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Arsène Lupin

Mindestens einmal im Leben kommt jeder Mensch, entweder handelnd oder duldend, mit dem Verbrechen in Berührung. Netter als ein Intermezzo mit dem kleinsten Langfinger ist die Bekanntschaft mit Arsène Lupin, dem Napoleon der Kriminalität. Zwar verschmäht auch er nicht, wenn es sich halt so trifft, ein paar Banknoten mitzunehmen, die irgendwo lose in der Brusttasche stecken, aber er klaut mit königlicher Grandezza, er stiehlt sein Opfer gleichsam zum Ritter. Seine eigentliche Sphäre ist die der Sensationen des Grafen von Monte Christo. Er arbeitet nicht aus Genußsucht oder Raffigkeit, sondern des Problems wegen. Vielnamig, vielgestaltig akquiriert er die Salons, kapert er die Frauen, wird er zum Gesetzgeber der letzten Eleganz. Als echter Franzose besorgt er zugleich die Reportage seines Ruhmes. Er spricht und schreibt selber die Kommentare zu seinen Heldenstücken, tönende Bravaden, deklamiert mit der oratorischen Fülle einer dreißigmündigen Kammerfraktion.

Komisch diese internationale Beliebtheit des Kriminalromans. Die Gattung ist nicht auszurotten. Immer wieder die alten Sujets mit neuem Gesicht. Der gute Pädagoge warnt vor den Verheerungen dieser Lektüre. Warum? Wer zu krimineller Aktivität inkliniert und danach lebt, der wird sich sehr wundern, daß es so etwas auch geschrieben gibt. Er würde übrigens nicht viel davon profitieren. Nicht einmal von Arsène, dem Meister des Fachs. Denn seine Vergehen sind gigantisch und nicht von dieser Erde der kleinen Morde und der großen Fälschungen.

Es ist wohl die entzückende Unwirklichkeit, die der Detektivnovelle ihren Reiz gibt. Es ist Romantik, nicht historisch garnierte, sondern heutige. Das Massiv der vertrauten sozialen Formen löst sich, aus der Nüchternheit des Tags springen die Kobolde des Zaubermärchens. Die unnahbare Ballschönheit, eben noch umschwärmt von der Herren-Elite, tritt vors Haus, schürzt die Robe und klettert, als wäre es gar nichts, die Fassade hoch, bis zum vierten Stock, wo schon der Komplize wartet, als Chef der Sicherheitspolizei maskiert. Der Untersuchungsrichter hat für einen Augenblick das Zimmer verlassen. Der Protokollführer, ein dürftiges Männchen von vierzig immakulaten Dienstjahren, hält plötzlich dem Zeugen einen Browning unter die Nase und zwingt ihn, die Aussage zurückzunehmen. Er gehört mit zur Bande. Simple Mietswohnungen sind mit Versenkungen und geheimen Tapetentüren ausgestattet. Ein Druck auf den Knopf und der Ofen verschwindet als Fahrstuhl in den Keller hinunter. Die andern Leute im Hause merken nichts. Teils schlummern sie, von einem Schlaftrunk betäubt, teils liegen sie hinten in der Garage, gebunden und mit einem Knebel im Mund. Nichts ist nämlich einfacher als das Knebeln. In dieser ganzen Literatur gibt es eine Unzahl von Personen, die einzig zum Geknebeltwerden in die Handlung eingelassen sind. Hin und wieder flößt man den Ärmsten etwas Haferschleim ein, damit sie den Glauben an die Menschheit nicht völlig verlieren. Über die sonstigen Leibesfunktionen wird merkwürdigerweise Schweigen gewahrt. So liegen sie da, für Stunden, Tage, Wochen, je nach Bedarf. Manchmal vergißt der Autor sie im Sausetempo der Ereignisse auch ganz. Und wenn der Portier sie nicht gefunden hat, so lagern sie heute noch.

Aber Lupin ist der wunderbare Magus, der Prospero vieler Calibane. Umgeben von ungezählten dienstbaren Geistern, die mit Blendlaterne und Brecheisen die harte, aber zum Gedeihen der Firma notwendige Kleinarbeit leisten. In schwindelnder Höhe, unerreichbar der beengten Intelligenz der Polizei, thront der Gewaltige, im Schmuck von zwanzig falschen Bärten – ein übernatürliches Wesen. Nur daß er von Zeit zu Zeit Prügel bezieht, bringt ihn uns menschlich näher. Ja, er bezieht mehr Prügel als irgendein anderer Romanheros seiner Art. Die schöne Frau steigt ins Auto. Er hinterdrein. Da reckt sich im Innern des Wagens eine machtvolle Faust und senkt sich wuchtig auf unseres Helden Nase. Er bleibt bewußtlos liegen. Das Auto saust davon. Abgesehen von solchen Zwischenfällen verläuft sein Tagwerk so:

»Um halb drei Uhr verabschiedete er sich von seinen Wirten, ließ an der Avenue Kleber halten ... Um drei Uhr duellierte er sich auf Säbel mit dem italienischen Major Spinelli, schlug beim ersten Gang seinem Gegner das Ohr ab und hielt um drei Viertel vier im Cercle der Rue Cambon die Bank; von dort zog er sich um fünf Uhr zwanzig mit einem Gewinn von 47 000 Franken zurück. Alles das ohne jedwede Überstürzung, mit einer vornehmen Gleichgültigkeit ...«

So anstrengend ist das Leben eines Abenteurers.

Vor fünfzehn Jahren machte ich zuerst seine Bekanntschaft. Dann war er lange, lange verschollen. Jetzt taucht er wieder auf in Läden und Kiosken. Aus buntem Umschlag von fast transzendentaler Kitschigkeit schaut er mich an, der Kavalier-Einbrecher, mit der kompletten Lasterschönheit des gefallenen Engels, das rechte Auge mit stahlblauem Monokel bekleidet. Ein Pandämonium von Kolportage wird lebendig; du wunderst dich, daß die Setzmaschine nicht vor Schrecken Polka tanzte – – und liest weiter. Dieser ganze hirnverbrannte Hokuspokus mit den Perücken und Falltüren und den Badewannen, die listigerweise so eingerichtet sind, daß sie jederzeit als Automobil gebraucht werden können, alles das provoziert den Verstand, aber schmeichelt in irgend etwas der Phantasie.

Cervantes rettete Amadis von Gallien vor dem Feuertod der andern Ritterbücher. Lieben wir ihn noch immer heimlich? Eine Saite schwingt in uns mit, widerwillig, aber ...

Heiliger Don Quichotte, bitte für uns!

Das Tage-Buch, 1. August 1925


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