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100 zu viel!

Berlin, 25. Oktober. Noch liegt zur Stunde das abschließende Ergebnis der Berliner Wahlen nicht vor. Aber unabhängig vom Gewinn oder Manko der konkurrierenden Gruppen steht ein Resultat schon fest: es werden 100 zu viel ins Rathaus einziehen.

Eine Gemeindekörperschaft von 225 Personen! Die Hälfte davon, aber wirklich gute ausgesuchte Köpfe, das würde genügen, um den täglich wechselnden Aufgaben der Riesenstadt gerecht zu werden. Der heutige Zustand ist der einer unnatürlichen Gedunsenheit. Es fehlt an jener Elastizität des Rahmens, die die Voraussetzung federnder Entschlußkraft ist. Die Vielheit erstickt die Talente. Die Bäuche verdrängen die Köpfe. Das Ergebnis ist ... wir wollen die Beschwerden nicht nochmals tabellarisch ordnen. Jedermann kennt sie, fühlt sie. Auf allen Gebieten wird die Hauptstadt des Reiches beschämt von den jungen tatkräftigen Kommunen des industriellen Westens. Der Organismus der gewaltigen Stadt will nicht mehr funktionieren.

255! Reizt diese Zahl nicht den schäbigsten Interessen-Partikularismus, den Wettbewerb dennoch zu versuchen? Vielleicht fällt doch ein Mandätchen ab, nicht wahr? Der Effekt: 18 (achtzehn) Parteien balgen sich um die Seele des Wählers, und die Mehrzahl davon Splittergruppen, auf Eigenbrödler spekulierend, oder Wahrnehmung kleiner und kleinster Berufs- und Vereinsbelange mit treuem Auge verheißend. Die trübste Mittelmäßigkeit wird sich endlos breit in die Debatten schieben, die Großzügigen verärgern, zur Wirkungslosigkeit verurteilen, die Energie lahmlegen.

Vor zwei Wochen hat der »Montag Morgen« die Richtlinien eines aktuellen städtischen Programms aufgestellt. Nicht das Idealbild der Stadt »wie sie sein soll«, sondern eine durchaus reale Zusammenfassung dessen, was sich aus dem Berliner Alltag an Forderungen ergibt. Keine einzige der Parteien konnte sich dazu aufschwingen, Ähnliches zu unternehmen, auch die großen alten Parteien verwiesen nur auf das, »was sie immer gesagt«, und auf ihr Programm: Abteilung Kommunales. Für keine kommt das individuelle Antlitz Berlins in Betracht, politische Klopffechterei verdrängt die Erkenntnis, daß es zunächst nur gilt, den verlorengegangenen Großstadtcharakter der Hauptstadt wieder herzustellen. Es ist ja kein Wunder, daß diese geschwollene Gemeindekörperschaft vornehmlich zum rein politischen Kampfobjekt wird. So hat sich eine Abart von Kommunal-Parlamentarismus gebildet, der ohne Organ für seine eigentlichen Aufgaben sich in einer geräuschvollen Nachäfferei gerade der am wenigsten nachahmenswürdigen Gepflogenheiten des Reichsparlamentes gefällt. Der schnauzbärtige Pfarrer Koch wie die steife Wehrhahnfigur des Herrn von Eynem sind für die heillose Verpolitisierung des Rathhaussaales ebenso kennzeichnend, wie die kommunistischen Stuhlbein-Matadore mit ihrer Claque auf der Galerie. Vor der Allianz dieser Ungeister, assistiert noch von dem aschgrauen Kommunalfreisinn des Herrn Merten, mußte der tapfere Schulorganisator Paulsen weichen. Allein der Fall Paulsen bricht den Stab über das Werk der verflossenen Stadtväter.

Die typische Überfettung der deutschen Volksvertretungen ist hier ins Bizarre gesteigert. Das an Personenzahl schmale Parlament steht unter weit härterem Zwang zur Arbeit, sichtbar wird der Einzelne und seine Leistung. Darin liegt ein eminenter Ansporn, der in Berlin völlig fehlt. Hier versinkt alles in einem Brei von Anonymität, aus dem gelegentlich nicht ein Kopf, sondern eine geballte Faust ragt.

Die Arbeit einer Gemeindeverwaltung ist nicht die Fortsetzung der Wahlagitation, wenn auch mit anderen Mitteln. Es wird Zeit, der Dame Berolina den gesinnungstüchtigen politischen Gummibusen wieder abzumontieren und ihr die natürlichen Körperformen zurückzugeben. Im Wahlkampf dominierten Parteizank und Interessentratsch. Die großen Gesichtspunkte fehlten überall. Wenn jede Gruppe auf ihren Werbeaffichen den Bären führte, so scheint das leider nicht mehr zu bedeuten als das Verlangen, sich für weitere vier Jahre sein Feld als Ruheplatz zu sichern. Wie das Endresultat auch ausfällt, es bieten sich keine frohen Aspekte. Wenn nur die Hälfte von denen erscheinen würde, die heute als Sieger hervorgingen, man könnte wieder für Berlin hoffen.

Montag Morgen, 26. Oktober 1925


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