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Wenn der Geheimrat von Holstein heute aus dem Reich der Schatten auf die Erde blicken und sehen könnte, wie sein Name zum Gegenstand von Zeitungslärm geworden, sein Bild auf der ersten Seite der illustrierten Journale prangt, alles, was von seinen menschlichen Dokumenten zurückgeblieben, als aufschlußreich für seine selten verworrene Psyche analisiert wird, wenn er das alles schauen könnte, er würde wohl die Stunde segnen, die ihn der Unterwelt zuführte, ehe alle diese Blechmusik an seine einsiedlerische Stille liebenden Ohren drang. Für lange Zeit noch wird die Diskussion über das Thema Holstein fortgehen. Und was werden erst seine Memoiren bringen, die heute noch wohlverschlossen in Herrn von Schwabachs Banktresor ruhen?
Allzulange waren wir geneigt, etwa mit dem Beginn der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein Aussterben pittoresker Persönlichkeiten in der politischen Geschichte der Staaten anzunehmen. Wie wenig das der Fall war, zeigte vor siebenzehn Jahren schon der Eulenburg-Prozeß, dessen tieferen politischen Sinn man damals über der groben Sexual-Sensation übersah, und der heute wie ein schnell vorübersprengender Vorreiter künftiger Entlarvungen erscheint.
Erst die von 1919 an herauskommenden Erinnerungen der Tirpitz, Eulenburg, Waldersee, Hammann, Zedlitz-Trütschler usw., die Emil Ludwig in seinem Wilhelm-Buch zu einem keck-pamphletisierenden Zeitgemälde zusammenfaßte, zeigen zwingend genug, daß die Tatsachen der verschlossenen kaiserlichen Kulissenwelt die Ahnungen vereinzelter Schwarzseher weit hinter sich ließen. Welch eine Galerie menschlicher Merkwürdigkeiten wird sichtbar, intrigensüchtige Generale, possenhafte Sonderlinge, unverantwortliche Ratgeber, die das Ohr des Monarchen haben, die Minister in untergeordnete Rollen abdrängen. Es kann um Mazarin herum nicht bunter, nicht verderbter zugegangen sein, als an diesem angeblich nüchtern protestantischen Hof. Und während heute Historie und Feuilleton im Wettlauf das Labyrinth dieser unholden Romantik durchdringen, werden Farbe und Umriß der Hauptakteure des imperialen Theaters immer sichtbarer, tritt vor allem die menschenscheue Gestalt des Barons von Holstein immer deutlicher hervor. Entblößt liegt seine Psyche vor dem Publikum, Aufschwung und Niedersinken, Verstrickungen und Agonie der an Machthunger kranken Seele des »Mannes mit den Hyänenaugen«, das alles liegt jetzt aktenmäßig belegt da, rollt sich vor uns wie auf der Leinewand ab, mitleidlos, entlarvt, geheimnislos. Es ist etwas trauriges um so eine ertappte, der lebenslänglichen Heuchelei überführte Seele, auch wenn der Leib längst zerfallen.
Ja, es ist eine tragische Komödie, die der Geheimrat von Holstein durch ein langes Menschenleben spielte. Gefürchtet als Mitwisser von unzähligen Geheimnissen, schuf er sich, auf geringer Rangstufe, dennoch in seinem Amt für Jahrzehnte eine dominierende Stellung, verknüpfte er als tatsächlicher Leiter des Auswärtigen Amtes seinen Namen mit den meisten weltpolitischen Seitensprüngen und Unglücksfällen der wilhelminischen Ära unter drei Kanzlern. Und, was das Schlimmste, nicht einmal das Gefühl bleibt, daß sein fataler Ratschlag natürlicher menschlicher Begrenzung entsprungen; der Verdacht war schon längst nicht von der Hand zu weisen, daß aus persönlichen Motiven, aus Ehrgeiz, Rivalerie, gallsüchtigem Neid mit vollem Wissen der außenpolitische Kurs falsch gestellt wurde, um verhaßten Nebenbuhlern einen Erfolg zu zerschlagen, eine Falle zu legen. Und, als hätte es noch der letzten Bestätigung trübster Vermutungen bedurft, verraten die Holstein-Publikationen der letzten Wochen, daß der Mann als fanatischer Börsenspieler fortlaufend diplomatische Geheimnisse in gewinnsüchtiger Absicht preisgab, nach dem Strafgesetz fortlaufend diplomatischen Landesverrat verübte, ständig an der Schwelle des Zuchthauses stand. Kein Wunder, daß die deutsche Presse heute teils entsetzt schweigt, teils Schmähungen über Schmähungen auf den Namen des einst Allmächtigen häuft. Es gehört schon die gute Rasse der »Deutschen Zeitung« dazu, um sich angesichts dieser niederschmetternden Tatsachen damit zu trösten, daß Holstein der langjährige Freund einer jüdischen Dame war.
Ein ewig besudelter Name. Trügen ihn Leibeserben, sie würden heute in einen anderen flüchten. Aber wäre die Verleugnung eines Toten das Letzte? Sind nicht politische Konsequenzen wichtiger als die lauten Entrüstungen Liberaler, der stille Abscheu Konservativer? Wer Herr v. Holstein war, das wissen wir nun. Wichtiger ist, wie er wurde, ob man in Deutschland den Boden erkennt, auf dem er gediehen und ob man entschlossen ist, das vaterländische Fahnentuch fortzuziehen von jener Epoche, als deren grauester Repräsentant er vor uns steht.
Denn Holstein, darüber hilft alles nicht hinweg, kommt aus der Bismarckschen Ära. Hier, unter den Augen des ersten Kanzlers, hat er von der Pike an gedient; so verschmolzen war er mit den Methoden des Meisters, daß man in ihm den selbstverständlichen Siegelbewahrer seiner hinterlassenen Weisheiten und den Erben seiner Technik sah. Das muß doch festgestellt werden. Denn seit Hammann das Wort von dem »falschverstandenen Bismarck« prägte, droht die neue antiwilhelminische Literatur immer stärker sich in den Dunst einer neuen Bismarcklegende zu verlaufen. Auch Emil Ludwigs funkelndes Kaiserbuch weiß schließlich nichts anderes, als das Dilettantentum von 1900 der Überlegenheit des toten Kanzlers gegenüberzustellen. Dieser Unterschied ist natürlich überraschend und dient reizvoller dramatischer Zuspitzung, effektsicheren Kapitelschlüssen, – ist jedoch politisch und historisch gesehen etwas zu billig. Wenn Bismarck nach seiner Entlassung klagte, von Kreaturen getreten zu werden, nur von Kreaturen ersetzt zu sein, nun, es waren Kreaturen seiner eigenen Formung. Bismarck, das bestaunte Genie der Außenpolitik, hat nicht Schule gemacht. Diplomaten seiner Herkunft sind es, die das Reich tiefer und tiefer der Katastrophe entgegenschlittern ließen, und nicht darauf kommt es an, ob er nachher »verstanden« wurde oder nicht, sondern, ob er Jünger hinterließ, verständig genug, um seine Tradition behutsam fortzusetzen und schöpferisch genug, um neue, noch nicht gesehene Konstellationen zu erkennen. Nicht das politische Testament eines Mannes kann für Jahrzehnte Linien fixieren; nicht der weitausgreifende Wille ist schließlich maßgebend, sondern das Geschaffene, das, was schließlich bleibt.
Und Bismarck regierte so, als würde er ewig leben, er regierte das junge Reich wie einen in Privatwirtschaft übernommenen Meierhof, wie ein Majordomus, dessen Streben ist, dem königlichen Herrn zwar die Last des Herrschens abzunehmen, aber auch sich jede Konkurrenz fernzuhalten und seinen Platz erblich zu machen. Neidisch verfolgt er jede glückliche Karriere, unerbittlich drückt seine Allmacht jede eigenwillige Regung zum Handlanger herab, beraubt sie jeden Selbständigen des Manntums, bis alle, alle nicht mehr sind als Haremswächter seiner Politik. Mag Wilhelm tausendmal verheerend gewirkt haben durch sein Beispiel, er hätte den deutschen Bürger nicht zur Karikatur, nicht zum sattsam bekannten »Untertanen« degradieren können, wenn Bismarck nicht das Feld bestellt, das Volk nicht entmarkt und entnervt und reif gemacht hätte, jahrzehntelang einen gekrönten Narren anzubeten. Es wäre unsinnig, die Wilhelminische Zeit nach der Bismarckischen als einen unvermittelten Absturz zu sehen. Sie bietet sich dem objektiv sein wollenden Beschauer als Produkt, als Kind, als entartetes vielleicht, jedenfalls als Kind. Jede Anklage gegen den toten Holstein muß folgerichtig zur Anklage gegen Bismarck werden, dessen Kult immer noch lebt, dessen politische Weisheit bis in die Reihe der einst verfolgten Sozialisten hinein anerkannt wird. Seine Fertigkeit, Psychologik und Rücksichtslosigkeit in allen Ehren, es fehlte ihm jene letzte Weisheit, die aus der Achtung vor dem Menschenbilde herrührt. Weil er nur Kreaturen duldete, seine politische Erziehung sich im Drill einer Sklavenschule erschöpfte, deshalb mußte nach seinem Scheiden der Staat einer Generation von Minderwertigen in die Hände fallen, denen in seiner Zucht erst Seele und Rückgrat gebrochen worden war. »Anständige Leute schreiben nicht für mich«, sagte er einmal in einem Anfall von fast friderizianischem Zynismus.
Lichterlohe Scheiterhaufen verzehren heute das Andenken der Wilhelminer, aber auch die demokrat. Ketzerrichter knien vor dem eichenlaubgeschmückten Bildnis des Übermenschen, andächtig verehrend. Kein neuer Göttersturz soll hier empfohlen werden. Aber man soll endlich historisch werden lassen, was längst historisch ist. Man soll nicht Rezepte aus der Metternich-Talleyrand-Küche, die schon 1890 vergilbt waren, und nach denen schon damals die Brühe nicht recht schmackhaft werden wollte, 1926 noch als zeitgemäß feiern. Bismarck, heißt es, sah die Isolierung Deutschlands kommen, wollte sie verhindern. Sehr gut! Aber hat nicht seine Blut- und Eisenpolitik sie in die Wege geleitet? Und wir sind heute soweit, das zu erkennen – kann ein System von schwerbewaffneten Bündnissen dauernd den Frieden sichern? Kommt es nicht auf geistige Imponderabilien an? War wirklich das Deutschland Bismarcks und Moltkes zu solcher Erkenntnis reif? Er sah nicht Menschen und Völker, er sah nur Fürsten, günstigstenfalls Staaten; schon die französische Republik, die englische Parlamentsherrschaft verabscheute er. Er hat das System automatisch funktionierender Allianzen wieder nach Europa hereingetragen: der Dreibund eröffnete den Reigen der Ententen; er sah erste und letzte Sicherung in Militärverträgen. Die Vorboten der Wandlung, das Absterben der Geheimdiplomatie, die zunehmende weltwirtschaftliche Verknüpfung der Nationen, die seelische Umschichtung in den Völkern, das erkannte er nicht. Und so genial er innerhalb seiner Grenzen spielte, es war zu seiner Zeit schon rein künstlich, ein Spiel ohne Zweck. Es war zu seiner Zeit schon ein Spiel um einen Preis, den es längst nicht mehr gab. Die werdende Demokratie erfühlte er nicht und was er davon etwa intuitiv erfaßte, das haßte er mit seiner ganzen junkerlichen Zähigkeit. Der Friede Europas, das hatte ihm nicht jene schöne, sehnsüchtige Bedeutung, wie für uns Nachkriegsmenschen, es war ihm einfach die Balance der damals bestehenden Fürstenmacht. Weil er immer in Denken und Fühlen dem dynastischen System verhaftet war, deshalb konnte er niemals dem Frieden jene Garantien schaffen, die über die schmale Gewißheit der Gegenwart auch in ungewisser Zukunft wirksam bleiben.
Man wirft Holstein vor, er habe Bismarcks Erbe schlecht verwaltet, die hinterlassenen Rezepte teils mißverstanden, teils absichtlich ins Gegenteil umgebogen. Er hat den russischen Vertrag demoliert, das »große Nein« auf Englands Bündnisangebote ausgesprochen, er hat schließlich die gräßliche Marokko-Politik mit der Niederlage von Algeciras inszeniert und den Dreibund für eine Schöpfung auf Ewigkeiten gehalten. Lassen wir in diesem Zusammenhang den Rückversicherungsvertrag beiseite, was aber die anderen Fragen betrifft, nun, da befand er sich in voller Übereinstimmung mit der Mehrheit des Volkes, einschließlich seiner Politiker und Parlamentarier. Mit dem Glauben an den Dreibund ist ganz Deutschland in den Weltkrieg gezogen, und daß Holstein Joe Chamberlain abblitzen ließ, den Kaiser nach Tanger schickte, dazu jubelte schließlich nicht nur das politische Stehparkett Beifall. Das galt damals als selbstverständlicher Ausdruck deutschen Kraftbewußtseins, das war der dürre diplomatische Text für die große Orchestermusik wilhelminischer Reden. Daß aber diese pompöse Vereinbarung mit der falschen Machtgeste in die Einkreisung oder – wie Alfred H. Fried richtiger sagte – in die Auskreisung führte und eine in trügerische Sicherheit gelullte Nation endlich ins Verderben stieß, Hand aufs Herz, wie viele Deutsche wissen eigentlich heute schon um diese politischen Todsünden und – wie viele haben daraus gelernt? Wenn die Schmähungen gegen Holstein von dem Menschen auf die Politik ausgedehnt würden, dann wäre diese Verdammung legitimiert. Aber der Glaube an seine Politik ruht noch allzu fest, und so jämmerlich seine Börsenspekulationen gewesen sein mögen, seine politischen Spekulationen gehören noch immer zum Brevier unserer Nationalphantasten, und darin wird sie auch die Tatsache nicht stören, daß der Vater ihres Ideals sich gegen moralische und strafrechtliche Grundsätze verging.
Plaidoyer für Holstein? Das steht über diesen Zeilen, und, ehrlich gestanden, es ist schweren Herzens geschrieben. Aber es handelt sich nicht, das vergißt man in Deutschland, um ein moralisches Scherbengericht über den Namen eines Toten, sondern um die Fixierung eines noch schwankenden politischen Tatbestandes. Alldeutsche Ideologie hat kein Recht, Steine zu werfen nach dem, der für sie erst recht den Boden ebnete; kritiklose Bismarck-Verhimmler sind kaum befugt, den Stab zu brechen über den, der doch das ureigenste Erziehungsprodukt ihres Idols war. In dieser Schule hat er seine böse Kunst gelernt, das Spionieren, den Trug, das Spiel mit den vielen Bällen zugleich. Als jungen Menschen hat ihn Bismarck zur Bespitzelung des Grafen Harry Arnim, seines Vorgesetzten in Paris, mißbraucht, um ihn in öffentlichem Prozeß dann zu nötigen, seine Judas-Rolle publik zu machen. »Die Bismarcks haben mir das Schmachzeichen auf die Stirne gedrückt«, sagte Holstein, der Verbitterte, in späteren Jahren. Bismarck brauchte Desperados, Menschen, die, losgelöst von Gefühl und Gewissen, nur ihm dienten, für ihn jedes Odium auf sich nahmen. Bismarck starb. Die Desperados blieben zurück. Die Desperados übernahmen den Staat. Es ist ein melancholischer Gedanke, daß diese Desperados einen nicht unbeträchtlichen Teil von Bismarcks politischer Hinterlassenschaft ausmachen.
Was nützt ohne solche Klärung Holsteins Entlarvung? Es ist etwas trauriges um diese Zerfetzung eines Toten, um dieses Kriechen in Klüfte einer Seele, deren Leib längst vermodert. Könnten den grauen Geheimrat am Ufer des Acheron die Flüche erreichen, er würde vielleicht mit bösem Lachen nach jenem Pantheon weisen, das deutscher Heroenkult dem Manne geschaffen, der sein Verderber geworden war. Nein, Holstein war trotzdem kein Tartüff, vier Kanzler wußten, wer und was er war, und sie litten ihn nicht nur, sie erhöhten seine Macht, weil sie ihn fürchteten. Wenn versichert wird, ihn hätten Angstvisionen geplagt, er hätte den Revolver stets in der Tasche getragen, und in freien Stunden Schießübungen gemacht, wer weiß, ob das nur Furcht vor imaginären Feinden war, ob er nicht heimlich die Hand übte, um nicht zu zittern in dem Augenblick, wo er sie – satt seiner selbst, satt der Menschheit – gegen die eigene Stirn richten wollte. Er hat schließlich vorgezogen, nicht das Prävenir zu spielen; er starb im Bett als pensionierter Beamter. Aber selbst ein tragischeres Ende hätte nicht verhindert, daß sein Leben zu einer diabolischen Satire auf Deutschlands glanzvollste Zeit wurde.
Das Andere Deutschland, 30. Januar 1926