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Berlin, 28. März.
Schon um 11 Uhr an diesem nassen, kühlen Vormittag zieht eine lange Prozession, aus Damen zumeist bestehend, über den Boulevard Motz. Es handelte sich um keine politische Demonstration, Ziel der Massenpilgerschaft ist die »Scala«, wo Frau Dr. Mensendieck aus Amerika spricht, die Verkünderin neuer Körperkultur, Oberpriesterin einer Sekte, die auf Borneo sicherlich ebenso gut ihre Bekennerinnen hat wie in Landsberg a.d. Warthe.
Wenn man die Damen betrachtet, die das dichtgedrängte Parkett der »Scala« füllen, so kann dem schweifenden Auge kaum die ungalante Tatsache verborgen bleiben: die jungen und schönen sind nicht in der Überzahl. Die des Himmelreichs sicher, brauchen dem Wort der Prophetin nicht zu lauschen. Dafür überwiegen die Andern, die einen allzu massiven Fußknöchel entpolstern oder einer eckigen Schulter weiche Rundung verleihen möchten. Dazwischen spitznasige Vertreterinnen der Intellectuaille, hornbebrillte Etonköpfe mit neutraler Kaltschnäuzigkeit. Und man wundert sich nur über die zärtlich beflissene Herrenbegleitung.
Zunächst spricht Herr Professor Straßmann von der Hochschule für Leibesübungen über »Gymnastik im Lichte unserer Zeit«. Was er sagt, verhallt in dem weiten Saal. Aber es wird wohl alles richtig sein. Er sieht so überzeugt aus. Dann braust ein Orkan von Beifall: – eine kleine blonde Dame in einem seegrünen Kleid ist ans Rednerpult getreten. Die Damen im Parkett sind aufgesprungen, um besser zu sehen. Tücher wehen, Hälse werden lang und länger, kurzum, man sieht Exzerzitien von einer Kompliziertheit, wie sie keine[s] der heute populären gymnastischen Systeme seinen Anhängerinnen zumutet.
Frau Dr. Mensendieck spricht deutsch mit leichtem angelsächsischen Akzent. Wohlklingendes, durchaus nicht amazonenhaftes Organ. Zu Beginn gibts eine Überraschung. Die Rednerin weist die Anrempelung einer nationalistischen Zeitung zurück. Sie betonte, daß sie eine arbeitende Frau sei, und die Arbeit etwas Internationales, über die Grenzen Hinausgehendes. Sie sagt das in der guten Form einer Dame, die gewohnt ist, am Rednerpult zu stehen, und man fühlt, daß sie über mehr als Körperkultur verfügt. Im Saal zunächst jene Verblüffung, die typisch ist für deutsches Frauenpublikum, wenn das odiose Wort »international« fällt. Heftiges Zischen in einigen Parkettecken. Aber dann deckt stürmisches Händeklatschen die Protestkundgebung zu. Gott sei Dank, dreiviertel der Zuhörerinnen sind überzeugt, daß auch außerhalb Deutschlands gearbeitet wird. Die Aufklärung schreitet fort, es ist eine Freude zu leben!
Bei wieder hergestellter Eintracht beginnt die Rednerin mit dem sachlichen Teil ihrer Ausführungen. Sie schilderte sehr lebhaft die Schwierigkeiten, als sie vor fast dreißig Jahren an die Öffentlichkeit trat. Damals sprach noch kein Professor warme Einführungsworte, die Wissenschaft lehnte kühl ab. Moralische Vorurteile standen gegen Übungen mit unverhülltem Körper. Das Turnen, wie es damals betrieben wurde, war nichts mehr als öder, schematischer Drill, ohne Rücksichten auf Individuelles und persönlich Zuträgliches. Sie unterstreicht mit lebhafter Geste, daß sie kein »System« anerkenne, nicht mal ein »System Mensendieck«. Es gebe nur ein System: – das der Natur. Dies zu enträtseln, darauf komme es an.
Nach diesen allgemeinen Ausführungen erläutert Frau Dr. Mensendieck an Hand von Lichtbildern zur bessern Deutlichmachung eine Reihe von Einzelübungen, und Darbietungen der Berliner Schule von Frau Dr. Hirschler machten den Beschluß.
Montag Morgen, 29. März 1926