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Ein französisch uniformierter Amokläufer hat ein paar Germersheimer Bürger niedergeschossen, weil er sich provoziert fühlte. Der Zwischenfall ist traurig, aber politisch nicht wellenbewegend. Die Schuldfrage – das heißt: wer zur Auseinandersetzung Anlaß gegeben hat – dürfte wahrscheinlich wegen Verschiedenheit der Zeugenaussagen nie geklärt werden. Daß aber jede minderwertige Rempelei mit der Waffe gesühnt werden muß, ist nicht auf einen von der französischen Uniform besonders kräftig genährten Blutdurst zurückzuführen, sondern gehört zum eisernen Bestand des militärischen Ehrbegriffs überhaupt. Zu Hause hätte der Unterleutnant Rouzier vielleicht ein paar streikende Arbeiter niedergeschossen, die seinem militärischen Rang die Reverenz versagten.
Dennoch sieht es grade in der Pfalz besonders schlimm aus. Die lange Herrschaft eines ungezähmten Etappen-Paschas wie des Generals de Metz hat Haß hinterlassen; unvergessen ist noch die kurze Separatistenherrschaft und ihr schrecklicher Sturz. Überhaupt steht hier den fremden Truppen ein zu unbeherrschten Entladungen neigendes Volkstemperament gegenüber, sehr ähnlich dem südfranzösischen. Verschärfend kommt hinzu, daß die Pfalz als bayrisches Territorium ihre Direktiven aus München bezieht. Die Germersheimer Grabreden und ein etwas seltsamer Appell an das europäische Gewissen zeigen allzu deutlich, daß Münchner Einfluß gewaltet, und daß Bayern seinen Beitritt zum Völkerbund noch nicht vollzogen hat.
Aus den französischen Maßnahmen geht hervor, daß man drüben zu unparteiischer Untersuchung gewillt ist. Sehr vernünftig war die sofortige Ablösung der bisherigen Garnison. Da aber Rouzier der Militärjustiz untersteht, dürfte der Ausgang kaum zweifelhaft sein. Auch das ist keine französische Eigenart. Denn auch bei uns sind in der kaiserlichen Zeit betreßte Zivilistenschlächter von den Kriegsgerichten sehr milde angefaßt worden, und seit die militärische Gerichtsbarkeit nicht mehr existiert, kümmern sich auch die Staatsanwälte nicht mehr um solche Fälle. Hat Hans Paasches Ermordung jemals zu einem Verfahren geführt? Und die Schießereien der Reichswehr während des sächsischen Einmarschs, die Dutzende von Opfern forderten, haben keine andre juristische Folge gehabt als die Bestrafung sozialistischer Redakteure, die den Mut gehabt hatten, an das heikle Thema zu rühren.
Nach dem Gespräch von Thoiry die Zusammenkunft Chamberlain-Mussolini. Während der englische Außenminister sich über den Zweck der Entrevue dürr und nichtssagend wie immer äußert, ist die römische Presse gesprächiger, und ihre Darstellung, die Unterredung habe neben den Mittelmeerfragen »die Kontrolle des deutsch-französischen Akkords behandelt, zu dem England und Italien als Garanten des Locarno-Pakts berechtigt und verpflichtet seien«, dürfte wohl richtig sein. Diese Begegnung ist eine aggressive Antwort auf Thoiry, wäre es auch, wenn die beiden Herren sich drei Stunden lang schweigend gegenübergesessen hätten.
Bittre Lehre: die völlige Nutzlosigkeit des Systems der Garantieverträge ohne Abrüstung. Der Pakt von Locarno ist ratifiziert, das alte Mißtrauen geblieben. Weil am Rhein Friede werden könnte, wittert man im Foreign Office, in der Consulta neue Gefahr. Die imperialistische Politik kennt keine Verständigung für, nur gegen.
In Paris, wo man über die englische Politik Bescheid weiß nicht umsonst war man so lange verbündet –, ist man zwar verstimmt, aber kaum überrascht. In Berlin dagegen, wo der weißbärtige Lord jahrelang die Nationalsten der Nationalen englisch tanzen ließ, ist man jetzt sehr verblüfft, statt des verbindlichen Lächelns die kalte Schulter zu sehen. Dennoch trägt man das Mißgeschick durchweg mit Würde. Nur der ›Vorwärts‹ bricht ungehemmt aus:
»Sind es wirklich außenpolitische Interessen Groß-Britanniens, die den Minister Seiner Britischen Majestät zu der Erniedrigung zwingen, mit Mussolini ›gegenseitige persönliche Freundschaft‹ zu mimen?«
Willst du genau erfahren, was sich ziemt, so frage nur bei edlen Frauen an. Dem ›Vorwärts‹ kommt das unbestreitbare Verdienst zu, die gesellschaftlich-moralische Seite eines Problems erkundet zu haben, das wir Andern für ein rein politisches halten. Er hat ernsthafte Bedenken gegen den nichtstandesgemäßen Umgang des Außenministers Seiner Majestät und macht sie in einer Sprache geltend, wie sie etwa Bernard Shaw Caesars köstlicher Sekretär Britannus führt. Wie, der piekfeine Sir Austen in Freundschaft mit einem kleinen Emporkömmling, der in seinem Glänze nicht einmal ein wetterfester Sozialist geblieben ist wie unser Friedrich Ebert? Aber warum appliziert der ›Vorwärts‹ nicht seine Pädagogik an dem Genossen Paul-Boncour, dem Sachwalter der finanziellen Ansprüche von Mecklenburg-Montenegro? Das liegt doch näher als ein Rüffel für den konservativen Außenminister Seiner Britischen Majestät.
Wir Kritiker der Reichswehr haben bisher immer gefühlt, daß unsrer herrlichen Wehrmacht eigentlich noch etwas fehle. Wir wußten nur nicht recht, was. Jetzt wissen wir es endlich: es ist ein preußischer Prinz. Als diese Nachricht vor ein paar Tagen herauskam, zweifelten wir keinen Augenblick an der Wahrheit, waren wir völlig überzeugt, als der Kommandeur des in Frage kommenden Potsdamer Regiments so schnell und forsch dementierte. Denn ein militärisches Dementi kommt immer einer doppelten Bestätigung gleich. Als nicht locker gelassen wurde, gab der Herr Kommandeur schon zu, daß der älteste Sohn des Kronprinzen bei den letzten Manövern in Münsingen gewesen sei, um sich die Sache mal anzusehen. Nach der Bekundung des Berliner Tageblatts hat der Prinz nicht nur als Zuschauer sich dort aufgehalten, sondern auch Dienst getan, abwechselnd in Zivil und Uniform – zweitweise sogar in der Uniform der alten Armee. Ferner hat er in Uniform einem Konzert beigewohnt und mit der Traditionskompagnie einen Ausflug auf die Stammburg der Hohenzollern gemacht. Der hohe Herr wurde als »Gast des Regiments« betrachtet.
Nachdem der Sachverhalt so weit geklärt ist, bleibt nur noch zu fragen, ob die Reichswehr schon früher solchen oder ähnlichen Besuch gehabt hat, und ob die Spitzen der Wehrmacht, die sich doch während des Manövers nicht ausschließlich auf dem Feldherrnhügel aufgehalten haben, Kenntnis von der Anwesenheit des Gastes hatten.
Wahrscheinlich wird jetzt weiter dementiert werden, und wenn die Affäre endlich vor den Reichstag kommt, wird Herr Geßler mit seifigem Lächeln erklären, daß kein Gesetz den Hohenzollern verbiete, in die Wehrmacht zu treten. Und Herr Stresemann wird emphatisch sekundieren: Da seht Ihr, wie bombensicher die Republik steht – die Prinzen drängen sich schon ordentlich in die Armee!
Aber was hier geschehen, war selbst in der schwärzesten Zeit der französischen Republik nicht ausdenkbar. Als Prinz Lulu Bonaparte sich Militär in der Nähe ansehen wollte, mußte er zu einer englischen Kolonialtruppe gehen und ist in Süd-Afrika gefallen. Es gibt überhaupt keine Republik in der Welt, wo der Prätendent der Legitimisten bei der Armee hospitieren könnte. Man würde die Verantwortlichen, den Kriegsminister und den Heereschef, unverzüglich zur Rechenschaft ziehen. Es bliebe ihnen nur die Flucht in die Demission, und sie würden demissionieren ohne jeden Versuch, den Anklägern Rede zu stehen.
Das ist im Falle Deutschland selbstverständlich nicht zu erwarten. Es wird sich nun zeigen, ob der Reichstag der Republik wenigstens so viel Energie aufbringt wie der Reichstag der Kaiserzeit im Zabern-Jahre. Damals durfte noch ein begabter Bariton wie Konstantin Fehrenbach für zwei Stunden sein schönes Organ protestierend rollen lassen. Wo ist heute selbst ein Fehrenbach? Die republikanischen Fraktionen haben sich daran gewöhnt, in Militärfragen ihren schwächsten Tenor-Buffo vorzuschicken. Der »Gast des Regiments« hört sich ohnehin schon so an wie eine Operette. Es wird auch so enden.
Auf dem Kongreß der Deutschen Volkspartei in Köln hat der Reichswirtschaftsminister Curtius zu der deutschen Wirtschaftssituation gesprochen. Dieser Rede kommt insofern Bedeutung zu, als sie seit Monaten wieder die erste Äußerung eines Regierungsmannes ohne den offiziellen Silberstreifen ist. Es war wieder eine rechte Sorgenrede ohne den frischen Optimismus Stresemanns und Reinholds. Curtius hat keine Freude an einer »nationalen Befreiungspolitik«, die einen Loskauf des Rheinlands von der Okkupation befürwortet. Er sieht darin eine finanzielle Belastung, geeignet, die wirtschaftliche Sanierung und sogar die Währung zu gefährden. Das war sehr vorsichtig ausgedrückt, aber doch verständlich. Richtet sich also gegen Stresemann, indirekt auch gegen Schacht, der erst neulich eine Befreiungsanleihe für Eupen-Malmedy aufbringen wollte, und beweist nur, wie in der Regierung selbst die Meinungen über die Verwirklichung des Programms von Thoiry geteilt sind. Und dabei ist Curtius bisher nur das Sprachrohr Stresemanns gewesen.
Die Oberprüfstelle hat den Potemkin-Film in seiner verstümmelten Form endlich freigegeben (mit Verbot für Jugendliche). Der letzte verzweifelte Widerstand kam von Herrn Mühleisen und den Delegierten der Bendler-Straße. Die Herren Offiziere hatten sich einen gelehrten Vortrag zurechtgemacht, um nachzuweisen, daß Eisenstein es mit der historischen Richtigkeit nicht genau genug genommen habe. Selbst wenn Eisenstein die Geschichte frisiert hätte, die Herren also recht haben sollten – wir wissen aus dem Dittmann-Ausschuß, was für gediegene historische Qualitäten Geßlers Offiziere entwickeln, wenn sie eine deutsche Marine-Revolte begutachten –, so muß doch der Versuch, eine angemaßte Zensur mit pseudowissenschaftlicher Argumentation zu stützen, rücksichtslos zurückgewiesen werden. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Viel ärger ist, was nach Zeitungsbericht der Herr Vertreter des Ministeriums sonst noch sagte:
»Das Reichswehr-Ministerium sehe durch die Vorführung des Films die Disziplin im Heere gefährdet, und das Heer sei doch das letzte Notmittel für die Erhaltung der Staatsautorität. Und diese verlange, daß jeder Soldat sich im Notfalle dazu bereit erkläre, auch wenn es gegen Volksgenossen gehen sollte.«
So, das ist deutlich. Wir haben es immer geahnt: es dreht sich beim Zank um ›Potemkin‹ für die Herren gar nicht um die Matrosen-Meuterei, sondern um die Szene auf der großen Treppe, um die Bürgerschlächterei durch die Kosaken. Der Reichswehr darf die Freude am Bürgerkrieg nicht verekelt werden. Und damit wären wir wieder bei Wilhelm und der harten Soldatenpflicht, auf Vater und Mutter zu schießen. Das Weitere siehe oben: Germersheim.
Die Weltbühne, 5. Oktober 1926