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Jeder Kriminalfall, der zum Unheil der Beteiligten weitere Kreise zieht, wird vor zwei Tribunalen abgeurteilt: vor dem zuständigen Gericht und in der Arena der öffentlichen Meinung. Und mag schon zu Häupten der beamteten Rechtsprecher nicht immer das Flämmchen des heiligen Geistes leuchten, – das öffentliche Tribunal hat sein Verdikt fix und fertig, ehe noch das Gericht spricht.
Die Gräfin Bothmer soll aus der Wohnung eines alten Bekannten einige Silbersachen, etwas Porzellan und dergleichen entwendet haben. Würde es sich um eine beliebige Frau Schulze handeln, die was mit einem Schupowachtmeister hatte, würde sich nicht der Potsdamer Adelshimmel als Kuppelhorizont über dem Drama wölben, nie wäre eines daraus geworden. Nüchtern und unbeeinflußt von Zeitungslärm dürfte das Gericht die Sache anpacken, und der Rest wäre Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau; Privatsache, die niemanden etwas angeht.
Da es sich aber um eine leibhaftige Gräfin dreht, turbulieren alle wachgewordenen Bürgerinstinkte. Unbefugte Ankläger und Entlarver melden sich, anonyme Briefe laufen ein, mysteriöse Pakete werden ausgegraben, liegen vor den Türen der Hauptakteure herum; Ritter aus Courths-Mahler-Land reiten stolz in die Stechbahn und erklären für Elsa von Brabant gerade zu stehen.
Wehe, wenn das Opfer eine Frau ist! Ein Mann, der nicht gerade ein ausgemachter Hystericus ist, wird mit so was fertig. Aber eine Frau ist wehrlos. Eingekreist von Skandalsucht, von Sensationslust mit sich selbst unzufriedener Tugend, steht sie einer Mauer von kalten, höhnischen Mienen gegenüber, dröhnt in ihren Ohren das Höllenorchester der getuschelten Gerüchte. Den Rest besorgen die Journale. Die servieren das Opfer warm und kalt, bekleidet, halbnackt, ganz nackt, wie gewünscht. »Hauptmann Hefter ... Freundschaft oder mehr? ... freies, lustiges Leben ... immer sehr elegant gekleidet« (mühelos fühlt der Zeitungsleser sich bis zur Unterwäsche durch) ... »sie läßt sich in Berlin frisieren« (Schwefel über Gomorrha! ... »Intrige oder Verbrechen? ... Komplott der reaktionären Potsdamer Gesellschaft gegen eine Demokratin! ... Monatsgehalt des Gatten: 660 M. ...« Bald werden die bewährten Kriminal-Psychologen, die sich unterm Strich ausleben, anmarschiert kommen und das Wesen der Kleptomanie, mit Fremdworten, aus gelehrten Wälzern geklaut, dem verehrten Publikum bis ins Letzte ausbreiten. Und, man kann Gift darauf nehmen, schließlich wird sich auch ein konstruktiver Kopf finden, dem der Nachweis gelingt, daß eigentlich der Graf das Silber und die zwei Meißener Porzellanteller gestohlen und die Gräfin sich für den Gatten opfert ... Es ist, um auf die Orangerie zu klettern.
Der Wert der in Frage kommenden Gegenstände beläuft sich auf rund 500 (in Worten: fünfhundert) Mark. Das sei zur Ernüchterung nochmals betont. Der Bestohlene selbst will nicht recht an die Schuld der Bezichtigten glauben; der Verlust ist ihm sicherlich weniger arg als der Skandal. Ohne ein paar lächerliche Klatschmäuler wäre unter den Beteiligten wahrscheinlich alles stillschweigend geregelt worden. Ohne »Affäre«, ohne Selbstmordversuch des Mannes. Die Gräfin könnte sich ruhig weiter in Berlin frisieren lassen. Und wenn schon Potsdam das mißbilligt, Berlin hätte deswegen die Fassung nicht verloren.
Montag Morgen, 12. Oktober 1925