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Eine ganz neue Art von Memoirenliteratur droht anzubrechen. Die erste und längste Periode war, daß man sich selbst erinnerte. Memoiren waren Aufzeichnungen von Begebenheiten, Beichten; Leben und Zeit, gesehen durchs eigene Temperament. Dann kam eine Periode, da man andere sich erinnern ließ (Rosner). Und nun beginnt eine völlig andere Ära, in der die Kinder die Erinnerungen ihrer Väter interpretieren und korrigieren.
Tolstois Tochter reist in aller Welt herum und hält aufklärende Vorträge über das Eheleben ihrer Eltern. Auch Strindbergs Tochter schreibt ein Buch über ihren Vater, um endlich einige weit verbreitete Mißverständnisse zu beheben. Das ist nur ein Anfang.
Strindberg und Tolstoi waren beide keine jener abgekapselten Seelen, die ihr Leid in sich hineinfraßen und Biographisches nur zwischen den Zeilen mitschwingen ließen. Nein, sie rissen ihr Inneres schonungslos auf, sie zerfetzten den Vorhang ihrer Seele und schrien es in die Welt hinaus: Seht, so bin ich! Sie haben nichts geheimgehalten, wollten nichts geheimhalten. Noch klingt ihr Schrei in unseren Ohren, und viele Generationen noch werden ihn hören.
Kann man einen Todesschrei fein säuberlich analysieren? Oder kann man über den Schrei des frechen, roten Lebens Abhandlungen schreiben? Ach, die lieben, guten Wesen melden sich mit geschwungenem Gouvernantenfinger zu Wort: So war Papa! Sie waren ja immer dabei und wissen es deshalb ganz genau, wie und warum Papa nein sagte und Mama ja und umgekehrt. Es ist eine Art familiären Philologentums, das sich da vorbereitet, nur daß dieses da beginnt, wo das alte aufhörte. Denn wenn die Zünftigen den großen Mann immer nur in Gala sahen und sehen wollen, so sehen diese den Mann immer nur im Schlafrock, immer nur in der Intimität täglichen Umgangs. Natürlich hat die Sache einen Haken: Papa hat nämlich schon selbst gesprochen. Aber was kümmert's die guten Kinder? Die sprengen Türen, die längst geöffnet, und entdecken Mysterien, die seit Jahren offen im literarhistorischen Museum zur Schau stehen. Sie kommentieren längst Bekanntes und verrühren Vaters Seelenleben zu Omelettes aux Confitures, wobei die Konfitüren von ihnen stammen. Dabei sind sie immer etwas animos, immer echt weiblich ungerecht gegen Mama. Denn Papa ist laut Attest in die Unsterblichkeit eingegangen und Mama, Gott, Mama ist eine kleine Frau gewesen – was wußte die viel von Papa?
Ob es bei Lebzeiten Papas auch schon so war? Damals hatte Mama noch die Mitwelt für sich, die sie bedauerte, die Frau eines so problematischen, unberechenbaren Mannes zu sein. Und die Familie pflegt sich in solchem Fall zu Mama zu schlagen. Das ändert sich gewöhnlich erst, wenn die Nachwelt ihr Votum abgegeben hat. Wenn die Universitäten erst Papas Herme mit dem Lorbeerkranz geziert haben, dann fängt selbst seine Familie an, sich für ihn zu interessieren.
Aber wie, wenn das Beispiel der Tolstoi- und Strindberg-Tochter Nachahmung finden sollte? Man sieht deutlich eine furchtbare Mode heranziehen. Denn unsere Töchter werden sich nicht damit begnügen, milde und pietätvoll einen Toten zu interpretieren, sie werden mit ihren Studien schon am lebenden Objekt beginnen. Und wer weiß, ob die jungen Damen, in ihrer Ungeduld, die Leute mit deinem internen Habitus bekannt zu machen, bis zu deinem Ableben warten. Das ist ein freundlicher Aspekt! Armer Papa, du hast den letzten friedlichen Tag verlebt – deine Rangen werden in die letzten Bezirke deines Unterbewußtseins dringen, bewaffnet mit der ganzen Armatur der Psychoanalyse. Und junge Mädel haben auch ohne das schon Augen wie der Teufel ...
Eine Möglichkeit bleibt dir noch immer: du kannst mogeln. Genau so, wie ich überzeugt bin, daß Goethe ausgerechnet sein Leben so gelebt hat, um seinen Biographen ein Schnippchen zu schlagen. Wenn sie dich obduzieren wollen, über eines kommen sie doch nicht hinweg: es bleibt noch immer die Barriere des Geschlechtes. Denn mag das Ei auch manchmal klüger sein als die Henne, niemals weiß es mehr als der Hahn.
Das Tage-Buch. 18. Juli 1925