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21. Das Auge des Herrn

Ein Hirsch sucht Zuflucht einst in einem Ochsenstall;
Anfangs rieten die Tier ihm all',
Nach beßrer Freistatt zu entweichen.
»Verratet mich nur nicht, ihr meine Brüder!« sprach
Der Hirsch »ich weis' euch auch die fettsten Weiden nach;
Der Dienst kann eines Tags zum Nutzen euch gereichen
Und tut gewiß euch nimmer leid.«
Das Rindvieh schwur zuletzt ihm auch Verschwiegenheit.
Im Winkel tief versteckt atmet er auf ganz heiter.
Der Abend kommt; man bringt die frischen Futterkräuter,
Wie man dem Vieh sie täglich gab.
Hundertmal geht das Dienstvolk auf und ab,
Der Meier selbst, und keinem von den allen
Ist das Geweih nur aufgefallen,
Noch auch der Hirsch. Das Kind der Wälder hält
Schon seinen Dank bereit; er will im Stall noch weilen,
Bis er, wenn irgendwer heimkehrt vom Ackerfeld,
Den günst'gen Augenblick erhascht, davon zu eilen.
Ein Wiederkäuer sagt zu ihm: »Bis jetzt ging's gut;
Doch noch hielt Mustrung nicht der Mann mit hundert Augen,
Sein Kommen wird dir wenig taugen!
Bis dahin, armer Hirsch, sei nur auf deiner Hut.«
Jetzt kommt der Herr, den Stall beginnt er abzuschreiten:
»Was ist das?« sagt er seinen Leuten
»Zu wenig Futter seh ich in den Raufen all'!
Und hier die Streu ist alt – schnell, frische in den Stall!
Ich will, in Zukunft soll besser das Vieh gepflegt sein!
Und diese Spinnen hier, müssen denn die gehegt sein?
Warum sind all die Kummt' und Ketten in Verfall?«
Wie er nach allem schaut, sieht auch ein Haupt er ragen,
Ein andres als sich sonst wohl hier erblicken ließ.
Nun ist der Hirsch entdeckt – Jeder holt sich 'nen Spieß;
Er wird zerstochen und zerschlagen,
Nicht Tränen retteten das arme Tier vom Tod.
Man salzt ihn ein, man macht aus ihm manch Mittagbrot,
Dran manche Nachbarn sich erquicken.

Sehr fein sagt Phädrus: »Nur des Herren Aug' genügt,
Um recht zu sehn und scharf zu blicken.«
Ich hätte noch das Aug' der Lieb' hinzugefügt.


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