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15. Die Wahrsagerinnen

Oft hat der Zufall an des Volkes Meinung Teil,
Und den Erfolg bestimmt die öffentliche Meinung.
Man trifft die traurige Erscheinung
In jedem Rang und Stand: überall Vorurteil,
Kabal' und Eigensinn, fast nie Recht und Gewissen.
Es ist ein Strom. Was tun? Man laß ihm seinen Lauf!
So war's, und so hört's nimmer auf.

Ein Weib war in Paris, des Wahrsagens beflissen.
Jeder besuchte sie und ging um Rat sie an:
Verlor 'nen Lumpen, hatt' einen Liebhaber man,
Der Gatte, der sein Weib liebt gar zu treu und tüchtig,
Die böse Mutter wie die Frau, die eifersüchtig –
Alles lief zur Wahrsagerin,
Hören wollt' jeder was nach seinem Wunsch und Sinn.
Durch schlaue List lockt sie die meisten:
Ein paar Kunstausdrücke, ein keck und frech Erdreisten,
Ein günst'ger Zufall oft – dies reichte füglich hin,
Und alles schrie: »Welch ein Mirakel!«
Unwissend wie sie war, ihr Hirn ein leeres Fach,
Galt sie doch bald für ein Orakel.
Die Pythia bewohnt' ein Stübchen auf dem Dach;
Dort füllt aus dieser einz'gen Quelle
Das Weib in allergrößter Schnelle
So ihren Beutel, daß ein Amt sie ihrem Mann
Und sich ein stattlich Haus dafür erstehen kann.
In das Dachstübchen zog sodann
'ne andre Mieterin, zu der in Hüll' und Fülle
Frau'n, Mädchen, Diener, Herrn, jung, alt, kurz alles kam
Und ihre Künste, wie vordem, in Anspruch nahm;
Das kleine Stübchen war die Höhle der Sibylle.
Das vor'ge Weib hatte den Ort in Ruf gebracht.
Die jetz'ge mochte tun und reden, was sie wollte:
»Wahrsagen, ich? Ihr spaßt! Als wenn ich lesen sollte!
Ich lernte nur, wie vorm Herrgott ein Kreuz man macht!«
Alles umsonst: sie mußt' wahrsagen, und es rollte –
Zwar mocht' sie's nicht – manch Goldstücklein
Ihr zu; mehr nahm sie als zwei Advokaten ein.
Der ganze Hausrat kam der Sache sehr zu statten:
Vier lahme Sessel und ein alter Besenstiel
Erschienen unheimlich geheimnisvolle Schatten.
Hätte dies Weib auch noch so viel
Wahres gesagt in schmuckem Zimmer,
Man hätte sie verlacht: zum Dachstübchen ging immer
Der Zug, es hatte sich in Gunst gesetzt.
Die andre hat das Nachsehn jetzt.

Das Aushängschild nur schafft die Kunden.
Manch schlechter Redner ward als Meister schon befunden
Vom Volk; in reich bezahlten Stunden
Hat er ein großes Auditorium
Um sich versammelt. Fragt mich 'mal, warum!


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