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18. Der Greis und seine Kinder

Der Stärkst' ist schwach für sich, nur Einigkeit gibt Stärke;
Der Sklav' aus Phrygien lehrt's in einem seiner Werke.
Füg' ich noch Eigenes hinzu dem, was er schrieb,
Ist's, daß Beziehung man auf unsre Sitten merke,
Und nicht aus Neid, da stets mir fern der Ehrgeiz blieb.
Aus Ruhmsucht übertreibt oft Phädrus im Gedichte;
Fiel' mir dergleichen ein, tät' ich mir selber leid.
Doch nun zur Fabel, nein, vielmehr zu der Geschichte
Von dem, der seine Söhn' ermahnt zur Einigkeit.

Ein Greis, bereit zu gehn, sobald der Tod ihm winkt,
Rief seine Söhn' und sprach: »Seht, wenn es euch gelingt,
Die Pfeile, die ihr hier vereint im Bündel findet,
Zu brechen, zeig' ich euch den Knoten, der sie bindet.
Der Ältste nahm sie, doch wie sehr er sich auch quält,
Umsonst war sein Bemühen; er sagt: »'nen Stärkern wählt!«
Ein zweiter folgt ihm nach, doch gleich verfehlten Strebens;
Ein jüngerer versucht sein Glück, und auch vergebens.
Sie quälten sich umsonst: das Bündel widerstand,
Und nicht ein einz'ger Pfeil zerbrach in dem Verband.
»Ich will euch zeigen« sprach der Vater jetzt »ihr Schwachen,
Wie ich's in solchem Fall imstande bin zu machen!«
Man glaubt, er spotte nur, und lächelt, doch zu früh:
Er löst die Pfeil', und er zerbricht sie ohne Müh'.
»Da seht ihr« fuhr er fort »was Eintracht bringt zustande.
Bleibt, Kinder, stets vereint durch treuer Liebe Bande!«
Solang' die Krankheit währt, sprach er nichts andres mehr.
Zuletzt nun, wie er fühlt, daß nah fein Ende wär':
»Kinder« sagt er »ich geh' zu meinen Vätern eben;
Fahrt wohl! Versprecht mir nur, als Brüder stets zu leben.
Tut mir nur dies zulieb, eh' es mit mir vorbei!«
In Tränen gaben drauf ihr Wort ihm alle drei;
Er faßt sie bei der Hand und stirbt. Die drei erhalten
Ein groß Vermögen nun, doch schwierig zu verwalten.
Ein Gläub'ger legt Beschlag, ein böser Nachbar klagt;
Anfangs stehn fest die drei mit Glück und unverzagt.
Die seltne Freundschaft hat nicht lange vorgehalten:
Das Blut hat sie vereint, der Eigennutz gespalten;
Der Ehrgeiz und der Neid, der Advokaten List
Und schlechter Rat kam noch dazu in kurzer Frist.
Zur Teilung kommt's, zu Klag' und Rechtsspitzfindigkeiten
Und hundert Strafen vom Gericht nach allen Seiten.
Nachbarn und Gläubiger sind schleunigst wieder da,
Der, weil ein Irrtum, Der, weil Unbill ihm geschah.
Das Kleeblatt kann, entzweit, keinen Entschluß nun fassen:
Der möcht' sich ein'gen, Der mag sich auf nichts einlassen.
Zu spät, da alles fort, hätten sie gern gewollt,
Was sie der Pfeile Bund und Trennung lehren sollt'.


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