Frauen hier hatten gerade eine kleine Aufrüttelung nötig, die Fabrikmädchen wie auch die verheirateten Frauen, die ihre Männer zurückhielten. Und da oben standen sie und vergeudeten die Zeit mit Singen und Dichtergeschwätz! In einem Satz stand er auf der Tribüne.

»Es mag ganz gut sein mit all den schönen Worten!« rief er eifrig – »aber sie führen nur zu so wenig für alle, die nicht davon leben können! Der Pastor und der Hund verdienen ihr Essen mit dem Mund, aber wir anderen sind auf unsere Fäuste angewiesen, wenn wir was erreichen wollen. Warum schleichen wir um die Sache herum wie die Katze um den heißen Brei – mit Worten und Predigten? Wissen wir vielleicht noch nicht, was wir wollen? Sie sagen, wir sind seit tausend Jahren Sklaven gewesen – da sollten wir doch wohl Zeit genug gehabt haben, uns zu besinnen! Warum geschieht so wenig, obgleich alle auf etwas warten und bereit sind? Ist da etwa niemand, der Mut hat anzuführen?«

Es erhob sich ein starker Beifall, namentlich von den Jungen; sie trampelten und riefen. Pelle taumelte hinunter, er war schweißbedeckt.

Der alte Führer betrat wieder die Rednertribüne und dankte den Mitwirkenden für die angenehme Unterhaltung. Er wandte sich auch mit einem lächelnden Dank an Pelle. Es sei erfreulich, daß noch etwas Feuer in der Jugend glühe, wenn auch die Veranlassung mißverstanden sei! Die älteren Leute hätten die Bewegung durch böse Zeiten hindurchgeführt, hätten aber nichts dagegen, die Jugend sich versuchen zu lassen.

Pelle wollte aufstehen und etwas erwidern; aber Madam Johnsen hielt ihn am Rock fest. »Laß das, Pelle,« flüsterte sie ängstlich, »du wagst dich zu weit hinaus.« Sie wollte ihn nicht loslassen, und er mußte sich wieder setzen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Seine Wangen glühten, er war atemlos, als wäre er einen Hügel hinaufgelaufen. Es war das erstemal, daß er sich auf eine Rednertribüne hinaufgewagt hatte; die Erregtheit hatte ihn da hinaufgeschleudert.

Die Leute erhoben sich und mischten sich durcheinander. »Ist es schon vorbei?« fragte Madam Johnsen. Er merkte, daß sie enttäuscht war.

»Nein, nein, nun wollen wir uns etwas spendieren«, sagte er und führte die Alte an einen Tisch in dem Hintergrund des Saales. »Was darf ich anbieten?«

»Bitte, Kaffee für mich! Du solltest aber ein Glas Bier trinken, du bist so warm!«

Pelle wollte auch Kaffee haben. »Du bist doch eine sonderbare Mannsperson«, sagte sie lachend. »Stürzt dich erst in einen ganzen Schwarm von Menschen hinein und sitzt dann nachher wie ein altes Weib da und trinkst Kaffee! Was für eine Menge Menschen hier sind, es ist beinahe wie ein Fest.« Sie saß da und sah sich mit glänzenden Augen um, mit roten Wangen wie ein junges Mädchen, das zum Tanz gegangen ist. »Nimm doch etwas mehr Haut, Pelle, du hast ja nichts gekriegt – Dies ist wirkliche Sahne!«

Der Führer kam auf sie zu und fragte, ob er Pelles Bekanntschaft machen dürfe. »Ich habe ja durch den Vorsitzenden Ihres Fachvereins von Ihnen gehört«, sagte er und gab ihm die Hand. »Es freut mich, Sie zu begrüßen, Sie haben ein sauberes Stück Arbeit getan.«

»Ach, es ist nicht so schlimm«, erwiderte Pelle errötend. »Aber nun wäre es eigentlich fein, wenn es bald losginge!«

»Ich kenne Ihre Ungeduld nur zu gut«, erwiderte der alte Führer lächelnd. »So heißt es beständig unter den Jungen. Wer aber etwas Wirkliches ausrichten will, muß bis an das Ende des Weges sehen können.« Er schlug Pelle auf die Schulter und ging.

Pelle fühlte, daß die Leute um ihn herumstanden und von ihm sprachen. Gott weiß, ob du dich nicht lächerlich gemacht hast, dachte er. Dicht neben ihm standen zwei junge Leute und sahen ihn von der Seite an. Plötzlich kamen sie auf ihn zu.

»Wir möchten Ihnen gern die Hand schütteln«, sagte der eine. »Mein Name ist Otto Stolpe, und das ist mein Bruder Frederik. Ein gutes Wort, was Sie da oben auslangten – seien Sie dafür bedankt!« Sie standen eine Weile beieinander und plauderten. »Es würde übrigens meinen Alten freuen, wenn Sie ihm Guten Tag sagen wollten«, sagte Otto Stolpe. – »Haben Sie nicht Lust, mit uns nach Hause zu kommen?«

»Heute abend kann ich nicht gut, ich bin in Gesellschaft«, erwiderte Pelle.

»Geh du man mit,« sagte Madam Johnsen, »da hinten sehe ich ein paar Leute aus Christianshafen, mit denen kann ich nach Hause gehen.«

»Aber wir wollten doch noch ein wenig auf den Bummel gehen, wo wir doch einmal aus sind,« sagte Pelle lachend.

»I Gott bewahre! Nee, nu haben wir heute abend genug gebummelt, mein alter Kopf ist schon ganz durchgedreht. Mach du man, daß du wegkommst – vor dreißig Jahren hätt' ich das nicht gesagt. Und vielen Dank, daß du mich mitgenommen hast.« Sie lachte ihm ausgelassen zu.

Die Familie Stolpe wohnte in der Ulmenstraße, im zweiten Stockwerk in einer der neuen Arbeiterkasernen. Der Aufgang war geräumig, und an der Tür war ein Namensschild aus Porzellan angebracht. Im Entree kam ihnen eine ältere, gut gekleidete Frau entgegen.

»Das ist ein Genosse, Mutter«, sagte Otto.

»Willkommen!« sagte sie und ergriff Pelles Hand. Sie behielt sie einen Augenblick in der ihren und sah ihn an.

Drinnen im Wohnzimmer saß Maurer Stolpe und las im »Arbeiter«. Er war in Hemdsärmeln und stützte die schweren Arme auf den Tisch. Er las flüsternd und bemerkte nicht, daß ein Gast in der Stube war.

»Hier ist ein Mann, den zu begrüßen Vater Freude machen wird«, sagte Otto und legte die Hand auf den Arm des Vaters.

Stolpe erhob den Kopf und sah Pelle an. »Sie wollen vielleicht in den Verein eintreten?« fragte er und erhob sich schwer, die Hand auf den Tisch stützend. Er war groß, mit grau gesprenkeltem Haar, die Augen waren fleckig von Kalkspritzern.

»Du mit deinem Fachverein«, sagte Frau Stolpe. »Du glaubst am Ende, daß kein anderer im Verein ist als du.«

»Ja, es sind nach und nach eine ganze Menge eingetreten, Mutter, aber ich bin darum doch der erste gewesen.«

»Ja, ich bin schon im Verein,« sagt Pelle, »aber nicht in Ihrem. Ich bin nämlich Schuster.«

»Schuster, ha, das ist ein schlechtes Geschäft für einen Gesellen; aber dafür kann man denn auch Meister werden – das kann ein Maurer heutzutage nicht, das macht ja einen großen Unterschied; wenn man sein ganzes Leben lang Geselle bleibt, hat man mehr Interesse, die Stellung zu verändern. Verstehen Sie wohl? Darum ist der Zusammenschluß unter den Schustern auch nur mau gewesen. Ein weiterer Grund ist der, daß sie im eigenen Logis arbeiten und man sie nicht gefaßt kriegen kann. Aber nun ist da ja ein neuer Mann gekommen, der die Sache in Gang zu bringen scheint.«

»Ja, und das ist der da, Vater«, sagte Otto lachend.

»Zum Teufel auch – und hier stehe ich und halte mich selbst zum Narren! Dann will ich Ihnen doch noch mal Guten Tag sagen. Glückauf mit Ihrem Vorhaben, junger Kamerad!« Er schüttelte Pelle die Hand – »Wir kriegen wohl einen Schluck Bier, Mutter?«

Stolpe und Pelle kamen schnell in ein lebhaftes Gespräch; Pelle war in seinem Element. Er war bisher noch nie in das Herz der Bewegung eingedrungen. Da war so vieles, wonach er fragen wollte, und der alte Maurer erzählte drauflos von dem Wachstum der Organisation von Jahr zu Jahr, von ihrem ersten Anfang an, wo nur ein Fachvereinsmitglied in Dänemark war – nämlich er selbst – bis auf den heutigen Tag. Er kannte alle Zahlen aus den verschiedenen Berufen, er war genau orientiert über die Entwickelungsgeschichte jedes einzelnen Vereins. Die Söhne saßen schweigend da und hörten andachtsvoll zu. Sie warteten immer darauf, etwas zu sagen, bis der Vater mit seinem Kopfnicken zu erkennen gab, daß er jetzt fertig war. Der Jüngere, Frederik, der in der Maurerlehre war, sagte nicht einmal du zum Vater; er redete ihn in der dritten Person an, und sein beständiges »Vater, Vater« klang in Pelles Ohren sonderbar.

Während sie noch redeten, öffnete Frau Stolpe die Tür zu einem noch hübscheren Zimmer und bat sie, hineinzukommen und Kaffee zu trinken. Die Wohnstube hatte schon einen gewaltig vornehmen Eindruck auf Pelle gemacht mit ihren eichengestrichenen Eßstubenmöbeln und dem Roßhaarsofa. Aber hier war ein rotes Plüschmobiliar, ein achteckiger Tisch aus Nußbaumholz, mit eingelegtem schwarzen Rand und gedrehtem Holzfuß, und einer Etagere voller Nippsachen aus Porzellan: meistens kleine, drollige, anzügliche Sachen. An den Wänden hingen Gruppenbilder von Vereinen und Versammlungen und große Photographien von Arbeitsplätzen: ein Gebäude während des Baues und auf dem Gerüst die Maurer zwischen ihren Kalkkübeln, ein Stück Handwerkszeug oder eine Bierflasche in der Hand. An der Wand über dem Kanapee hing ein großes Kniestück von einem schönen brünetten Mann im Radmantel. Er glich halb einem träumenden Abenteurer, halb einem Militär.

»Das ist der Großmeister«, sagte Stolpe feierlich und stellte sich neben Pelle. »Auf ihm ist das Ganze aufgebaut.« Er stand da und verfiel in Sinnen vor dem Bilde und war lange stumm; er atmete schwer auf und bewegte den Kopf hin und her.

»Ein stolzer Mann war er nun doch,« fuhr er auf einmal fort – »ihm war immer eine Schar Frauenzimmer auf den Fersen. Aber wenn er sprach, hielten sie sich hübsch beiseite, denn dann ging Feuer von ihm aus, verstehen Sie? Dann hieß es: Vor mit den Männern! Und selbst den ärgsten Schlafmützen juckten die Ohren.«

»Der ist jetzt wohl tot?« fragte Pelle interessiert.

Stolpe antwortete nicht. »Bitte schön,« sagte er kurz – »wollen wir nun Kaffee trinken?« Otto blinzelte Pelle zu, hier war offenbar etwas, woran nicht gerührt werden durfte.

Stolpe saß da und starrte in seine Tasse hinein, aber plötzlich erhob er den Kopf. »Es gibt Dinge, auf die man sich nicht versteht«, rief er ernsthaft aus. »Aber das ist sicher, ohne den Großmeister da hätten ich und eine ganze Menge anderer jetzt vielleicht nicht als gute Familienväter dagesessen. Da waren viele schneidige Köpfe unter uns jungen Kameraden – so wie das ja immer der Fall ist; aber die Begabten sind ja auch in der Regel immer vor die Hunde gegangen. Denn wenn man keine Gelegenheit hat, es zu verwenden, dann wird man natürlich ungeduldig, und eines schönen Tages fängt man damit an, Spiritus auf die Lampe zu gießen, um das Maul zu stopfen. Ich hatt' ja selbst das verdammte Gefühl, daß mir etwas fehlte, und fing auch schon bei kleinem an, einen auf die Lampe zu gießen. Aber dann entdeckte ich die Bewegung – noch bevor sie da war, könnte ich dummerweise beinahe sagen – es lag so in der Luft, wissen Sie. Da war gleichsam etwas im Anmarsch, und man stöberte wie ein Hund, um einen Schimmer davon zu erhaschen. Bald hieß es, es sei hier, bald sei es da. Aber wenn man dahin kam, standen da bloß ein paar hungrige Männer, die schrien durcheinander über etwas, ohne daß der Teufel wußte, was es war. Aber dann trat der Großmeister vor, und das war wie ein Blitz für uns alle. Denn er konnte uns auf den Pricken sagen, wo uns der Schuh drückte, obwohl er gar nicht von unseren Leuten war. Seit der Zeit hat man nicht nötig gehabt, nach den besten Leuten zu forschen, denn die waren in der Bewegung zu finden! Wenn sie auch nicht viele zählten – die besten waren auf alle Fälle immer mit dabei.«

»Aber nun kommt ja Wind in die Segel«, sagte Pelle.

»Ja, nun rumort es überall! Aber woher ist das gekommen? Von uns alten Veteranen, weiß Gott! Und von dem da!«

Stolpe fing an über gleichgültige Dinge zu reden, aber ganz von selbst ging das Gespräch wieder auf die Bewegung über; Mann und Frau lebten und atmeten in nichts weiter. Es waren brave, gradlinige Leute, die ganz einfach die Menschen in zwei Arten teilten: in die, die dafür, und die, die dagegen waren. Pelle atmete auf eine eigene kräftige Weise in diesem Heim, wo die Luft gleichsam vom Sozialismus geschwängert war.

Er bemerkte eine massive Truhe, die auf vier gedrehten Beinen an der einen Wand stand; sie war dicht mit Metallnägeln beschlagen und glich einem alten Zunftschrein.

»Ja, – das ist die Fahne«, sagte Frau Stolpe, schwieg aber erschrocken. Maurer Stolpe runzelte die Stirn.

»Ach was, Sie sind ja ein famoser Bursche«, sagte er dann. »Vor Ihnen braucht man nicht auf den Zehen zu schleichen.« Er nahm einen Schlüssel aus einem Geheimfach in seinem Schreibtisch. »Jetzt ist ja die Gefahr vorüber, aber vorsichtig ist man doch. Das ist noch so ein Überbleibsel von damals, als es hart herging. Die Polizei machte auf unsere Sammelzeichen Jagd. Der Großmeister kam selbst eines Abends mit dem Fahnentuch unter dem Mantel zu mir: »Sie müssen sie aufbewahren, Stolpe, Sie sind der Zuverlässigste von uns allen.«

Er und die Frau entfalteten das ganze große Flaggentuch. »Sehen Sie, das ist das Sammelzeichen für die Internationale. Sie sieht ein wenig mitgenommen aus, denn sie hat schon allerlei mitgemacht. Bei den Versammlungen draußen auf dem Anger, wo das Militär gegen uns mit scharfen Patronen kommandiert war, wehte sie über der Rednertribüne, da hatt' sie uns zusammengehalten. Wenn sie über unserem Kopfe klatschte, war es, als wenn wir zu ihr schwuren. Die Polizei verstand das auch und wollte sie absolut haben. Sie ging mitten während einer Versammlung auf die Fahne vor, aber es wurde nichts draus, und seither haben sie sie verfolgt, sie mußte von Mann zu Mann wandern. So ist sie mehr als einmal zu mir gekommen.«

»Ja, und eines Abends brach die Polizei hier ein und nahm Vater mit, als wir beim Abendessen saßen. Sie stellten die ganze Wohnung auf den Kopf und schleppten ihn ins Loch, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Die Kinder waren damals klein, und da können Sie sich denken, wie traurig es für mich aussah. Ich wußte ja nicht, wann sie ihn wieder hinauslassen würden.«

»Ja, aber die Fahne kriegten sie doch nicht«, sagte Stolpe und lachte herzlich. »Die hatte ich schon weitergegeben – sie war in den Tagen nie so recht lange an einem Ort. Jetzt führt sie ein verhältnismäßig ruhiges Dasein, und Mutter und wir andern auch!«

Die Jungen standen schweigend da und starrten die Fahne an, die so viel mitgemacht hatte und gleichsam das heiße rote Blut der Bewegung war. Vor Pelle entrollte sich hier eine ganz neue Welt. Das, was auf dem Grund seiner Seele brannte, war nicht mehr ganz so wild; als er noch daheim umherging und die Spiele der Kindheit spielte oder Vieh hütete, hatten schon starke Männer zugegriffen und den Grund zu dem Ganzen gelegt. Eine eigentümliche Hitze strahlte aus ihm aus und stieg ihm zu Kopf. Wenn er es nun gewesen wäre, der die glühende Fahne gegen die Unterdrücker geschwungen hätte – er!

»Und nun liegt sie hier in der Truhe und ist vergessen«, sagte er mißmutig.

»Sie ruht nur«, sagte Stolpe. »Vergessen, ja, die Polizei glaubt wohl nicht, daß sie noch existiert. Stecken Sie sie aber auf eine Stange, und Sie sollen sehen, wie sich die Kameraden um sie scharen. Alte wie junge. In dem Stück Zeug ist Feuer! Und zwar Feuer, das niemals erlischt!«

Sorgfältig falteten sie die Fahne zusammen und legten sie wieder hinein. »Es darf aber doch nicht laut über die Fahne geredet werden. Sie verstehen wohl!« sagte Stolpe.

Es schellte, und Stolpe beeilte sich, die Fahne zu verschließen und den Schlüssel zu verstecken, während Frederik hinausging und öffnete. Sie sahen einander unruhig an und standen da und lauschten.

»Es ist nur Ellen«, sagte Frederik und kam herein, gefolgt von einem hochgewachsenen brünetten Mädchen mit einem ernsten Wesen. Sie hatte einen Schleier vor dem Gesicht, und vor dem Mund saß ihr Atem wie ein Perlengewebe im Schleier.

»Ach, das ist das Mädel!« rief Stolpe und lachte. »Was für Narrenstreiche, wir werden ja ganz nervös, genau so nervös wie in alten Zeiten. Und du bist zu dieser nächtlichen Stunde auf der Straße! Und bei dem Wetter?« Er sah sie liebevoll an, man konnte ihm anmerken, daß sie sein Verzug war. Äußerlich waren sie sehr verschieden.

Sie begrüßte Pelle mit einem winzig kleinen Knicks und sah ihn ernsthaft an. Es lag etwas Anmutiges, Stilles über ihr, das ihn gleich einnahm. Sie war dunkel gekleidet, ohne den geringsten Anstrich von Putz, aber in soliden Sachen.

»Willst du nicht ablegen?« fragte die Mutter und knöpfte ihr den Mantel auf. »Du bist ja ganz naß, Kind!«

»Nein, ich muß gleich wieder gehen«, erwiderte Ellen. »Ich wollte nur einmal eingucken.«

»Dazu ist es doch aber reichlich spät«, brummte Stolpe. »Hast du erst jetzt Feierabend?«

»Ja, es ist ja heute nicht mein Ausgehtag.«

»So, also der ist heute nicht? Ja, das ist 'ne nette Sklaverei, bis elf Uhr abends.«

»Das ist nun einmal so, Vater – und es wird nicht besser, wenn du mich auch ausschiltst«, erwiderte Ellen mutig.

»Nein, aber du brauchtest ja nicht zu dienen. – Es ist kein Sinn darin, daß unsere Kinder in den Häusern der Arbeitgeber Dienste verrichten sollen! – Geben Sie mir darin nicht recht?« wandte er sich an Pelle.

Ellen lachte hell. »Das ist doch ganz einerlei – Vater arbeitet ja auch für die Arbeitgeber!«

»Jawohl, aber das ist etwas anderes. Von Uhr so und so viel bis Uhr so und so viel und dann fertig! Das andere ist das Heim; die aus dem einen Heim müssen in das andere Heim gehen und alle Dreckarbeit übernehmen.«

»Vater ist ja doch nicht in der Lage, mich zu Hause zu behalten.«

»Das weiß ich wohl, aber leiden kann ich es darum doch nicht. Du könntest auch sicher eine andere Beschäftigung finden.«

»Ja, aber das will ich nicht! – Ich will die Berechtigung haben, über mich selbst zu verfügen«, erwiderte sie bestimmt.

Die anderen saßen schweigend da und sahen einander ängstlich an. Die Adern an Stolpes Stirn schwollen an, er war blau im Gesicht und fürchterlich böse. Aber Ellen sah ihn mit einem kleinen Lächeln an. Er erhob sich und ging brummend in das andere Zimmer.

Die Mutter schüttelte den Kopf über sie. Sie war ganz blaß: »Aber Kind, Kind!« flüsterte sie.

Nach einer Weile kam Stolpe mit einigen alten Zeitungen herein, die er Pelle zeigen wollte. Ellen stellte sich hinter seinen Stuhl und sah hinein; sie stützte den Arm auf seinen Rücken und kraute ihm gedankenlos das Haar. Die Mutter zupfte sie am Kleid. Es waren illustrierte Blätter aus der bewegten Zeit.

Die Uhr schlug halb zwölf, und Pelle brach erschrocken auf. Er hatte die Zeit ganz vergessen.

»Nehmen Sie das Mädel mit«, sagte Stolpe. »Ihr habt ja denselben Weg. Nicht wahr, Ellen? Dann hast du Begleitung. Es hat keine Gefahr, mit ihr zu gehen, denn sie ist heilig.« Es klang so, als wolle er sich für seine Niederlage rächen. – »Kommen Sie bald wieder, Sie sind uns stets willkommen.«

Sie sprachen nicht recht viel auf dem Heimwege. Pelle war verlegen und hatte ein Gefühl, daß sie da gehe und ihn ansehe und dachte, was für ein Bursche das wohl sei. Wenn er sich aufraffte, um etwas zu sagen, antwortete sie kurz und sah ihn forschend an. Und doch fand er, daß es ein interessanter Spaziergang war. Er hätte ihn gern noch in die Länge gezogen.

»Vielen Dank für Ihre Begleitung«, sagte er, als sie an ihrer Haustür standen. »Es würde mich freuen, Sie wiederzusehen.«

»Wenn wir uns treffen sollen, wird es schon geschehen«, erwiderte sie verschlossen, ließ ihm aber doch ihre Hand einen Augenblick.

»Wir werden uns sicher wiedertreffen! – Seien Sie überzeugt davon!« rief Pelle fröhlich aus. »Aber du vergißt wohl, mich für die Begleitung zu bezahlen?« Er beugte sich über sie.

Sie starrte ihn erstaunt an – mit ein Paar Augen, die ihn steinigten, meinte er. Dann wandte sie sich langsam ab und ging hinein.


 << zurück weiter >>