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Ernst Dohm, geboren am 24. Mai 1819 zu Breslau, hat »Philosophie und leider auch Theologie durchaus studiert mit heißem Bemühn« und zwölfmal von der Kanzel herab die Gläubigen in der Umgegend von Halle durch fromme Predigten erbaut. Daß das nicht eigentlich sein Beruf war, muß er schon frühzeitig bemerkt haben. Im Jahre 1848 trat er als Mitbegründer in die Redaktion des »Kladderadatsch« ein, und diesem Blatte hat er den größten Teil seiner schriftstellerischen Tätigkeit gewidmet.
»Dohm hat sich seine geistige und körperliche Frische in seltener Weise bewahrt. Seine Unempfänglichkeit gegen den Witterungswechsel erregt die staunende Bewunderung aller seiner Bekannten. Man sieht ihn im härtesten Winter mit demselben leichten Röckchen fröhlich daherwandeln, wie in den heißesten Tagen des Hochsommers, in der Hand immer dasselbe kleine Stöckchen, das das Jubiläum des ›Kladderadatsch‹ mitgefeiert hat und hoffentlich noch fernere Freudentage mitfeiern wird.
Dohm hat ein volles Anrecht auf einen Ehrenplatz unter den besten zeitgenössischen Dichtern. Mag er von dem einen oder andern in diesem oder jenem überflügelt werden, in bezug auf den Geschmack und die formale Vollendung steht keiner über ihm.«
Mit diesen Worten schloß ich einen Aufsatz über »Ernst Dohm und der Kladderadatsch«, den ich im Januar 1879 in »Nord und Süd« veröffentlichte.
Mein frommer Wunsch, daß dieser prächtige Mensch, der feinsinnige Dichter und bestrickend liebenswürdige Gesellschafter, uns noch lange erhalten bleibe, sollte leider nicht erfüllt werden. Im Winter 1882 auf 83 fühlte er sich zum erstenmal in seinem Leben von Nässe und Frost belästigt und schaffte sich den ersten Überzieher an. Um dieselbe Zeit kam ihm sein Stöckchen abhanden, das ihn dreißig Jahre auf Steg und Weg begleitet hatte, das er auch am Kneiptisch zwischen die Kniee klemmte, und auf dessen lederbesponnenen Bleiknopf er sich stützte und einnickte, wenn ihm die Unterhaltung seiner Nachbarn zu langweilig wurde. Das waren böse Vorboten. Bald darauf starb er, im Sommer 1883.
So geist- und geschmackvoll seine Dichtungen, in denen er die Ereignisse des Tages glossierte, auch waren, so hoch die von ihm als Satiriker geleistete Kulturarbeit auch eingeschätzt werden muß – sein größtes schriftstellerisches Können hat er doch als Nachdichter gezeigt, als virtuoser Meister der Übersetzungskunst. Und unter diesen Kunstwerken steht seine Übertragung der Lafontaineschen Fabeln obenan.
Über diese wahrhaft bewundernswerte Leistung, an der die Kritik, wie ich glaube, zu achtlos vorübergegangen ist, habe ich seiner Zeit – Januar 1877, gleich nach dem Erscheinen des Werkes – in der »Gegenwart« ausführlich gesprochen. Jetzt, da ich von befreundeter Seite aufgefordert werde, zur selben Sache noch einmal das Wort zu ergreifen – und ich folge dieser Einladung mit herzlicher Freude – kann ich heute, nach beinahe 37 Jahren nur wiederholen, was ich damals als Siebenunddreißiger gesagt habe:
Die Lafontaineschen Fabeln, die die kleinen Kinder in Frankreich schon auswendig lernen, wenn es mit dem Sprechen noch nicht recht gehen will, können nach ihrem vollen Werte erst von dem gereiften Mannesalter gewürdigt werden. Den behäbigen und gemütlichen Humor, die reizende Schalkhaftigkeit, den feinen Spott, die kecke Satire, die anständige und ehrliche Gesinnung, die tief poetische Anschauung, die wunderbare Leichtigkeit in der Form, das kühne Spiel mit den sprachlichen Schwierigkeiten, – alles mit einem Worte, was die Größe Lafontaines ausmacht und die Nachwelt dazu bestimmt hat, dem Dichter trotz der Bescheidenheit seiner Aufgabe eine erste Stelle einzuräumen, – alles das kann erst der gereifte Mann recht verstehen und wahrhaft bewundern.
Die Zeitgenossen des Fabeldichters nahmen noch Anstand, den gemütlichen und liebenswürdigen Herrn, – den » bonhomme«, wie sie ihn nannten, und wie er noch jetzt genannt wird – in einem Atem mit Molière, Racine und Boileau zu nennen, mit jenen Dichtern, die sich an die höchste Aufgabe ihrer Kunst gewagt, weil Lafontaine ja nur einem unansehnlichen Genre seine liebevolle Pflege zugewandt habe; die späteren Geschlechter aber haben diese Unterscheidung nicht mehr gelten lassen wollen, und der kühnste und scharfsinnigste der französischen Kritiker unserer Zeit, Sainte Beuve, hat das vermessene Wort ausgesprochen: »Unser wirklicher Homer, der Homer der Franzosen, wer sollte es glauben, ist wahr und wahrhaftig Lafontaine! Causeries du Lundi, 7. Band, III. Aufl., S.519.« Lafontaine ist für ihn der letzte und größte der alten französischen Dichter.
Viele der Lafontaineschen Fabeln, die, wie man weiß, selbst ihrer großen Mehrzahl nach freie Nachdichtungen der Fabeln des Äsop und des Phädrus sind, sind schon seit langen Jahren ins Deutsche übersetzt und im Deutschen nachgeahmt worden; Gellert, Gleim, Lichtwer, Pfeffel, sogar Heinrich von Kleist, und viele andere haben einige der wirksamsten dieser Fabeln herausgegriffen und mehr oder minder frei nachzubilden gesucht. Einige davon, wie »Johann, der muntre Seifensieder«, »Eine kleine Grille sang einen ganzen Sommer lang« haben es auch bei uns zu einer großen Popularität gebracht; aber gerade diese haben durch den Übergang aus dem Französischen ins Deutsche den Charakter des Originals nahezu vollständig eingebüßt; es sind deutsche Gedichte geworden, zu denen Lafontaine nur die Anregung und einige glückliche Wendungen gegeben hat. Ernst Dohm hat den Versuch gemacht, von den sämtlichen Lafontaineschen Fabeln eine gewissenhafte literarische Übersetzung zu geben; und dieses kühne Unternehmen ist trotz der unglaublichen Schwierigkeiten, die es zu bewältigen galt, in geradezu unübertrefflicher Weise gelungen.
Ernst Dohm zeigt sich hier als ein Sprach- und Verskünstler ersten Ranges. Da er von dem sehr richtigen Standpunkt ausgeht, daß bei Lafontaine die Form das Wesentliche ist, so hat er sich bemüht, in seiner Übertragung diese Form in der vollsten Strenge zu erhalten, und zwar so peinlich, daß sogar jede Verszeile der Übersetzung genau so viel Silben zählt wie die korrespondierende Verszeile des Originals; daß die Reime ihrer Stellung und ihrem Charakter nach, als männliche oder weibliche, in der Übertragung den Reimen des Originals durchaus entsprechen; daß alle Eigentümlichkeiten des Rhythmus sich in der Übersetzung da einstellen, wo sie in der Originaldichtung hervortreten; ja, daß sogar gewisse Willkürlichkeiten und Freiheiten in der Sprache des Originals den anklingenden Ausdruck in der Übersetzung gefunden haben. Wenn Lafontaine z. B. sich mit einem schwachen Reim behilft, so hat Dohm ebenfalls sorglos gereimt; ist bei Lafontaine die Form aber gewählt und streng, so weist auch die Übersetzung diesen Charakter auf.
Um die Feinheiten und die außerordentliche Sorgfalt dieser Arbeit ins rechte Licht zu setzen, müssen wir einige Stellen aus dem Originale und aus der Dohmschen Übertragung hier wiedergeben. Wir wollen gerade diejenigen nehmen, welche Laharpe, der in Lafontaine den unübertroffenen Meister der französischen Sprache bewundert, als Muster anführt Cours de littérature, Bd. 8.. Kein französischer Dichter hat in der Tat den Vers mit einer solchen Leichtigkeit behandelt, wie Lafontaine. »Die Eintönigkeit, die man unserer Dichtung vorwirft,« sagt Laharpe, »verschwindet bei ihm ganz und gar. Nur am Wohlklange, nur an der reizvollen Harmonie, die mit dem Empfinden und dem Gedanken stets im Einklange ist, merkt man, daß er Verse schreibt. Er schaltet und waltet mit einer solchen Freiheit in den Reimen, daß die Wiederkehr nur ein Schmuck zu sein scheint, aber keine Notwendigkeit. Niemand hat wie er es verstanden, den Versen einen eigentümlichen Rhythmus zu geben; keiner hat mit der Cäsur eine solche Wirkung erzielt wie er. Die reizvollste Willkür herrscht in seiner ganzen Versifikation. Bei diesem Manne, der die Wahrheit über alles liebte und die Lüge über alles haßte, haben alle Empfindungen, alle Ideen den Akzent, der ihnen gebührt. Man darf sich auch nicht darüber wundern, daß ein Schriftsteller wie er, für den die Dichtung ein so gefügiges Werkzeug war, zu gleicher Zeit ein großer Maler sein mußte. Er versteht es, wahr und wahrhaftig mit dem Worte zu malen.« Hier ein Beispiel: Der Kampf zwischen der Mücke und dem Löwen.
Le quadrupède écume, et son œil étincelle;
Il rugit: on se cache, on tremble à l'environ,
Et cette alarme universelle
Est l'ouvrage d'un moucheron.
Un avorton de mouche en cent lieux le harcelle;
Tantôt pique l'échine, et tantôt le museau,
Tantôt entre au fond du naseau.
La rage alors se trouve à son faîte montée.
L'invisible ennemi triomphe et rit de voir,
Qu'il n'est griffe ni dent en la bête irritée
Qui de la mettre en sang ne fasse son devoir.
Le malheureux lion se déchire lui-même,
Fait résonner sa queue à la l'entour de ses flancs,
Bat l'air qui n'en peut mais; et sa fureur extrême
Le fatigue, l'abat: le voilà sur les dents.
Die Übersetzung von Ernst Dohm lautet:
Er schäumt, und Funken sprüht das Aug' des wilden Recken:
Er brüllt, und rings umher erzittert Tal und Berg;
Und dieser allgemeine Schrecken
Ist einer kleinen Mücke Werk.
An hundert Stellen sucht das Mücklein ihn zu necken:
Bald sticht's am Rücken ihn, bald macht's am Maul ihm Pein,
Bald kriecht's ihm in die Nas' hinein.
Nun hat des Löwen Wut erreicht den höchsten Gipfel;
Der unsichtbare Feind, wie triumphiert er jetzt,
Da Klaue nicht noch Zahn, kurz, nicht der kleinste Zipfel
Des schmerzgequälten Tiers mehr heil und unverletzt!
Der arme Leu zerfleischt sich selber, an die Weichen
Schlägt er den mächt'gen Schweif, er schlägt in kind'schem Sinn
Selbst die unschuld'ge Luft. Dies Wüten ohnegleichen
Erschöpft ihn, macht ihn matt, und bald ist er ganz hin!
Man vergleiche aufmerksam diese Übersetzung mit dem Original, und man wird schon hier die Bestätigung des vorher Gesagten finden: wie tatsächlich Silbe für Silbe übersetzt ist, ohne daß dadurch der Sprache der Übersetzung irgendwie Gewalt angetan wäre. Ein anderes, ein anmutigeres Bild:
Pérette, sur sa tête ayant un pot au lait,
Bien posé sur un coussinet,
Prétendait arriver sans encombre à la ville.
Légère et court vêtue, elle allait à grands pas,
Ayant mis ce jour-là, pour être plus agile,
Cotillon simple et souliers plats.
Diese Fabel gehört zu denen, die Gleim übersetzt, oder vielmehr, so gut er es vermocht, nachzudichten versucht hat. Bei ihm fängt die Geschichte so an:
Auf leichten Füßen lief ein artig Bauernweib,
Geliebt von ihrem Mann, gesund an Seel' und Leib,
Frühmorgens nach der Stadt und trug auf ihrem Kopfe
Vier Stübchen süße Milch in einem großen Topfe.
So geht's weiter; immer dieselbe biedere Schwatzhaftigkeit, dieselbe hausbackene Reimschmiederei. Bei Dohm heißt es:
Vorsichtig trug Perette 'nen milchgefüllten Topf
Auf einem Kissen auf dem Kopf;
Sie hofft ohn' Hindernis glücklich zur Stadt zu eilen.
Ganz leicht und kurz geschürzt, geht schnellen Schritts sie zu.
An Kleidung trug sie heut, um sich nicht zu verweilen,
Nur einen Rock und flache Schuh.
Auch hier hat Dohm streng am Original festgehalten und den Charakter des Urtextes mit merkwürdiger Treue in seiner deutschen Nachbildung zu erhalten verstanden. Es ist dieselbe Korrektheit und Knappheit im Ausdruck, die nämliche Bequemlichkeit im Reimen; es ist kein Flickwort da, kein überflüssiges Detail, das lediglich dem Bedürfnis, zu einem vorhandenen Worte ein anklingendes Wort zu finden, sein Dasein verdankt. Aus diesem Reimbedürfnis beschenkt Gleim die Milchfrau mit den schönsten Gaben, mit dem Familienglück und der Gesundheit »an Seele und Leib«, – was sicherlich für die Geschichte vom Milchtopf, der durch einen unvorsichtigen Sprung der jungen Frau vom Kopfe gleitet und zerbricht, von äußerstem Belang ist. Und wie mühsam schleppt sich der langweilige Alexandriner bei Gleim dahin, wie leichtfüßig hüpft er bei Dohm daher!
Wenn Lafontaine in seinen Versen dieses Mühselige und Schwerfällige beabsichtigt, so weiß Dohm dies mit derselben Gewandtheit unserer Sprache wiederzugeben. Da ist z. B. die Fabel von der Kutsche und der Fliege, die in langsamen, trägen Versen im Original also anhebt:
Dans un chemin montant, sablonneux, malaisé,
Et de tous les côtés au soleil exposé,
Six forts chevaux tiraient un coche.
Femme, moine, vieillard, tout était descendu;
L'equipage suait, soufflait, était rendu.
Ebenso saumselig und ermattet lauten die Verse in der Dohmschen Übersetzung:
Auf steilem Weg, bergan, zogen durch tiefen Sand
Sechs starke Gäule bei der Sonne glüh'ndem Brand
'ne Landkutsche mit viel Beschwerden.
Weib, Mönch und Greis stieg aus an diesem schwier'gen Ort.
Das schwitzende Gespann kam keuchend kaum noch fort.
Lafontaine hat, wie man bemerkt haben wird, sich in seinen Versen in diskreter Weise der Klangmalerei bedient und mit den Hauptverben » suait, soufflait« die Alliteration angewandt. Der Sorgsamkeit des Übersetzers ist diese Einzelheit nicht entgangen, und wie Lafontaine, so alliteriert auch er in der Übersetzung: »schwier'ge«, »schwitzende«; »kam, keuchend kaum«. Man halte das nicht für einen Zufall, es ist eine wohlbeabsichtigte künstlerische Intention des Übersetzers, der selbst für die geringfügigen Äußerlichkeiten der französischen Dichtung bei seiner deutschen Umdichtung immer nach einem Ersatze gesucht – und ihn auch gefunden hat.
Am bewundernswertesten ist die Kunst, mit der Dohm den steifbeinigen Alexandriner behandelt. Dieser hartmäulige Gaul, der alle sechs Schritt vor der Cäsur stehen bleibt und bockt, galoppiert und trabt hier fröhlich daher, ganz nach dem Gefallen des kundigen Reiters. Gerade wie Lafontaine versteht es der Übersetzer die metrische Cäsur durch das Sinnliche zu verdecken, und in den Vers einen ganz unerwarteten Rhythmus, eine lebhafte Bewegung hineinzubringen. Die Moral der Fabel vom Müller, seinem Sohn und dem Esel heißt bei Lafontaine:
Quant à vous, suivez Mars, ou l'Amour, ou le prince,
Allez, venez, courez, demeurez en province:
Prenez femme, abbaye, emploi, gouvernement:
Les gens en parleront, n'en doutez nullement.
Dohm übersetzt:
Du – geh' zu Hofe, schwör' zu Mars', zu Amors Fahnen,
Steh, lauf, bleib hier, zieh' dich zurück ins Schloß der Ahnen,
Werd' Geistlicher, Soldat, Rat, nimm ein Weib, nimm keins:
Dem Klatsch der Welt verfällst du doch – 's ist alles eins!
Wenn man diese Verse laut liest, wird man kaum gewahr, daß es Alexandriner sind, so geschickt hat Dohm die langweilige Cäsur durch den Sinn zu beseitigen verstanden.
Diese Beispiele – es sind im Verhältnis zu dem großen und umfangreichen Werke nur sehr wenige – müssen uns zur Charakterisierung der Dohmschen Übersetzung genügen. Sie sind aber auch wohl ausreichend, um das Verdienstliche dieser zwar sehr beschwerlichen, aber auch sehr lohnenden Arbeit zu zeigen. Überall, wo wir die Probe gemacht, haben wir den Übersetzer als sprachkundigen, einsichtigen, feinfühligen und mit einer seltenen Formgewandtheit ausgestatteten Dichter bewährt gefunden, der jedesmal mit dem ersten Schlage sicher den Nagel auf den Kopf trifft. Für die ruhige, gemessene Schilderung, wie für die dramatische Lebendigkeit des Dialogs, für den harmlosen Scherz, der bisweilen bis zur Posse sich herabläßt, wie für den ergreifenden Ernst, der sich unter Umständen zur Großartigkeit zu erheben weiß, – für alle Töne, die der französische Dichter anschlägt, hat Dohm die entsprechenden Laute, oder zum mindesten die Anklänge in unserer Muttersprache gefunden. Zu den Meistern der deutschen Übersetzungskunst, zu unseren Schlegel und Tieck, Rückert, Freiligrath, Geibel und Baudissin, Heyse, Gildemeister, Bodenstedt und Wilbrandt ist ein neuer hinzugetreten: Ernst Dohm, der mit dieser schönen Arbeit in die Reihen jener hochverdienten Männer gerückt ist, die den Ruhm beanspruchen dürfen, durch ihre vollgültigen Übersetzungen große Dichter der Fremde bei uns heimisch gemacht zu haben. Lafontaine sollte trotz seines spezifischen Franzosentums uns jetzt kein Fremder mehr sein. Dohm hat ihm das Ehrenbürgerrecht in Deutschland erwirkt.
Das war der Schlußsatz meiner Besprechung in der »Gegenwart«, Januar 1877.
Es mag wundersam berühren, fast unerklärlich erscheinen, daß erst nach nahezu vier Jahrzehnten dem ersten Erscheinen des Werkes diese neue Ausgabe folgt. Und doch läßt es sich erklären. Die erste Ausgabe im Verlage der Möserschen Hofbuchhandlung (vom Jahre 1877) war ein Prachtband in Groß-Folio Die Prachtausgabe ist im Buchhandel noch zu haben. Mit freundlicher Erlaubnis der Firma W. Möser, der auch hier gedankt sei, erscheint jetzt diese Volksausgabe. mit massenhaften riesigen Zeichnungen von Gustave Doré, eines jener Bücher für den Prunktisch im Salon, die manchmal besehen und eigentlich nie gelesen werden. Die Illustrationen von Doré waren eben die Hauptsache und Lafontaines Fabeln zum verbindenden Text herabgedrückt, den man als unvermeidliche Beilage mit in den Kauf nehmen mußte. Schon rein äußerlich – durch die opulente Ausstattung in Druck, Papier und Einband – verriet es seine löbliche Bestimmung: als Festgeschenk.
Danach mußte natürlich auch der Preis bemessen werden, der für die Hausbibliothek, für das größere lesende Publikum viel zu hoch war. Unter diesem Glanz des Äußerlichen vermutete man nicht ein Werk von innerem literarischen Wert, nicht diese entzückend schlichte Dichtung. So darf man denn getrost behaupten, daß die Dohmsche Übersetzung der Fabeln Lafontaines bis zur Stunde eigentlich noch gar nicht erschienen und deshalb in Deutschland so gut wie unbekannt geblieben ist.
Nun erst, ihres prunkhaften Aufputzes entkleidet, bietet sie sich uns dar als das, was sie ist: in ihrer natürlichen Einfachheit und anspruchslosen Anmut. Da können wir zwanglos mit ihr verkehren, sie näher kennen lernen und liebgewinnen.
Sollte es gelingen, dem deutschen Nachdichter – und mit ihm auch dem französischen Dichter – bei uns zu ihrem Rechte zu verhelfen, so käme diese von den Töchtern Ernst Dohms veranstaltete Volksausgabe, wenn auch spät, doch nicht zu spät.
Im Hochsommer 1913