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Der Spitzel Gingelband

Ist das, was wir Entwicklung nennen, letzten Endes nicht mehr als eine Folge von wechselnden Beleuchtungseffekten? Menschen und Dinge bleiben gleich, nur die Scheinwerfer senden ein anderes Licht. Und wir glauben an große Veränderungen nur, weil das grün ist, was eben noch rot erschien. Weil Thomas Gingelband das nicht rechtzeitig erkannte, deshalb sitzt er heute im Narrenhaus.

Gingelband, nach Beruf und Wesensart Spitzel, ist, wie viele Spitzel, im Grunde nur ein versetzter Held. Ja, er begann seine Karriere als deklarierter Held. 1917, damals 23jährig und gerade vor der Einziehung stehend, hörte er im Wirtshausgarten, wie einer behauptete, auch die Engländer seien Menschen. Gingelband warf sich sofort tätlich auf das Individuum und überlieferte es der Polizei. Es kam nach Sonneberg. Gingelband aber als Reklamierter in einen lebenswichtigen Betrieb.

Hier betätigte er sich spazierengehend durch die Werksstuben und Arbeitsräume, Gespräche anknüpfend, Wortfetzen erhaschend. Schnell gelang ihm die Säuberung des Hauses von schlechten Elementen, die unverzüglich k.v. geschrieben, an der Front wertvolle Dienste leisteten und die Siegeszuversicht der Kampftruppen hoben.

November 18 trug unser Thomas eine rote Kokarde und enteignete die Bourgeoisie. Aber eines Abends am Landwehrkanal lustwandelnd, da traf er einige frühere Arbeitskollegen. Die griffen ihn hocherfreut und ließen ihn sacht ins Wasser gleiten. Ein Polizeiboot fischte ihn auf und gab ihn seinen politischen Aufgaben zurück.

Gingelband zog trockene Kleider an und wurde deutschnational. Sofort erkor man ihn, auf Vorpostendienst in eine rote Truppe zu ziehen. Er führte sich tadellos ein. Bald waren zwei Dutzend von den Roten verhaftet, aber rätselhafterweise wurde auch der Führer von seinen Nationalen eingebuchtet. Großes Verwundern darob, Vertrauensmänner beider feindlichen Fakultäten kamen zusammen und überein, Thomas zunächst den Schädel einzuschlagen. Was alsbald geschah. Mühelos überwand seine kräftige Konstruktion den Echec. Und nun erscheint er abwechselnd in Pommern, in Oberschlesien und Ostpreußen, überall, wo was los ist, immer von einem Mysterium umgeben, das denen gefährlich wird, die den Schleier lüften wollen. 1922 bringt eine klaffende Kopfwunde und zahlreiche Tschechenkronen. 1923 langt er in München an, wo er sofort in delikater Mission nach dem Ruhrrevier geschickt wird, wofür er einen Koffer Papiergeld und einen Bauchschuß erhält, welch letzterer ihn diesmal fast an den Rand des Spitals bringt. Dennoch überwand seine gediegene Konstruktion auch diesen Echec ohne ärztliche Hilfe.

Nach München zurückgekehrt, entlarvt er eines Tages, aus dem Löwenbräu kommend, einen älteren Herrn mit grauem Spitzbart als einen der Weisen von Zion. Vergebens beteuert der Angeschuldigte, der praktische Arzt Dr. Maier aus der Kaulbachstraße zu sein. Er wird sofort abgeführt, Gingelband aber vom Volke gefeiert und auf Flügeln des Gesanges in Hitlers Hauptquartier getragen. Doch schon wenige Tage später liegt er auf der Schleißheimer Landstraße einem Automobil im Wege, neben ihm eine an seinem Hinterhaupt zertrümmerte Bordschwelle. Schnell überwindet seine solide Konstruktion auch den Echec, tatenfroh wendet er sich nach Norden, in neuer Umgebung alte Künste übend. Daneben verwaltet er die Kartothek eines vaterländischen Verbandes. Eines Abends ging er, wie oft, in die Wilhelma, geriet dort an eine germanische Edelschnepfe und kam mit einer sehr internationalen Krankheit nach Haus. Kaum erholt von diesem Zwischenfall, wird plötzlich seine Kartothek beschlagnahmt, der Vorstand in geheimer Sitzung verhaftet. Tags darauf ist das Präsidium wieder enthaftet, er selbst befindet sich in einem gepolsterten Wagen auf der Fahrt in die Nervenklinik.

Unbekannt bleibt, was er getrieben, unbekannter noch die Diagnose. Fama tuschelt nur, daß der Direktor der Anstalt, ein notorischer Demokrat, bald strafversetzt wurde.

Erst im Sommer 25 ist er wieder draußen. Er kommt nach Berlin und sieht überall schwarzrotgoldene Fahnen. Staunend geht er durch die Wilhelmstraße. Überall Schwarzrotgold. Vor dem Reichstag eine große Menschenmenge. Militär marschiert auf ... »So, jetzt wird man auf die Leute schießen!« denkt Gingelband aufatmend, – aber nein, die Soldaten präsentieren vor schwarzgekleideten Herren, die wieder das fatale Abzeichen tragen. Der verzagende Gingelband hört, daß heute Verfassungstag, und das Volk ruft furchtbar laut Hurra, wie ein Wagen mit einem alten Herrn vorüberfährt, dessen Züge ihm irgendwie bekannt vorkommen.

Da schleicht Gingelband in die Siegesallee, völlig gebrochen am Sockel Albrechts des Bären niedersinkend. Melancholisch betrachtet er Kopf, Arme, Beine, Rumpf und findet kaum eine Körperpartie, die nicht für die nationale Sache Wunden empfangen. Er denkt an den Kanal, die Revolverkugeln, das Papiergeld, die Bordschwelle, die Wilhelma, und am späten Abend liegt er noch immer zu Füßen Albrechts des Bären, desperate Reden führend. So entdeckt man ihn. Seine solide Konstruktion ist erschüttert. Am andern Tag fährt er schon wieder im gepolsterten Wagen irgendwohin.

Armer Thomas, er hat in den Monaten erzwungener Klausur den Zusammenhang mit der Welt verloren. Sonst würde er wissen, daß wirklich alles nur Beleuchtungseffekt. Eine neue bunte Scheibe, nicht wahr, die Haut sieht anders aus, aber was hat sich schon groß verändert? Für den Tüchtigen ist immer Raum, auch wenn der Scheinwerfer jäh umstellt. Man darf nur nicht blinzeln.

Das Tage-Buch, 17. Oktober 1925


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