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Seit Monaten wälzt sich der englische Bergarbeiterstreik qualvoll weiter wie ein zu Tode getroffenes Tier. Unerhört sind die Opfer der Arbeiter. Kein Wunder, dass in vielen Bezirken der Geist längst erlahmt ist und die Arbeit wieder aufgenommen wird. Verhandlungen sind bisher gescheitert: teils an der Uneinigkeit und Unredlichkeit von Regierung und Unternehmerschaft, teils an der Furcht einiger Arbeiterführer, den Kampf schließlich resultatlos abblasen zu müssen. Die Industrie erhält reichlich Kohlenzufuhr von Frankreich und Belgien, in hohem Maße von Polen und, indirekt, von Deutschland, wo das Geschäft über Holland geht. Denn das kohlenlose Holland, das seinen Bedarf zu 98 Prozent sonst aus Deutschland und England deckt, ist infolge des Ausfalls der englischen Produktion ganz auf Deutschland angewiesen. Da Holland im Allgemeinen 600 000 bis 700 000 Tonnen monatlich von Deutschland bezieht, im Juli aber zum Beispiel 1 270 276 Tonnen geliefert erhielt, also etwa 600 000 Tonnen über eignen Bedarf, so läßt sich annehmen, daß diese Menge nach England gegangen ist. Wozu noch 157 000 Tonnen gerechnet werden müssen, die den direkten Weg genommen haben. Fazit: fast 800 000 Tonnen deutscher Kohle in einem Monat!
Der Transport wird überall von englischen Seeleuten besorgt. Das wirft einen schweren Schatten auf die Konferenz des Vorstandes der deutschen Bergarbeiter-Organisation, die in diesen Tagen in Bochum über die Unterstützung der englischen Kameraden beraten wird. Auf den Beschluss braucht man nicht neugierig zu sein: die Ausrede ist ja schon da. Bittere Lehre: die proletarische Solidarität endet noch immer dort, wo eine bescheidene Prosperität beginnt. Schließlich war es auch im Ruhr-Kampf nicht anders. Die englische Wirtschaft profitierte von der Konjunktur; die Arbeiterschaft tat mit. Man darf sich um die Konsequenz so heikler Feststellungen nicht herumdrücken: die Strategie internationaler Aktionen des Industrieproletariats liegt noch in bescheidenen Anfängen.
Der englische Montanstreik ist verloren. Dahin der Gewinn des Generalstreiks vom Frühjahr: die starke Stimmung, der seelische Aufschwung durch die Genugtuung, einmal die große Probe gewagt zu haben. Hoffnungslosigkeit und unsagbares Elend herrscht heute in den Arbeiterhütten. Die Industriedespoten fühlen sich stärker denn je. Es gibt nur eine Möglichkeit für die Bergleute: den Kampf auf günstigere Zeit zu vertagen und sich Führer zu suchen, die etwas weniger in die eignen Parolen verliebt sind. Auch wer an Herrn Cooks frischem Elan Gefallen gefunden und ihn gegen die oft sehr rüden Attacken deutscher Gewerkschaftler verteidigt hat, wird den Zufall bedauern, der einen begabten Trompeter zum Stabschef gemacht hat. Die Devise: »Wenigstens sollen sie kkeinen lebendig haben!« darf außerhalb der böhmischen Wälder und der militärischen Edelfatzkerei keine Geltung haben, am wenigsten in der Arbeiterbewegung, deren Millionenziffern nicht über die Schwäche der einzelnen hinwegtäuschen dürfen. Schlimmste Cuno-Politik ist Das, was Cook und seine Freunde seit Monaten treiben, diese zähe Resistenz wider die Vernunft und die mystische Hoffnung auf Hilfe von draußen.
Nun musste die Genfer Festivität doch noch mit einem kleinen Knalleffekt enden. Der Ausbruch der deutsch-französischen Verständigung geschah so eruptiv. Vom Frühstück in Thoiry bis zur Billigung der Politik Briands durch das Kabinett Poincaré verlief alles so überraschend glatt, dass man bange werden mußte. (Innenpolitisch begibt sich ähnliches: die Brieftauben der Großen Koalition schwirren wieder; der redliche Volksparteiler Kahl taucht beim Republikanischen Reichsbund auf – hoffentlich schicken die Republikaner jetzt auch einen Austauschprofessor in den Stahlhelm –, es riecht überall nach Versöhnung.) Fast war man geneigt, den Göttern, wie Polykrates, etwas Geliebtes zu opfern, um ihre Mißgunst nicht zu erregen: man wusste nur noch nicht, ob Geßler oder Külz. Und dann kam die fahrplanmäßige Entgleisung.
Nachts um die zwölfte Stunde verläßt der Tambour sein Grab. Nacht war es auch, als in unserm europäisch radebrechenden Stresemann plötzlich der Tambour erwachte. Bei einem geselligen Abend der deutschen Kolonie in Genf, die sonst von dem sehr nationalen Herrn Generalkonsul Aschmann geleitet wird, dem Schwager Karl Helfferichs, und die, dieser politischen Pädagogik entsprechend, den Ehrengast wahrscheinlich mit feindselig geschwungenen Humpen erwartet hat. Aber wie er da inmitten der geputzten Schar saß, da schwand auch der pazifizierende Weinduft diplomatischer Bankette aus der Nase: Ceres löste Bacchus ab; bierschaumgeboren stieg die Rede, Erinnerungen an die Branche belebten anmutig die Bilder. Die deutsche Eiche rauschte, und Alles war wieder gut.
Und am nächsten Tag mußte nach Leibeskräften dementiert werden. Denn ein deutsch-patriotischer Journalist hatte trotz vorgeschrittener Stimmung noch mitstenographiert. Dieser Berufstüchtige sauste mit seinem Bericht sofort zur Schweizerischen Telegraphen-Agentur, die ihn in alle Welt kabelte. Einige Aufregung in Paris: Aha! Unverbesserlich diese Deutschen! Sie haben nicht nur eine Schwarze Reichswehr, sondern auch eine schwarze Außenpolitik ...
Zwei Erfahrungen bleiben.
Die eine: der Außenminister, in schwieriger diplomatischer Mission im Ausland, ist keine Attraktion für einen vaterländischen Kneipabend mit Hochgefühlen und Sauerkraut! Stresemann versank sogleich darin bis an die Achselhöhle, und das Unglück war fertig.
Die andre: während die deutsche Presse den Minister zum Teil ziemlich scharf rüffelte, gaben sich die Pariser Offiziösen – Havas und Sauerwein vornan – weidlich Mühe, den Fall zu bagatellisieren. Das zeigt deutlicher als alles Andre, wo wir stehen, wie weit die deutsch-französische Verständigung schon fortgeschritten ist, was für Belastungsproben die Freundschaft zwischen Wilhelm-Straße und Quai d'Orsay schon zu ertragen vermag. Sie schwindeln schon für einander: das ist das untrügliche Kennzeichen der Entente Cordiale. So hat es zwischen Poincaré und Iswolski auch angefangen ...
Gewiß wird das Wetter nicht immer so ungetrübt bleiben. Dafür werden schon die Herren Marin und Tardieu, aber auch einige der Herren Minister des Kabinetts Marx sorgen. Auch Herr Poincaré selbst hat, von Stresemann angeregt, in seiner neuen Sonntagsrede von Saint-Germain gezeigt, daß er die alte Sprache noch beherrscht – und mehr wohl auch nicht zeigen wollen. Ein Nasenstüber, kein Faustschlag. Das ist nicht mehr fortzudisputieren: Frankreich ist ehrlich gewillt, über alle Streitthemen mit Deutschland zu verhandeln und in den wichtigsten Punkten nachzugeben.
Denn Frankreich ist müde. Aus allen Reden dieser letzten Zeit klingt der Überdruß an ranzig gewordenen Phrasen und veralteter Feindschaft. Der Ehrgeiz, zum Rhein vorzustoßen, ist dahin. Richelieus Testament, Napoleons Pläne vergilben. Der stille Soldat am Triumphbogen hat über die lauten Generale gesiegt. Frankreich will Frieden. Ein bei mancher Aufgeregtheit unendlich gutartiges Volk wirft die lästig gewordenen Augengläser des Nationalhasses ab, betrachtet den alten Feind aus der Nähe und findet ihn ganz traktabel. Ebenso wie in Deutschland Niemand Frankreich ernstlich gehaßt hat und noch haßt, einige Kaffern aus Prinzip ausgenommen.
Aber Frankreichs Wirtschaft liegt auch in schwerer Krise, und politisch ist es isolierter als jemals seit dreißig Jahren. Der Gedanke, mit dem ökonomisch aufsteigenden Deutschland einen Akkord zu treffen, wonach frühere Räumung der laut Friedensvertrag noch okkupiert zu haltenden Gebiete in irgendeiner Weise mit Beiträgen zur Valuta-Sanierung vergütet wird, liegt nahe, heischt aber Überwindung der noch gebliebnen Siegergefühle. Die schreitet fort, getrieben von zunehmender Vereinsamung. England ist kühl bei Seite getreten, fördert alle Feindschaften gegen Frankreich. Vom Mittelmeer eskamotiert es Mussolini mehr und mehr. Der hat sich nicht nur mit Spanien, dem Marokko-Verbündeten von gestern, verständigt, sondern auch mit Rumänien, das jahrelang unter Pariser Einfluß gestanden hat. Der Traum vom Orientreich ist beendet. Nichts erinnert mehr daran als ein ruhmloser Mandatskrieg in Syrien, Menschen und Geld fressend. Die Armee lastet wie ein Panzer auf ermüdeten Gliedern. Die französische Weltmacht trägt die Farben des Herbstes.
Aber man glaube nicht, daß Frankreich sich aus Not etwa Deutschland an den Hals wirft. Törichter Michel-Stolz, das anzunehmen. Gewiß zwingen Tatsachen zu enger deutsch-französischer Gemeinschaft. Aber was bedeuten Tatsachen, wenn der nationale Prestigetic auf dem Spiele steht? Es gehört eine große moralische Anstrengung dazu. Frankreich ist im Begriff, der Welt ein solches Beispiel zu geben.
Deutsch-französische Verständigung ist heute möglicher denn je, wenn für kurze Weile nur gelingt, die heißen Faselhänse und die kalten Giftmischer, die es auf beiden Seiten gibt, fernzuhalten.
Wer durch Jahre für die Verständigung gekämpft hat und dafür teutonisch angebrüllt wurde von politischen Charakteren, die heute europäisch flöten, darf wohl noch einen Schritt weiter gehen und eine neue Frage »aufrollen«. Verständigung ist gut. Aber Verständigung, politisch realisiert, ist nur ein Staatsvertrag, nur ein Papier ohne Eigenleben, das die Regierungen »im Ernstfall« nicht zu binden, das Volk nicht zu berühren braucht. Verständigung kann nicht Abschluß, sondern nur Anfang sein. Verständigung wozu? Das ist die neue Frage.
Wenn erst die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen so engmaschig sein werden, daß gigantische Kohlen- und Eisen-Syndikate die Grenzen wesenlos machen, wenn jeden Morgen hüben und drüben mit Uhrwerksgenauigkeit die Männer in die Schächte, zum Eisenhammer gehen zu vielstündiger Fron für alliiertes, verschmolzenes deutsch-französisches Kapital – dann wird kein Sedan und Versailles mehr trennend zwischen den beiden Nationen stehen. Dann wird aber auch die neue und größere Aufgabe da sein. Und dann werden Die treu verbrüdert zusammenhalten, die schuldig sind an einem Jahrhundert erbitterter deutsch-französischer Feindschaft. Es ist kein Zufall, daß heute Chauvins von gestern die Streitaxt begraben wollen. Die Klassen lösen die Nationen ab, die sozialen Kämpfe die nationalen Kriege.
Die Weltbühne, 28. September 1926