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Die Dame ohne Unterleib

Raymond Poincaré wird nur zu beweisen haben, daß er jetzt gefeiter gegen nationalistische Wallungen ist als 1923, wo er, allzu bereitwillig auf die Intentionen des Herrn Cuno eingehend, an die Ruhr marschieren ließ. Sonst braucht er nichts beweisen. Eine Welle von Vertrauen, etwas blamabel für das Kartell, schlägt ihm entgegen. Das französische Temperament braucht wohl hin und wieder so einen mürrischen alten Herrn, der nicht grade die Reaktion verkörpert, wohl aber ein Ritardando. (Bei uns gehts immer gleich bis zu Hindenburg zurück.)

Der Linksblock liegt zerschlagen. Aber daß Poincaré sich jetzt auf die Radikalen stützt, anstatt seine eigene Garde antreten zu lassen, das erhärtet doch, daß diese zwei Jahre Herriot, Painlevé und immer wieder Briand nicht umsonst gewesen sind, daß Frankreich demokratisch ist, es immer bleiben wird. Der 11. Mai 1924 war europäische Schicksalswende. Edouard Herriot, hinter dem das fascistische Riffraff heute grölt: »In die Seine! In die Seine!« ist der Führer dieses historischen Durchbruchs gewesen. Keinem Zweiten ist Europa so zu Dank verpflichtet.

 

Was bedeutet Poincaré für Deutschland? Der bockbeinige Jurist wird Kriegerdenkmäler etwas mundfertiger einweihen als erforderlich ist, aber Deutschlands Weg nach Genf nicht verrammeln und Verträge respektieren. Er ist zu besonnen, sich als Unruhestifter zu plakatieren, wo Frankreich in seinem Valutaelend Wohlwollen braucht. Aber er wird auch auf strengste Korrektheit dringen. Die Militärkontrolle wird nicht mehr nichtssagende Formalität sein wie in den letzten beiden Jahren und die deutsche Ostpolitik schärfer als bisher auf ihre Vereinbarkeit mit dem Locarnopakt geprüft werden. Briand bleibt im Außenministerium. Damit wäre der Geist der Verständigungspolitik garantiert, aber der Stil dürfte sich doch wohl ändern. Im September wird Deutschland in Genf nicht so umworben sein wie im Frühjahr ...

In London hat schon General Gourand, der militärische Vertrauensmann, sondiert. »England bringt Poincaré Mißtrauen entgegen«, schreiben die deutschen Blätter triumphierend und müssen auf der nächsten Seite bereits folgende Episode aus dem Unterhaus berichten:

»Abg. Rennie Smith: Wir sind der Ansicht, daß die Abrüstungsverhältnisse in Deutschland zufriedenstellend sind.

Chamberlain: Ich bedauere sagen zu müssen: Nein.«

Das ist der neue Stil.

 

Es war eine tragische Stunde der modernen Demokratie, als Herriot, durch sein republikanisches Gewissen verpflichtet, sich gegen Caillaux wandte. Die deutschen Republikaner verstehen großenteils nicht die Leidenschaft dieses Angriffs und suchen die Ursache in privater Rivalerie. Wird selbst Joseph Wirth Herriot begreifen?

Den Volkstribun aus Baden plagt schon lange der Ehrgeiz, Führer eines Kartells der Linken zu werden. Er ist gewiß der einzige Kanzler des republikanischen Reiches gewesen, dessen Tonfärbung sich von dem Durchschnitt der Minister unterschieden hat. Aber seine Taten? Hier verzeichnet der Chronist schlicht: Rapallo – und schweigt.

Jetzt fordert Herr Wirth in einem Aufruf von geräuschvoller Rührung die Republikanische Union. Sehr brav. Aber wem erzählt Wirth das? Den Parteifreunden Brauns und Stegerwald, die unentwegt nach Rechts kutschieren? Dem Führer und derzeitigen Kanzler Marx? Den Demokraten Külz und Geßler? Er richtet sich ausschließlich nach Links: an die Sozialdemokratie. Die stehe wieder »in unbeweglicher Opposition zu Klassenstaat und Klassengesellschaft« und treibe damit treffliche Bürgerdemokraten zum Techtelmechtel mit Rechts. Um diesen schröcklichen Klassenkämpfern den roten Jakobinerteufel recht gründlich auszutreiben, beschwört er den Schatten Ludwig Franks, läßt er den Toten zu den Lebenden sprechen. Doch nun ist leider zur Materialisation niemand ungeeigneter als der tote Ludwig Frank. Dessen Bild wird einmal die glättende Geschichte so liebenswert wiederherstellen, wie es war, aber für diese Zeit grade ist es verdunkelt von Karl Liebknecht und Kurt Eisner, von Allen, die nicht im vierzehner Augusttaumel versanken.

Joseph Wirth appelliert sehr pathetisch, sehr anklagend an die Sozialdemokratie. Weshalb die Aufregung? Die Sozialdemokratie hat in Bündnissen mehr Konzessionen machen müssen als irgendeine andre Partei. Mit Verlaub: was hat eigentlich das Zentrum aus seinem Prinzipienschatz hergegeben? Was die Demokraten? Die Sozialisten haben von der Aussteuer aus August Bebels Nachlaß so ziemlich das letzte Hemd geopfert. Sollen sie sich zur höheren Ehre der Union auch noch die Haut abziehen?

Herr Wirth befindet sich zudem in einem Irrtum. Die Allianz, die er fordert, besteht, auch wenn die Sozialdemokratie nicht offiziell dabei ist, besteht mindestens seit der Juliresolution von 1917. Sie lebte auf im Novemberbündnis Ebert-Groener, bewährte sich in Weimar und hat seitdem, auch wenn die Wege auseinandergingen, schweigend weiter bestanden. Diese unausgesprochene, aber sehr fühlbare union sacrée ist ja schuld an dem Fäulnisgeruch, der die deutsche Linke so unerträglich macht. Warum, so fragen viele Republikaner, warum fordert die Sozialdemokratie nicht die Abschiebung des Herrn Geßler von den Demokraten? Warum toleriert sie den Mann? Warum erhebt sie die Reichswehrfrage nicht zum höchsten Streitobjekt? Warum steigt nicht Reichstagspräsident Loebe wie Kammerpräsident Herriot auf die Rednertribüne, um den Mann in den Tartaros zu scheuchen, der die Verfassung ganz anders malträtiert hat als es ein Caillaux jemals getan hätte?

... und ein Narr wartet auf die Antwort. Ach, Das klebt ja so fest zusammen, gekittet durch gegenseitige Gefälligkeiten, durch gemeinsame Sünden.

Wer Republikanische Union heute so gebieterisch fordert, muß wissen: wozu? Republikanersammlung zu neuen Zielen, zu belebender Straffung der eigenen Reihen, ist gut. Dagegen neue Koalition, um in den Spuren der versackten weiterzuschludern, unnütz und verderblich. Das haben wir auch ohne Linkspakt. Herr Wirth muß wissen, ob er einen neuen Zustand schaffen oder einfach einen alten konservieren will. Er scheint sich leider diese Frage gar nicht überlegt zu haben.

 

Zu Briands Sturz schreibt im »Vorwärts« der Genosse Stampfer:

»Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Eine Verfassung wird nicht für außergewöhnliche, sondern für normale Zeiten ausgearbeitet. Es muß dem Parlament als Vertreter der Volkssouveränität die Möglichkeit gegeben werden, sich außergewöhnlichen Zuständen anzupassen und in einem bestimmten Fall eine Abweichung von den starren Vorschriften der Verfassung selbst zu beschließen. Diese Möglichkeit hat die Weimarer Verfassung ausdrücklich vorgesehen, die nicht nur in diesem Punkt erheblich besser ist als die von reaktionärem Geist inspirierte und überhaupt stark veraltete französische Verfassung von 1875 ...

Und so sehr wir es bedauern, der Auffassung unserer französischen Genossen entgegentreten zu müssen, so fühlen wir uns verpflichtet, hier zu erklären, daß in diesem Falle Briand und Caillaux sachlich im Rechte waren, als sie erklärten, der parlamentarische Mechanismus sei zu kompliziert, um in der Übergangszeit der Stabilisierung die notwendigen Steuerbestimmungen, insbesondere die Festsetzung der unzähligen Steuersätze auf die übliche Art zu beraten und zu beschließen.«

Und jetzt, Doktor Joseph Wirth, wo ist da »der Riß zwischen den sozialistischen Republikanern und den andern fortschrittlich sozialen und republikanischen Parteilagern?« Dies klägliche Gestampfer wird auch der Filmtöter Külz Wort für Wort unterschreiben, und nach diesem Rezept ist die Republik eben regiert worden, Jahr für Jahr. Übrigens hat der Genosse Stampfer Recht: der parlamentarische Mechanismus wurde niemals bei uns überschätzt; niemals betrachteten wir die Verfassung als festen Grund für außergewöhnliche Zeiten; weitsichtig haben unsre Weimarer Legislatoren schon für die Abweichung von den starren Vorschriften vorgesorgt. (Oh, wie litten wir unter den robespierrehaft starren Gesetzesbuchstaben!) Diese weise vorausberechnete Abweichung ist der Artikel 48, der auch nach Meinung nicht verstampferter Sozialisten die Möglichkeit gibt, sich außergewöhnlichen Zuständen so gut anzupassen, daß der normale niemals wiederkehrt.

Ob dem Genossen Stampfer nicht doch noch nachträglich vor seiner Leistung bange wird? Er hat in seiner himmlischen Ahnungslosigkeit die schlagende Begründung für den nächsten Ausnahmezustand geliefert. Der Genosse Stampfer hat in der Mussolini-Debatte des Reichstags am 10. Februar des geflügelte Wort geprägt:

»Wenn die Nationalisten einen Führer brauchen, müssen sie immer warten, bis ein Sozialist verrückt geworden ist.«

Dagegen läßt sich nichts sagen.

 

Wäre der gute Katholik Joseph Wirth nicht in der Tiefe des Herzens ein unverbesserlicher liberaler Oberlehrer, er würde ahnen, daß sein gern zitierter Ausspruch: die Stunde der Entscheidung werde ihn an der Seite der Arbeiterschaft finden, zu gewissen Denkverpflichtungen nötigt. Die Arbeiterschaft hat sich in diesen Jahren mit wahrhaft asketischer Entsagung vor die Republik gestellt, die für sie nichts andres hatte als teures Brot. Diese Hingebungsfähigkeit ist allerdings in eine Krise getreten. Das weiß die Sozialdemokratie und deshalb zaudert sie, den Bruderkuß zu erwidern.

Die Bürgerdemokraten müssen begreifen, daß die Arbeiterschaft nicht dauernd mit Reichsbanner-Ideologie gefüttert werden kann. Morgens Zollpolitik mit der Rechten, abends Republikfeier mit den Sozialisten, das geht nicht. Ob eine wirklich aktive deutsche Linke wachsen kann, das hängt davon ab, ob dem bürgerlichen Republikantertum selbst die Überwindung der Klasseninteressen gelingt, die es von den sozialistischen Arbeitern fordert.

Wirths Republikanische Union ist schön geplant. Da aber die Berücksichtigung des sozialen Momentes fehlt, gleicht sie allzu sehr der Dame ohne Unterleib, wie sie in Jahrmarktsbuden prachtvoll frisiert auf dem Schaubrett präsentiert wird. Die Dame ist gewiß recht hübsch anzusehen, nur fehlt einiges zu den vitalsten Funktionen. Das könnte sehr tragisch sein, wenn nicht auch der republikanische Mann, der sie bewundernd betrachtet, mit dem entsprechenden Manko behaftet wäre.

Die Weltbühne, 27. Juli 1926


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