Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Es geschah wohl, daß einer oder der andere von den Kameraden aus der guten alten Zeit vorsprach und Pelle zu einer Versammlung abholen wollte. Dann erwachten alte Kampferinnerungen in ihm – vielleicht glimmte der Funke dennoch da. Er warf das Schurzfell ab und ging mit; Ellens Augen folgten ihm bis zur Tür, voller Verwunderung, daß er sich noch immer damit befassen wollte – nach dem, was er davon gehabt hatte.

Aber auch dort fand er nicht, was er suchte! Er entsann sich der mächtigen Gärung der Gemüter in der Kampfzeit der Bewegung, und fand, daß die Spannung nachgelassen hatte. Nur vor den Wahlen waren die Leute noch in Erregung, sonst beschäftigte sich ein jeder mit seinen Angelegenheiten, als hätte es nie etwas gegeben, was ein einigender Gedanke hieß. Organisiert waren sie alle, aber es war nichts Neues und Starkes in dieser Tatsache; sie waren sozusagen in die Organisation hineingeboren und verbanden nichts Großes und Erhebendes damit. Die alten Genossen waren merkwürdig abgekühlt – sie hatten wohl entdeckt, daß das Glück weder so märchenhaft noch so geradezu war. Es war nicht mehr damit abgetan, daß man die Pforte zu dem Glücksland aufschlug und da hineinströmte, es lag ein langer und mühevoller Weg vor einem. So richteten sie sich denn nach ihrem eigenen Gutbefinden ein und vertauschten eine zweifelhafte Zukunft gegen kleine Vorteile – die das Bestehende sogleich verschlang.

Die Bewegung hatte nicht bis auf den Grund gegriffen; es lag eine Anklage gegen ihn selbst darin, sie war nicht breit genug angelegt gewesen, schon damals war sie den Bewohnern der »Arche« über die Köpfe gegangen, und nun war da ein großes Proletariat mit seinen eigenen Erwartungen an die Zukunft zurückgeblieben. Das gute, alte ›Volk‹ hatte sich in ein Kleinbürgertum gespalten, das nur davon in Anspruch genommen schien, sich einzurichten – und dann dies Proletariat.

Aber es war nichts Neues hierin. Eine Schicht rückte auf und offenbarte eine neue unter sich – so war es in der Geschichte immer gegangen. War es denn in alle Ewigkeit bestimmt, daß auf dem Grunde des Daseins eine beständig gleich zahllose Schar Ausgestoßener sitzen sollte, die die Last des Ganzen trugen – die große Hungerreserve? War es nur dann möglich, es gut zu haben, wenn man es verstand, die Schwierigkeiten nach unten abzuschieben? – wie man die Falten in einem Stoff verschieben konnte, bis sie sich schließlich an einer Stelle aufhäuften! Ja, dies war wieder die alte Frage. Früher hatte er seinen lichten Glauben gehabt, mit dem er den Zweifel niederschlug, aber jetzt konnte er sich nicht mehr mit einer blinden Hoffnung begnügen – er verlangte, daß ihm ein Ausweg angewiesen werde. War die Bewegung ausgelaufen, weil sie schief angelegt war, so hatte man es ja mit handgreiflichen Gründen zu tun, und das Ganze ließ sich wieder gutmachen!

Auch andere waren damit beschäftigt, das Ganze von Grund an aufzunehmen. Durch Peter Drejer kam er mit jungen Leuten von ganz neuem Typ zusammen. Das war die Jugend, die unten aus der Bewegung aufgetaucht – überraschend aus ihrem Bodenfall aufgeschossen war – und nun kam und neue, weitgehende Forderungen an das Dasein stellte. Auf unbekannten Wegen waren sie an denselben Punkt gelangt wie er selber, und beanspruchten in erster Linie, Menschen zu sein. Die Heiligkeit des Ichs erfüllte sie und setzte sie in Empörung über jegliches Joch; sie fingen damit an, es von innen abzuwerfen, rauchten und tranken nicht – wollten keine Sklaven von irgend etwas sein. Sie hielten sich der Bewegung fern und hatten ihre eigenen Versammlungsorte in der Nähe des Südboulevards, wo sie lasen und neue Gesellschaftsordnungen entwarfen. Es waren aufgeklärte, gutgelohnte Arbeiter, die hartnäckig die Verhältnisse des Proletariats teilten, fanatisch Gläubige, die ihren Wochenlohn verschenkten, wenn sie einem begegneten, der ärmer war als sie selbst, Hitzköpfe, die auf die Revolution warteten. Mehrere von ihnen hatten wegen aufrührerischer Umtriebe gegen die Staatsordnung im Gefängnis gesessen. Es waren auch Leute vom Lande darunter, Söhne von denen, die da draußen in Gräben und Torfmooren standen. Die Kinder des kleinen Mannes nannte Morten sie.

Hier war endlich der Nachwuchs derer, die die Bewegung mitgemacht hatten – so mußte sie verlaufen. Durch Genügsamkeit hielten sie sich unabhängig von den bestrickenden Mitteln des Kapitals, sie verachteten den kleinbürgerlichen Hang zum Wohlleben und waren immer zum Handeln bereit; in ihnen war der Aufbruch auf jeden Fall eine Tatsache.

Sie wollten Pelle gern für sich gewinnen. – »Komm zu uns herüber!« sagte Peter Drejer oft.

Aber Pelle war nicht leicht hinauszulocken, er hatte sein Heim, da verbarg er sich wie eine Schnecke in ihrem Haus. Für diese kleine Welt von fünf Menschen hatte er die Verantwortung – und nicht einmal die hatte er sicherzustellen vermocht. Seine Kräfte und sein Fleiß reichten nicht einmal aus, um ein kleines Heim über Wasser zu halten, es bedurfte dazu eines Wohltäters! Dies war nicht die Zeit, seinen eigenen Ehrgeiz zu pflegen, wo es sich um Frau und Kinder handelte, und jetzt, wo das Ganze geordnet war, fühlte er sich dem alten Bibliothekar gegenüber von Herzen dankbar. Aber eine beschämende Tatsache war es trotzdem, die nicht dazu aufforderte, sich mit den Angelegenheiten der Tausenden zu beschäftigen.

Die gewaltsamen Worte der Jungen schreckten ihn auch zurück. Er trug den Aufbruch in sich, so wie sie, hatte aber andere Erfahrungen aufzuweisen. Seit er kriechen konnte, hatte er mit sich selbst gerungen, um sich in den großen Zusammenhang hineinzufügen; nicht einmal das Gefängnisleben hatte ihn davon ausgeschlossen, sondern ihn nur noch fester in das Ganze eingefügt. Er hatte keine Anlage, den Knoten zu durchhauen, verlangte aber eigensinnig, daß er gelöst werden sollte.

»Mit dir ist es nichts, denn du kannst nicht hassen«, sagten Morten und die anderen, wenn sie auf ihn stichelten. Nein, die Kälte in seinem Gemüt war wie Nachtfrost, der vor dem ersten Sonnenstrahl schmolz. Wenn er zurücksah, waren da versöhnende Bande, die das Ganze trotz allem Bösen zusammenhielten; und jetzt, ganz kürzlich, hatte ihm ja auch der alte Bibliothekar Fühlung mit dem Guten jenseits der Kluft gegeben. Er hatte sich wieder auf seinen Schusterstuhl zur Ruhe gesetzt und ließ sich nicht von der Ungeduld der anderen aufjagen, sondern sah so aus, als habe er eine ganze Ewigkeit vor sich, in der er seine Angelegenheiten abwickeln konnte.

Schwester pflegte unten bei ihm herumzupuddeln und die Werkstatt mit ihrem Geplauder zu füllen. Gegen acht Uhr, wenn es zu tagen begann, hörte er ihre stolpernden Schritte auf der Treppe, und dann blieb sie bei ihm, bis Ellen sie gegen Abend mit Gewalt hinaufholte, um sie in ihr Bett zu legen. Sie schleppte alles Werkzeug zusammen und stapelte es vor ihm auf dem Tisch auf, so daß er sich nicht rühren konnte; das nannte sie, ihm helfen. Hinterher ruhte sie sich aus und stand, die Hände auf den Rand des Tisches gestemmt, und unterhielt ihn. »Schwester ist lieb!« sagte sie anerkennend und zeigte befriedigt auf ihr Werk. »Großes Mädchen.« Und wenn er nicht antwortete, wiederholte sie es; sie ruhte nicht, bis er sie gelobt hatte.

»Ja, lieb bist du!« sagte Pelle. »Aber kannst du die Sachen nun auch wieder an ihren Ort stellen?«

Das Kind schüttelte den Kopf. »Schwester ist müde«, erklärte sie bestimmt. Gleich darauf kam sie mit noch einem Stück und schob es langsam auf den Haufen, während sie sein Gesicht beobachtete, um zu sehen, ob es auch anging. »Schwester hilft!« wiederholte sie erklärend – »ja, das tut sie.« Pelle tat, als höre er es nicht.

Nun hatte er eine Weile Ruhe vor ihr, aber dann kam sie, die ganze Schürze voll ausrangierten Schuhzeuges, das sie hinter dem Ofen hervorgeholt hatte. Er versuchte, wütend auszusehen, mußte sich aber über seine Arbeit beugen. Das machte die Kleine unsicher, sie leerte die Schürze auf dem Fensterbrett und kauerte dann nieder, die Hände auf den kleinen Knien, um seinen Ausdruck aufzufangen. Der war nicht befriedigend, da erhob sie sich und legte die Hände auf seine Beine. »Vater, du bist tüchtig«, sagte sie und sah ihm einschmeichelnd ins Gesicht. »Du kannst alles, du bist der Tüchtigste in der ganzen Welt.« Und nach einer kleinen Pause: »Wir beide sind gleich tüchtig, nich', Vater?«

»Na, willst du da hinaus?« rief Pelle aus. »Ich glaub', eines von uns beiden ist ein eingebildetes kleines Ding!«

»Ich nich'«, sagte die Kleine sehr bestimmt und schüttelte den Kopf.

»Ihr amüsiert euch wohl gut miteinander«, sagte Ellen, wenn sie mit Svend Trost auf dem Arm herunterkam, um Anna zu holen. Das Kind wollte nicht mit hinauf, es preßte sich in die Ecke hinter Pelles Stuhl und versteckte sich; und Svend Trost strampelte mit den Beinen, um auf den Fußboden zu kommen und mit den Leisten spielen zu können. »Ja, dann bleiben wir alle hier«, sagte Ellen und setzte sich nieder.

Sie sah still und resigniert aus, die Niederlage hatte sie mitgenommen. Sie sprach nicht mehr von der Zukunft, sondern freute sich nur, daß sie den Klauen des Wucherers entwischt waren; der Gedanke daran erfüllte sie mit einem stillen, ein wenig gedrückten Glück. Sie träumte von nichts Besserem mehr, ging nur umher und war dankbar; und Pelle war es, als stürbe etwas in ihr, zusammen mit der Unzufriedenheit. Es war, als habe sie endlich all das Ihre gegeben; die Übergabe an den grauen Alltag machte sie glanzlos und gewöhnlich. »Sie bedarf der Sonne«, dachte er.

Und dann wanderten die Gedanken wieder herum in ihrem Suchen nach einem Wege, der in die Zukunft hinausführte, ganz monoman, in derselben Spur, die sie Hunderte von Malen getreten waren. Er war nicht einmal recht mit dabei, sondern begriff nur, daß sie unentwegt auf dem Problem herumdroschen.

Innerhalb des Faches gab es keinen Ausweg; da war nur Platz für Ausbeuter und Ausgebeutete, und er eignete sich zu keinem von beiden. Aber wenn er andere Möglichkeiten in Erwägung zog, kehrten die Gedanken von selbst zu dem Dreibein zurück wie ein streifender Hund, der immer wiederkehrt und dieselbe Spur beschnüffelt. Da war etwas in ihm, das mit fatalistischem Eigensinn ihn mit seinem Fach solidarisch machte – trotz seiner Hoffnungslosigkeit: da hatte er seinen Einsatz gemacht, und da sollte die Frage gelöst werden. Hinter dem Fatalismus des kleinen Mannes liegt die Erkenntnis, daß auch in sein Leben ein Plan und eine Perspektive niedergelegt ist – das und das ist so, weil es so sein muß. Und diese Erkenntnis aufzugeben, hatte Pelle keinen Grund.

Er wurde ganz verwirrt davon, wie sich seine Gedanken beständig um dasselbe drehten, aber das ging so weiter, als sei er behext, fuhr sinnlos mit ihm herum, wenn er schlief, und packte ihn, sobald er erwachte. Da war ein alter Traum, der ihn in dieser Zeit hartnäckig verfolgte, eine jugendlich vergessene Idee aus seiner allerersten Teilnahme an der Bewegung, an der Erhebung, der Entwurf zu der Genossenschaftswerkstatt, die den Hofschuhmachermeister überflüssig machen sollte. Damals wurde der Plan als unmöglich beiseitegelegt, aber jetzt stürzte er sich wieder darüber und nahm ihn Glied für Glied durch. Er konnte sicher einige tüchtige und zuverlässige Fachgenossen finden, die die Gefahr der Arbeit und des Ertrages mit ihm teilen würden; und die Disziplin würde keine Schwierigkeiten verursachen, die Arbeiter hatten in den verstrichenen Jahren gelernt, sich ihren Parteigenossen unterzuordnen. Hier war ein Ausweg für den kleinen Mann, sich wieder innerhalb des Faches zur Geltung zu bringen und an der Entwicklung teilzunehmen; was einer nicht vermochte, gelang, wenn sich mehrere zusammenschlossen: die moderne Technik auszunutzen und die Arbeit zu leisten. Er richtete das Ganze sorgfältig ein, nahm es wieder und wieder von vorne durch, um sich zu vergewissern, daß jede Einzelheit Stich hielt. Wenn er schlief, träumte er von seiner Genossenschaftstätigkeit, und dann war sie eine Tatsache. Er stand in einem hellen Lokal und arbeitete zwischen lauter Kameraden, da war kein Herr und kein Diener, die Maschinen schnurrten, und die Kameraden sangen und pfiffen, während sie sie bedienten. Sie hatten eine kurze Arbeitszeit und glückliche Häuslichkeiten, die auf sie alle warteten.

Es war hart, zu erwachen, und die Wirklichkeit zu erkennen. Ach, die fleißigsten und tüchtigsten Hände aller Welt vermochten nichts in ihrem eigenen Fach – nicht einmal einen Stich vermochten sie zu nähen – ehe das Kapital sie in Gang setzte. Wenn das seine Zustimmung versagte, konnten sie nicht das geringste ausrichten, sondern waren auf der Stelle wie abgehauen.

Die Maschinen kosteten Geld. Pelle konnte es von Brun erhalten, der Alte hatte ihm oft genug Kapital angeboten, um irgend etwas anzufangen. Aber er schuldete ihm bereits Geld, und wenn nun das Kapital sein Unternehmen niederrannte? Es war auf seinem Posten und duldete dergleichen Wirksamkeiten nicht neben sich. Es war eine Unsicherheit über ihn gekommen, er hatte nicht den Mut, den Einsatz zu wagen.

Der alte Philosoph kam fast täglich, Pelle war ein Teil seines Lebens geworden, er sah mit Sorge den Zustand seines jungen Freundes. Hatten das Gefängnis – oder vielleicht die Bücher – diesen jungen Mann, der einstmals rücksichtslos drauflosging wie ein Sturmwetter, in einen Zauderer verwandelt, der keine Wahl treffen konnte? Die Persönlichkeit wurde von zweifelhaftem Wert, wenn sie auf Kosten der Tatkraft wuchs! Der Alte hatte gerade gehofft, daß sie eine größere Energie entfalten sollte, wenn sie in einen neuen und unberührten Erdboden verpflanzt wurde, und er kam mit allerlei Sticheleien, um Pelle aus seinem schlafartigen Zustand zu reißen.

Dann schüttelte sich Pelle ungeduldig. Von allen Seiten stichelten sie an ihm herum und wollten, daß er eine Wahl treffen sollte und er konnte seinen Weg nicht sehen! Ja, wohl lag er im Schlummer – er merkte es selbst recht gut. Er fühlte sich wie jemand, der dem allem entrückt war, und verlangte Ruhe – sein Wesen arbeitete für ihn da draußen im Ungewissen.

»Ich weiß ja nichts,« sagte er halb gereizt, »was kann es da nützen? Ich glaubte, die Bücher sollten mich irgendwo hinführen, von wo aus ich das Ganze sammeln könnte, aber nun bin ich nur ganz verwirrt worden. Ich bin zu klug geworden, um blindlings draufloszugehen, und nicht klug genug, um den Zapfen zu finden, um den sich das Ganze dreht. Einerlei, woran ich rühre, stets löst es sich in etwas für und etwas wider auf.« Er lachte verzweifelt.

Eines Tages gab ihm Brun ein Buch. »Das Werk hat viele befriedigt, die die Wahrheit suchten«, sagte er mit einem eigenen Lächeln. »Lassen Sie uns jetzt sehen, ob es auch Sie befriedigen kann.« Es war Darwins » Kampf ums Dasein«.

Pelle las wie in einem Nebel. Hier war ja der Punkt, das Ganze mächtig zusammengefaßt zu einem einzigen Satz. Es kochte in seinem Gehirn, er konnte das Buch nicht wieder hinlegen, sondern fuhr die ganze Nacht fort, darin zu lesen, verzaubert und entsetzt über die unbarmherzige Aussicht. Als Ellen verwundert mit dem Morgenkaffee herunterkam, war er mit dem Buch fertig; er antwortete nicht auf ihre freundlichen Vorwürfe, sondern goß schweigend den Kaffee herunter. Dann nahm er seinen Hut und ging hinaus in die öden, morgentrüben Straßen, um seinen heißen Kopf zu kühlen.

Es war noch sehr früh, die Arbeiter hatten noch nicht angefangen, auszurücken; in den Morgenwirtschaften war man im Begriff, die Läden wegzunehmen. Warmgekleidete Straßenbahnbeamte trampelten auf ihren holzsohligen Stiefeln durch die Straßen, unsaubere, verfrorene Frauen jagten in strauchelndem Lauf dahin zu ihrer frühen Beschäftigung, winselnd vor Kälte und Lebensüberdruß. Sie waren schon müde, ehe sie noch ihren Tag begonnen hatten. Hier und da arbeitete sich eine verspätete Frau über die Straße, einen Wäschekorb vor sich – eine Mutter, die ihr Kind nach der Krippe schleppte, ehe sie auf Arbeit ging.

Und plötzlich kam die Empörung über ihn, heftig fast wie ein Erstickungsanfall. Diese grauenhaft kalte Lehre von dem Recht des Stärkeren, die ihm die Wahl ließ, brutal zu werden oder zugrunde zu gehen – das also war der Schlüssel zum Verständnis des Lebens? Der fällte ja von vornherein das Todesurteil über seine Genossen – über die ganze endlose Welt des armen Mannes. Von hier aus gesehen, war der bestehende Zustand ja der einzige mögliche – er war ganz einfach ideal; der Aussauger und der Wucherer, die er haßte, standen in der allerharmonischsten Übereinstimmung mit dem Grundgesetz des Lebens! Und das Entsetzliche war, daß die Gesellschaftsordnung von diesem Gesichtspunkt aus hell beleuchtet dalag – das ließ sich nicht leugnen. Wer es am besten verstand, sich dem Bestehenden anzupassen, der siegte; gleichgültig, wie gemein das Bestehende war.

Das Buch warf mit einem Schlage ein blendendes Licht auf die Gesellschaftsordnung; aber wo blieben seine Parteigenossen in dieser Lehre, alle die Kleinen? Sie wurden wohl gar nicht mitgerechnet! Die menschliche Gesellschaft bestand also in Wirklichkeit nur aus den Besitzenden, und hier hatte er ihre Religion, die moralische Stütze für ihre rücksichtslose Ausnützung. Es war immer schwer gewesen, zu verstehen, wie die Menschen einander mißbrauchen konnten; aber hier war es ja eine heilige Pflicht, Steine statt Brot zu geben. Der große Kämpfer stand im Grunde dem heiligen Mutterherzen des Lebens am nächsten, er war ja ausersehen, die Entwicklung weiterzutragen.

Die Armen hatten keinen Anteil an dieser Lehre. Wenn da ein schlechter Arbeiter in einer Gruppe war, so drängten ihn die anderen nicht, daß er zugrunde gehen mußte – nicht einmal wenn er selbst an seinem Unvermögen schuld war. Sie nahmen ihn mit, legten Steine auf seine Schicht und halfen ihm weiter – die Armen ließen den Schwachen nicht fallen, sondern nahmen ihn unter die Schwingen. Sie setzten sich selbst über das Gesetz hinweg – und verzichteten auf jegliche Chancen. Mit einem verwundeten Kameraden auf dem Rücken, siegte man nicht im Weltlauf. Aber es lag hierin eine Erkenntnis, daß sie nicht mit zu dem Bestehenden gehörten, sondern recht hatten, ihre eigene Glückszeit zu fordern. Es mußte eine neue Zeit kommen, wo alles das, was erforderlich war, damit sie mit Anteil haben konnten – Herzensgüte und Solidarität –, ans Ruder gelangte. Der große Zusammenschluß selbst, an dessen Errichtung er sich beteiligt hatte, zeigte also doch nach der richtigen Seite hin. Es war das Gegenteil von »Einem gegen Alle« gewesen – auf dem Gegenseitigkeitsgesetz hatte es sich aufgebaut.

Ein armer Kerl war doch kein elender Wicht, der von der Entwicklung dazu verurteilt war, zugrunde zu gehen wie ein Phantast, der infolge eines leeren Magens Utopien erträumte. Pelle hatte seine Kindheit draußen in der Natur verlebt und sich mit der übrigen Schöpfung in allem möglichen Wetter herumgetummelt. Er hatte die kleinen Singvögel sich dem Habicht in ganzen Schwärmen entgegenwerfen sehen, wenn er einen von ihnen geraubt hatte – er hatte sie ihn verfolgen sehen, bis er verwirrt seine Beute freigab. Wenn er eine Ameise in einem gespalteten Strohhalm fing, stürzten sich die anderen Ameisen auf den Strohhalm und nagten den Kameraden frei; sie waren nicht zu verscheuchen. Schlug er nach ihnen, so spritzten sie ihr Gift nach seiner Hand und arbeiteten weiter. Ihre Tapferkeit ergötzte ihn, die Gifttropfen waren so winzig klein, daß er sie nicht sehen konnte; führte er aber die Hand an die Nase, so fing er einen säuerlich stechenden Geruch ein. Warum ließen sie den Kameraden nicht im Stich, sie, die ihrer so viele waren und es so eilig hatten? Sie hielten nicht einmal eine Mahlzeit ab, ehe sie ihn befreit hatten.

Der arme Mann mußte an dem Gedanken des Zusammenschlusses festhalten, er hatte diesmal den rechten Griff getan! Und nun auf einmal wußte Pelle, wo der Weg lag. Standen sie außerhalb des Bestehenden und seiner Gesetze, warum sich da ihre eigene Welt nicht nach den Gesetzen einrichten, die nun doch einmal ihre eigenen waren? Durch die Organisationen waren sie dazu erzogen, sich selbst regieren zu können, es war bald an der Zeit, daß sie ihr eigenes Dasein in die Hand nahmen.

Die jungen Aufrührer hielten sich frei von der Geldmacht, indem sie entbehrten, aber das war nicht der Weg; das Kapital predigte den Armen immer Genügsamkeit. Er wollte den anderen Weg einschlagen und die Produktion durch eine große umlaufende Bewegung erobern.

Jetzt war er nicht mehr bange, das Geld des Bibliothekars anzunehmen, es gab keinen Zweifel mehr in ihm. Er war leuchtend klar und sah in großen Zügen eine weltumspannende, friedliche Revolution, die alle bestehenden Werte auf den Kopf stellen sollte. Pelle wußte, daß die Armut von keinem Vaterland begrenzt ist; er hatte schon früher einmal eine unbezwingliche Idee zur Geltung gebracht. Seine Genossenschaftstätigkeit mußte der Ausgangspunkt für einen Weltkampf zwischen Arbeit und Kapital werden!


 << zurück weiter >>