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Im Glyzinen-Tempel

Die Frühsonne flog höher ins Land. Über den Maimorgenstraßen in Tokio stand der Himmel wie ein blauer Papierschirm mit rundem Rand,
Und Menschen, Häuser, Tempel, Gärten darauf gemalt, wie auf eine Goldpapierwand. Wie silberne Fächer schlugen sich Straßen auf,
Und ein Tempelgarten voll blühender Glyzinen war da, wie ein Haus voll lila Seidengemächer. Tokio-Damen und -Herren sich hier in früher Morgenstunde neben mir drängen,
Zwischen den Porzellanbuden und Bilderverkäufern, unter dem roten Tempeltor hinein in den Garten, wo die Glyzinenmassen senkrecht über den Köpfen der Leute hängen,
Wie lila Gardinen vom Himmel über den Garten herabgelassen. Eine tonnenrunde Brücke führt über einen Tempelteich, und alle Holzschuhe trippeln mit Dröhnen über den Brückenbogen,
Und alle Augen suchen das Spiegelbild der Glyzinen im Wasserreich. Alle Männer werden von den lila Blütenmienen wie von seidnen Frauen angezogen,
Und alle Frauen lassen sich von den Blicken der Männer und von den Blicken der Blüten verwöhnen.
Statt der alten Götter hüten heutzutage die Mönche hier die guten Geister der schönen Glyzinen. Die Mönche wurden Gärtnermeister.
Und die Blüten teilen aus unter die Beschauenden die Gnaden sanfter Frühlingsmienen. Die Holzgrimassen der alten Götter im Tempelhaus drinnen
Verstauben vor ihnen, vor den Liebesgöttern der Glyzinenblüten, die, statt bekleistert mit Lack und statt vom tauben Goldschaum umgeistert,
Voll warmer Maisonne dasaßen und den blauen Gartenraum belauben. Unter den lila Blütenzelten gehen die Menschenherzen hier zwischen zwei Welten;
Mit den Holzschuhen an den Beinen am Boden über den grauen Kieselsteinen und mit den gehobenen Blicken
In den festlichen Hochzeitsfreuden der lila Blütentrauben. Und die Menschengedanken mehr dort als nur die bloßen Blumen erblicken,
Weil diese großen, schwanken, verliebten Blütenranken jeden Glücklosen glücklich zu seiner Geliebten schicken.

 


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