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In den Münchner Verhandlungen des Feme-Ausschusses hat ein Abgeordneter der Deutschen Volkspartei namens Mittelmann den General Epp, der mit den Händen in den Hosentaschen vor den Zeugentisch trat, einen Flegel geheißen. Doch als am nächsten Tag der Herr General erklärte, er habe mit seiner lockern Attitüde nicht Alle treffen wollen und wisse überhaupt seine Leute wohl zu unterscheiden, da schwoll der wilde Mittelmann wieder ab und war zufrieden. Dieser Mittelmann ist Symbol für den ganzen Feme-Ausschuß, der mit Liktorenmiene gen München zog und mit einer Entschuldigung, die bayrischen Justizherren unbegründet verdächtigt zu haben, wieder abwanderte. Dieser Mittelmann ist das Symbol für unsern ganzen Parlamentarismus mit seinen kurzen Aufschwüngen und dem langen Versacken. Mittelmann, was für ein coulanter, Gegensätze streichelnd ausgleichender Name! Dieser eine Mittelmann sitzt bei den Nationalliberalen. Die andern Mittelmänner sitzen überall.
Unbegreiflich wie die Hohenzollern-Vorlage selbst ist die Art ihrer Durchpeitschung im Landtag gewesen. Das größte Rätsel geben die Sozialdemokraten auf. Warum, so fragt man, mußte die Fraktion, nachdem sie den Entschluß gefaßt hatte, sich durch Stimmenthaltung aus der Feuerlinie zu drücken, sich dann doch noch so weit exponieren, daß sie fast ganz allein die moralischen und materiellen Unkosten der Prügelei mit den Kommunisten trug? Daß die Sozialisten für die Hohenzollern gern zahlen, wissen wir seit Südekum – aber müssen sie auch noch für die Hohenzollern dreschen? Das wäre doch Sache der Demokraten gewesen, die durch ihren Höpker-Aschoff der Vorlage am nächsten verwandt sind, und von diesen haben sogar zwei, die Herren Greßler und Hermann, dagegen gestimmt. Was die Obstruktion der Kommunisten angeht, so war sie tausendmal berechtigt, nur schrecklich talentlos gemacht. Das hätte doch ein Volksfest sein müssen, mit klirrenden Schellen und sausenden Pritschen! Statt dessen ist den Kommunisten gelungen, daß man überall von den Unanständigkeiten der Opposition spricht und darüber ganz die Schamlosigkeit der kompakten Mehrheit vergißt. Das ist ein trauriger Erfolg bei so viel in die Ellenbogen gefahrener Gesinnung. Trotzdem können die Kommunisten zufrieden sein: sie sind gerächt, und zwar von einer Seite, von der sie es nicht erwarten konnten. Nämlich während die republikanischen Parteien grade für die Hohenzollern angetreten waren, gab die Fraktion der Deutschen Volkspartei ein Bulletin heraus, daß sie die Verhandlungen über die Erweiterung der Regierung »nach dem bisherigen Verhalten der Regierung und der Regierungsparteien« als abgebrochen ansehen müsse. Das ist des Teufels Dank! Da war tagelang der redliche Heilmann am Werk gewesen, die letzten Hemmungen zu beseitigen. Grzesinski wurde von Otto Braun zunächst nicht recht goutiert. Der Ministerpräsident war, wie die Mehrheit der Fraktion, für Leinert. Erst als Heilmann, auf sein Gewissen, sozusagen, versicherte, daß auch Grzesinskis Ernennung zum Innenminister die Große Koalition nicht mehr gefährden könne, sagte Braun sauer Ja. Die sozialdemokratische Führerschaft hatte einen sehr weitgehenden Plan. Um die Große Koalition für die Massen der Partei schmackhafter zu machen, wollte man Geßler über die Klinge springen lassen und durch Severing ersetzen, was kein schlechter Tausch wäre, vielleicht ... Aber die stupenden Taktiker unterschätzen doch die Stresemann-Partei. Die unfreundliche Absage im Augenblick der höchsten Dienstfertigkeit, das ist ein netter Vorgeschmack. Eines sollte die Sozialdemokratie endlich gelernt haben: Die von der andern Seite verkaufen sich nicht so billig. Für einen Severing im Reich wird die Deutsche Volkspartei schon ein ansehnliches Stück Preußen verlangen.
Eine lange Regierungskrise in der Tschechoslowakei hat jetzt die Lösung gefunden, die lange in der Luft lag: das neue Kabinett Svehla stützt sich auf eine deutsch-tschechische Koalition. Damit ist die Streitaxt selbstverständlich nicht begraben, denn von den beiden kämpfenden Nationalitäten haben sich vorerst nur die Agrarier gefunden. Dennoch ist das Beispiel klärend, deshalb nützlich, weil es unzweideutig beweist, wie wenig tief die Wurzel solcher in den äußern Formen so rigoros geführten nationalen Zwistigkeiten sitzt. Grade in Masaryks Reich zeichnete sich die tschechische Mehrheit durch einen besonders schneidenden Ton aus, während der rechte Flügel der deutschen Opposition, der jetzt den Weg in die Burg gefunden hat, unentwegt an seiner schon im alten Österreich oft erprobten Bornierheit festhielt. Wahrscheinlich werden die im Stich gelassenen Linksgruppen beider Lager jetzt furchtbar über die Charakterlosigkeit der neuen Alliierten zetern. Besser wäre, sie lernten daraus und machten es ebenso. Stärker als der Kampf der Rassen in einem Staat ist der Zwang der Interessen. Bei den tschechischen Regierungsdeutschen hat der bürgerliche Glaube den nationalen überwunden.
Episode aus dem Prozeß gegen den Deutschen Volksbund in Kattowitz: es wird ein Brief des ›Bayrischen Landesschützen-Verbandes‹ an den deutschen Sejm-Abgeordneten Ulitz verlesen, worin der Vorschlag gemacht wird, doch mit bayrischer Hilfe einen kleinen Bandenkrieg in Polnisch-Oberschlesien zu organisieren. Der Abgeordnete Ulitz war klug genug, das schroff zurückzuweisen, die polnische Anklagebehörde anständig genug, den Punkt fallen zu lassen. Wir brauchen kein Wort zu verlieren über die Münchner Dorfpolitiker, deren verbrecherische Dummheit namenloses Elend über polnische Staatsbürger deutscher Zunge hätte bringen können. Wir fragen aber, ob sich das Auswärtige Amt nicht ein wenig mit jenen Verbänden beschäftigen möchte, deren Zweck ist, irredentische Bewegungen zu schüren, und wie dieser Tatendrang am besten gezügelt werden könnte. Gewiß darf man die Münchner Mützenjäger nicht allzu ernst nehmen; aber daß es sich hier um Narren handelt, braucht man außerhalb der deutschen Grenzen nicht zu wissen. Und wenn wirklich einmal irgendwo ein Gewehr losgehen sollte, dann ist die Wilhelm-Straße an der Reihe, den Schaden gutzumachen, die Entschuldigungszettel zu schreiben und die Weisung an die Presse zu geben: Um Gottes willen, kein Wort davon sagen!
Der Parteikongreß der französischen Radikalen hat nicht den erwarteten Krach gebracht, sondern mit einem Kompromiß geendet: heftige Deklamationen gegen den bloc national, aber Fortsetzung des Zusammenregierens mit ihm unter Poincarés Zepter. Herriot, der Führer, wird durch den Senator Maurice Sarraut ersetzt werden. Einziges Plus: der Austritt Franklin Bouillons, eines kleinen Ehrgeizlings, der eine scharfe anti-sozialistische Politik forderte und gründlich abfiel. Im übrigen wurde laut und oft gesagt, daß die Zukunft dem Linkskartell trotz alledem gehöre. Mag sein. Die Gegenwart gehört ihm jedenfalls nicht, denn grade in diesen Tagen ist der lebhafteste Befürworter der Kartell-Erneuerung unter den Sozialisten, Jean Renaudel, aus dem ›Quotidien‹, dem Sammelorgan der Linken, geschieden. Tatsächlich bedeutet der Rücktritt Herriots von seinem Amt als Parteichef den sichtbaren Abschluß des Blocks der Mai-Sieger. Törichterweise bemühen sich die Sozialisten, Herriot auch in Lyon wegzutrommeln. Das ist nicht nur unpolitisch, sondern auch ungerecht, denn der Maire Herriot war immer größer als der Parteiführer und Minister. Hier in Lyon war er ein Stadtvater im freundlichsten Sinne des Wortes, ein moderner Kommunalpolitiker, ein Mann der sozialen Gerechtigkeit, wie wir in Deutschland keinen haben. Wären die französischen Sozialisten von heute nicht kleine Mandateheimser und rot überklebte Pharisäer: sie würden den Bürger Herriot an Lyon zu binden trachten, anstatt ihn dort stürzen zu wollen, wo er sich am schönsten bewährt hat.
Der alte Asquith ist von seinem Amt als liberaler Parteiführer zurückgetreten, und die persönlichen Huldigungen für diesen verdienten Veteran bringen mit sich, daß dabei auch von seiner Partei gesprochen wird, um die es sonst so friedhofstill geworden ist. Die große Karriere des jetzigen Lord Oxford begann Ende der achtziger Jahre, als er nach einem gewaltigen Dockarbeiterstreik den damaligen Arbeiterführer John Burns verteidigte und in seinem Plaidoyer mit mutigem Hohn englische Bürgerangst vor rebellierendem Proletariat glossierte. Seine letzte Leistung dagegen war ein peinlich philiströser Bannfluch wider die streikenden Bergarbeiter. Zwei Stationen, nicht aus dem persönlichen Schicksal des Führers, sondern aus dem der Partei. Aus dem einstigen durch beißenden Sarkasmus berühmten Abgeordneten und Anwalt Asquith ist immer mehr ein entzückend ironischer alter Herr geworden, von hohem persönlichen Zauber auf Freunde und Gegner – von dem allerdings die Bergarbeiter nichts erfahren haben –, während die Partei leider ohne allen Charme vergreist ist und von ihren ratlosen Ärzten sorgfältig vor aller Zugluft politischer Probleme bewahrt wird. Lloyd George, der unbequeme Außenseiter, dem man die Nachfolge wehren will, ist ein Mensch ganz ohne freundliche Abgeklärtheit, sogar ohne Manieren, aber er hat Spürnase und Fäuste und immer noch Ideen. Der könnte vielleicht wagen, die morsche Partei nochmals aus dem Spital zu holen und mit dem Geist der Zeit zu konfrontieren. Aber vielleicht stirbt sie schon beim bloßen Anblick, und dann hätte der gute alte Asquith doch recht gehabt.
Aus Moskau wird die Verständigung zwischen Stalin und den Häuptern der Opposition gemeldet. Es muß ein maßlos erbitterter Kampf gewesen sein, wobei die Opposition gegen Sonne und Wind stand. Die Macht war bei dem regierenden Direktorium; die Opposition durfte nicht einmal für ihre Ideen werben, und da, wo sie es dennoch wagte, machten sich wieder die Zuhörer strafbar, und so kam es, daß gefeierte und berühmte Führer wie Trotzki und Sinowjew auch in den kleinsten Meetings ohne Mehrheit blieben. So scharf die Gegensätze waren: die Anwendung illegaler Mittel wagten auch die Opponenten nicht, und so blieb ihnen nichts als Kapitulation, die von beiden Seiten wahrscheinlich nur als Waffenstillstand betrachtet wird. Es war nicht ohne Pikanterie, daß Sinowjew, der unerbittlichste Verfolger demokratischer Regungen im Sozialismus, sich in diesen letzten Monaten einer Argumentation bediente, die wie aus der demokratischen Kinderfibel geholt schien. Wie das Ringen auch ausgehen mag: dieses Rußland in Größe und Niedrigkeit, in Logik und Absurdität, ist heute das einzige europäische Land ohne Mittelmänner.
Die Weltbühne, 19. Oktober 1926