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Wieder einmal veröffentlichen Linksblätter Operationspläne der Vaterländischen Verbände. So nützlich solcher Alarm ist, sollte er doch nicht eine Nervosität erregen, die von ernstern Gefahren abzieht. Die Maienblüte dieser Wehrvereine ist vorüber. Ihre Programme, ob von Marauhn oder Seldte, ob westlich oder östlich Anlehnung suchend, entwaffnen durch Schwachköpfigkeit; beachtenswert bleibt immer nur der unbedingte Wille zur Brutalität. Trotzdem es um die Ausführung der Absichten dieser gewerbsmäßigen Verschwörer, baldmöglichst »die Macht zu ergreifen«, nicht sonderlich günstig steht: ihr wieder dreisteres Gehaben grade in diesen Wochen entspricht durchaus der innenpolitischen Zuspitzung. Seit der Rückkehr aus Genf hat der Reichskanzler Luther, ein glatter, vielfach verkapselter Beschwichtiger sonst, sich mit hartnäckiger Offenheit auf die Seite der Reaktion gestellt. Immer schneller treibt er der Entscheidung zu, entweder seine bisherige Mehrheit zu verlieren oder sich mit einem Hechtsprung in den Ausnahmezustand zu retten. Was bedeutet die Flaggenverordnung, die so überrumpelnd herauskam und unter Mißachtung des Widerspruchs zweier Regierungsparteien vom Kabinett gebilligt wurde, anders als eine kalt durchdachte Herausforderung! Es gehörte die unbändige Naivität der Demokraten dazu, hier von einem faux pas zu schwafeln. Dieser Reichskanzler und ein faux pas! Glaubt man denn wirklich, die Beschwerden der alldeutschen Übersee-Philister in Rio und Sao Paolo hätten ihn gedrängt, die Händlerflagge offiziell neben die Heldenflagge zu setzen? Nein, Herr Dr. Luther handelt wie ein Premierminister, dem an der Weiterunterstützung durch gewisse Regierungsparteien nicht das Mindeste mehr liegt. Heiter ist nur, daß die beiden Garanten der Republik im Rechtskabinett, daß Külz und Marx das nicht merken. Aber mindestens Herr Külz hat wohl, falls die Demokraten abrücken, alle Aussicht, wie sein Freund Geßler als »Fachminister« weiterwirken zu dürfen. Was er bisher geredet und getan und nicht getan hat, rechtfertigt solche Sendung durchaus. An und für sich weist der Farbenzwist alle Merkmale jener abderitenhaften Deutschheit auf, die von jeher anspruchsvollere Geister aus dem politischen Tageskampf getrieben hat. Aber es geht um etwas mehr als das bißchen Mottenfraß von Fahnentuch: es geht um die Frage, ob die Verfassung vornehmlich dazu da ist, um auf dem Verordnungswege ruiniert zu werden. Heute wird Schwarz-Weiß-Rot eingeschmuggelt, morgen vielleicht die Krone. Mag Luther, von seinem Külz unterstützt, den Verfassungsbruch zum harmlosen Zwischenfall bagatellisieren: was geschehen ist, war – im Vorkampf um den Volksentscheid! – wie eine Arrangierprobe zum Staatsstreich. Hindenburgs Präsidentschaft enthüllt ihren Sinn.
Der englische Generalstreik scheint zunächst nicht die Ausdehnung genommen zu haben, die man erwarten durfte. Fast siehts aus, als hätte die Verve der Arbeiter sich schon vor dem Stoß ein bißchen verausgabt. Zudem liefert das Arbeitslosenheer unzählige Streikbrecher. Wirtschaftliche Depression ist eben ein schlechter Boden für Arbeiterkämpfe: auch der soziale Krieg braucht gut genährte Soldaten. Doch selbst wenn die Aktion völlig niederbrechen sollte: diese Streiktage wiegen mehr als die Regierungsmonate MacDonalds. Zum ersten Mal im Heimatland der liberalen Doktrin ein nicht bürgerlich verbrämter Klassenkampf. Der englische Sozialismus, der für uns Kontinentale immer unerträglich viel Traktätchenhaftigkeit an sich hatte, schleift sich stahlblank. Aus einem Solidaritätsakt für die Bergarbeiter entwickelt sich ein geschlossener Vorstoß gegen die Industrie-Autorität. Was als simple Lohnbewegung begann, hat zum Endziel die Nationalisierung des Bergbaus. Man sagt: Mehr Lohn! und meint: Sozialisierung. Umgekehrt verlief es bei uns. Die echte politische Genialität der englischen Rasse erweist sich wieder einmal. Die soziale Situation ist nicht weniger revolutionär gesteigert als in den andern Nachkriegsländern. Doch was wollen die paar roten Fahnen, die paar in Moskau bekehrten Gewerkschaftsführer besagen! Die Worte in den Flugzetteln und Meetings waren dort immer stark, viel stärker als einst im November-Deutschland – aber die Taten waren immer vorsichtig und taktisch gezügelt. Oder ist Nüchterneres zu denken als diese Art Revolution in den zivilen Formen einer wirtschaftlichen Auseinandersetzung?
In WTBs Lesart der großen Programmrede Litwinows vom 25. April über das deutsch-russische Abkommen ist ein wichtiger Satz nicht enthalten. Tschitscherins Vertreter sagte wörtlich: »Wir haben den Verträgen von Locarno den ärgsten Giftzahn ausgebrochen.« Wenn auch die deutsche Regierung nicht für Das verantwortlich gemacht werden kann, was der Vertragspartner sagt, so liegt doch kein Grund für sie vor, ihren Nachrichtenapparat so spielen zu lassen, daß ihr eignes Publikum nicht erfährt, was sich der neue Bundesfreund unter dem Vertrag nun eigentlich vorstellt. Der deutsche Zeitungsleser aber wundert sich, daß das Ausland beunruhigt ist, und warum selbst schwedische Konservative, die sonst mit jeder deutschen Dummheit durch Dick und Dünn gehen, diesmal maulen. Ohne die Filterung durch das Auswärtige Amt hätte Litwinows prägnantester Satz zweifelsfrei aufgezeigt, worum es sich handelt: die Russen haben sich mitten aus dem Locarno-Lager eine Geisel geholt. Wir wollen ihnen deswegen keinen Vorwurf machen. Aber »Rückversicherung« ist doch für unsre Lage ein etwas zu pomphafter Ausdruck.
Die brasilianische Regierung kündigt ein Weißbuch an über ihre Haltung bei der letzten Völkerbundstagung. Darin steht, heißt es, unter anderm die Aufzeichnung über eine Unterredung zwischen dem brasilianischen Außenminister und dem deutschen Gesandten, in welcher der Brasilianer darauf verweist, daß Brasilien lange vor Deutschland einen Ratssitz beansprucht habe. Man wird zur Beurteilung den genauen Text abwarten müssen. Doch schon jetzt erscheint die deutsche Darstellung, Brasiliens Forderung habe wie ein Blitz aus heiterm Himmel gewirkt, reichlich anfechtbar. Oder hat es der deutsche Gesandte Knipping an der notwendigen präzisen Berichterstattung fehlen lassen? Herr Dr. Knipping ist sonst ein sehr konservativer, aber auch sehr gewissenhafter Mann. Die schwarzweißroten Wünsche der Deutschen-Ghettos hat er stets mit peinlichster Genauigkeit gemeldet. Sollte er für den diplomatischen Teil seines Amtes weniger geeignet sein als für den humoristischen?
Seit einiger Zeit geht in der Kommunistischen Partei eine Entwicklung vor sich, die von der bürgerlichen Presse kaum beachtet wird. Seit Lahmlegung der Gruppe Maslow-Ruth Fischer hat die Zentrale mit der Ausmerzung jener Wortführer des linken Flügels begonnen, die sich nicht fügen wollen. Noch läßt sich die Stärke dieses Flügels so wenig abschätzen wie ihre Anhängerschaft im Lande. Möglich ist dennoch, daß es diesmal, wie 1921 bei der Ausstoßung der »Leviten«, zu einer Sezession kommt, die vielleicht tiefer greifen wird als damals. Ohne Zweifel begünstigt Moskau die Annäherung der Kommunisten an die Sozialdemokratie. Ob das nur durch Verlegenheiten des Augenblicks gebotene Taktik ist, oder ob der Wunsch nach großen, einheitlichen Arbeiterparteien diese Handlungen lenkt, kann zur Stunde noch nicht beurteilt werden. So erstrebenswert eine solche Fusion erscheinen mag: die Moskauer sollten die Verdauungskraft der deutschen Sozialdemokratie nicht unterschätzen. Die hat die ganze USP und die Levi-Gruppe obendrein verschluckt, ohne Indigestion, ohne daß auch der schärfste Beobachter jemals von dieser – ihrer Konstitution nicht ganz entsprechenden – Nahrungszufuhr etwas wahrnehmen konnte. (Ich glaube, selbst unterm Mikroskop ließe sich nichts nachweisen.) Nun verliert die Idee der Einigung völlig ihren Sinn, wenn dabei nicht mehr herauskommen soll als eine noch dickere Sozialdemokratie. Das Ziel kann doch nur die neue, die große Arbeiterpartei sein: nicht Sozialdemokratie, nicht Kommunistische Partei, sondern die Partei, geboren aus den Kämpfen dieser Jahre, bereit für die Kämpfe von 1930. Wo sind in beiden Lagern die Führer dazu? Das wäre die Aufgabe der freiesten und jüngsten Köpfe in beiden, die Jugend aus dem Hader wie aus dem Kuhhandel zu retten und auszusöhnen. Die lieben Alten werden sich schon vertragen, wenn es die Machthaber in Moskau und in der Linden-Straße gestatten. Die werden dann einträchtig zusammensitzen – eine Parteikasse und kein Herz –, Bruderküsse tauschen und sich mit alten Spartakus-Manifesten die Pfeife stopfen.