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6. Der Wolf und die Hirten

Ein Wolf, erfüllt von Menschlichkeit,
(Wenn anders solche sind zu denken)
Begann, ob seiner Grausamkeit,
Die er gezwungen übt, nur aus Notwendigkeit,
Sich in Nachsinnen zu versenken.
»Ich bin« spricht er »gehaßt. Von wem? Von jedermann.
Den Wolf sieht stets als Feind man an:
Hund, Jäger, Bauer stehn vereint, ihn zu verderben.
Zeus droben ist betäubt ob ihres Wutgeschreis;
In England zwang man drum uns Wölfe anszusterben,
Man setzt' auf unsern Kopf 'nen Preis.
Kein Junker dort, der nicht alltäglich
Durch Aufruf fordert unsern Tod;
Kein kleiner Fratz, dem, wenn er kläglich
Zu schrein wagt, mit dem Wolf nicht gleich die Mutter droht.
Und all' dies, weil ein räudig Schaf,
'nen schäb'gen Esel ich, 'nen biss'gen Köter traf,
An denen meine Lust ich büßte.
Gut! Fressen nimmer wir, was je das Leben grüßte!
Speisen wir Laub und Gras, verhungernd lobesam!
Ist das 'ne gar so schlimme Sache?
Ist's besser, daß man sich verhaßt bei allen mache?«
Bei diesen Worten sieht er Hirten, die ein Lamm
Verzehren, das am Spieß gebraten.
»Ho!« rief er »Meine Missetaten
Am Lamm werf' ich mir vor, und seiner Hüter Schar,
Die Hund' auch essen's selber gar!
Ich sollt' mir ein Gewissen machen?
Ich, der Wolf? Nein, bei Gott, das wäre doch zum Lachen!
Das nächste Lämmchen pack' ich an –
Ich brauch's nicht an den Spieß zu stecken –
Und nicht nur dieses, die Mutter soll mir schmecken;
Zuletzt kommt auch der Vater dran!«
Der Wolf hat recht. Ist's wahr und kann man uns beweisen,
Daß all die Tiere wir verspeisen:
Wie wollen wir das Vieh zwingen, daß es nur speist
Wie im Zeitalter, das man uns als goldnes preist?
Soll's nichts für sie zu beißen geben?
Der Wolf hat unrecht – daß ihr's wißt –
Nur weil er nicht der Stärkre ist.
Wollt ihr, er soll als Klausner leben?


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