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Ein junger Zivilist hat als Leutnant verkleidet bei den Soldaten hospitiert – ein Fall, der seit dem Hauptmann von Köpenick nicht dagewesen. Die republikanische Presse fordert Bestrafung des verantwortlichen Truppenführers und eröffnet einstweilen ein Verfahren gegen Unbekannt. Endlich meldet der Schuldige sich. Ungeheure Verblüffung. Es ist nicht ein monarchistischer Potsdamer Offizier, sondern der Generaloberst selbst, der Allmächtige der Reichswehr noch immer, trotzdem er seit Sommer 1925 nach Ententegebot nicht mehr Chef der Heeresverwaltung ist, sondern nominell nur militärischer Berater seines Ministers. Der Reichspräsident zögert, das Entlassungsgesuch anzunehmen. Der Wehrminister fordert den Rücktritt, das Kabinett erklärt sich mit ihm solidarisch. Komödienhafter Rollentausch: Hindenburg, der Seeckt seit 1915, sagen wir, kühl gegenübersteht, tritt schützend vor den General, dessen Absägung Geßler fordern muß. Welch seltsame Lösung! Ein paar Kaninchenjäger haben blind ins Dickicht geschossen und einen Löwen getroffen. Jetzt ist ihnen bei dem Triumph nicht recht wohl. Hätten sie den gleichen Jagdeifer entfaltet, wenn sie gewußt hätten, gegen Wen es ging? In den demokratischen Leitartikeln rinnen dicke Zähren. Das hat Niemand gewollt. Deshalb wird auch Seeckts Fall an der herrschenden Stellung der Wehrmacht im Staat nichts ändern. Ein Mann geht, der Zustand bleibt. Auch Herr Geßler bleibt. Bis auf weiteres wenigstens.
Fama hat aus Herrn v. Seeckt den neuen Scharnhorst gemacht, den heimlichen Organisator gewaltiger Heerespläne. Doch weder Huldigung noch Angriff haben ihn je aus der Reserve gelockt. Für die Öffentlichkeit ist er immer nur der General mit den kalten, illusionslosen Augen gewesen, die in die letzte Herzfalte der Menschennatur geblickt zu haben scheinen.
Die Sphinx? Wir sind an geschwätzige Generale gewöhnt. Schon der alte Blücher trug sein Herz auf der weinschweren Zunge. Dieser hier findet nach kurzer Unsicherheit schnell eine aparte Geste, die ihn in rankünevollen Jahren von dem Trubel rundum sondert und ihm eine unerhörte Machtstellung sichert. Er ist mit Keinem versippt; Alle fürchten ihn mit einem Bodensatz Hoffnung, Alle hoffen auf ihn mit einem Bodensatz Furcht. Er denkt nicht daran, für Herrn Claß oder Graefes grüne Jungen den Narren zu machen. Er denkt aber auch nicht daran, die Republikaner zu ermutigen. Gute Demokraten suchen werbend seine Seele. Statt dessen blitzt sie sein Einglas an.
Er mochte nie gern Farbe bekennen. Als die Döberitzer im Anmarsch waren und Noske verzweifelt Verteidiger suchte, zuckte er höflich die Achseln. Als Chef der Heeresleitung manifestiert er zunächst sehr schneidige Gesinnung; ein paar Revanchereden erregen Ärgernis. Dann kommt der entscheidende Umschwung. Er wird schweigsam. Er hat seine Rolle begriffen. Nimmt von nun an seine Aufgabe politisch, nicht militärisch. Je schärfer die Auseinandersetzung zwischen Monarchisten und Republikanern, desto stiller wird der General, desto unentzifferbarer sein Gesicht. Der Konflikt mit Bayern wird akut; Lossow affrontiert. Zum ersten Mal drohen Seeckts Nerven zu reißen: er will in Bayern einmarschieren und die Donaulinie besetzen. Ebert und Stresemann ringen die Hände. Der General droht mit Demission. Aber die Wallung ist schnell vorüber: er geht nicht und fordert auch nicht hart Subordination. Er sammelt bei den Gruppenkommandeuren Vertrauensvoten. Ganz wie ein Parteichef, dessen Führung von einer starken Opposition angezweifelt wird.
So setzt er sich durch. Als Diplomat. Und so gelingt sein Meisterstück: die Schaffung einer Armee, die ganz exklusiv, ganz neben dem Staat lebt, getrennt von ihm durch eine neutrale Zone. Durch die ist noch Keiner gekommen. Was im Reichswehrministerium geschieht, vollzieht sich abgeschlossen wie ein Mysterienkult. So kann die Schwarze Reichswehr kommen und, vielleicht, gehen, ohne daß die höchste Verantwortlichkeit, nicht die der Buchrucker, festgestellt wird.
Und plötzlich ist die Katastrophe da. Die Hohenzollern nahen mit einer kleinen Bitte. Zum ersten Mal seit sechs Jahren weicht die Maskenstarre von des Generals Antlitz, und er blinzelt. Und dieses Blinzeln hat ganz Deutschland gesehen.
Paris glaubt nicht, daß Seeckt in der Tat über die Prinzenaffäre gestolpert ist. Man munkelt, er sei geopfert worden. Entweder für Hindenburg, den er in Mannentreue deckte, oder für Stresemann, dessen Politik er stets bekämpft habe. Solche Mutmaßungen liegen, namentlich für das Ausland, nahe, treffen jedoch nicht zu. Fiele auf Hindenburg die Verantwortung für das Manöver-Gastspiel des Herrn Wilhelm Prinzen von Preußen, so wäre, wir halten jede Wette, der Skandal in Ruhe beigelegt worden. Auch Opposition gegen Stresemann hätte nicht zur Abschiebung des Generals zu führen brauchen. Überhaupt: wäre er entschlossen gewesen zu bleiben – wer hätte ihn eigentlich stürzen können? Geßler, der Partner seiner Sünden? Hindenburg, von einer Offiziers-Kamarilla beeinflußt, war zunächst bereit, ihn zu halten. Was genügt hätte. Denn nichts fürchten die Mittelparteien mehr als eine Präsidentenkrise. Und ist etwa Höpker-Aschoffs neuer Hohenzollern-Vertrag, vom gesamten preußischen Ministerium gebilligt, weniger schlimm als das Plazet zur Köpenickiade von Münsingen? Nein, Seeckt ist gegangen, weil einige Voraussetzungen seiner übermächtigen Position im Schwinden begriffen waren. Seine Sonderstellung war nur ermöglicht worden durch die anti-französische Orientierung aller frühern Reichskabinette. Als Politiker war er zu besonnen für die Plumpheit alldeutscher Vereinsmeier, als General aber pflegte er mit »Eventualitäten« zu rechnen, und namentlich im Osten erwartete er eine neue Gestaltung der Grenzen durch das Schwert. Er frühstückt mit Tschitscherin, während Stresemann Anschluß an die Westmächte sucht. Genf und Thoiry machen, einstweilen wenigstens, durch diese Ostpläne einen Strich. Seeckt wäre der Mann einer Außenpolitik gewesen, die ohne Bindung an den Völkerbund ausschließlich durch Paktverträge sich neue Großmachtstellung sichert. Es ist kein Zufall, daß sein Rücktritt kalendermäßig fast zusammenfällt mit dem Abschied des Viscount d'Abernon, des Protektors seiner Ideen. Die Hoffnung auf England hat seine Politik bestimmt. Von dem englisch-französischen Gegensatz erhoffte er freie Hand an der Weichsel. Darin unterschied er sich in keiner Weise von den Deutschnationalen. Indem Stresemann in direkte Verhandlungen mit Frankreich trat, zerstörte er dem Rivalen den »Feind«. Eine erledigte Feindschaft bedeutet immer das Ende einer politischen Generalskarriere. Für einen Mann wie Seeckt ist die Aussicht auf eine Aufgabe als oberster Administrator über Hunderttausend wenig reizvoll. Deshalb warf er hin.
Weil seine Stellung einzigartig war und selbstgeschaffen, wird er auch keinen wirklichen Nachfolger finden. General Heye, der neue Mann, wird wirklich nur Berater des Reichswehrministers sein und die Macht in Zukunft bei den Gruppenkommandeuren liegen. Was die innere militärpolitische Situation kaum bessert, aber vielleicht einige neue außenpolitische Beklemmungen verhindert. Ein Sieg der Demokratie wäre der Wechsel dann, wenn die republikanischen Parteien endlich einen Gesetzentwurf einbrächten, durch den Mitgliedern früherer Fürstenhäuser der Heeresdienst verschlossen bleibt. Stattdessen bietet der preußische Staat dem Ex-Kaiser Schloß Homburg an. So ist bisher noch jede Gelegenheit versäumt worden.
Severing war, im Gegensatz zu Seeckt, stets ein aufgeschlagenes Buch. Einer, der fest zupacken konnte, aber auch oft die Zügel locker ließ und Worte für Taten gab. Er ist sicher der Beste von Allen gewesen, die 1918 nach oben kamen; aber mehr, als sozialdemokratische Tradition und Erziehung zuließ, konnte auch er nicht geben. Dabei steht er noch turmhoch über dem Genossen Otto Braun, der jetzt mit dem wahrhaft phantastischen Gedanken gespielt hat, Gustav Noske zurückzuholen.
Karl Severing hat oft ein gutes republikanisches Temperament verkörpert. Über seine republikanische Energie sind wir andrer Meinung als die guten Menschen, die heute schon schwarz-rot-goldene Heilige kreieren. Am schwächsten war seine Personalpolitik. In seiner nächsten Umgebung selbst wimmelte es von reaktionären Beamten. Als vor einiger Zeit durch einen Erlaß verfügt wurde, daß zu Personalreferenten nur erprobte und überzeugte Republikaner bestellt werden sollten, meinte ein scherzhafter Kopf: »Gut, jetzt werden eben alle Personalreferenten zu erprobten und überzeugten Republikanern ernannt.«
Die Rechtspresse glaubt nicht, daß Severing wirklich aus Gesundheitsrücksichten zurückgetreten sei, und orakelt ziemlich viel und wirr über seine Absichten. Zunächst: Severing ist, wenn auch noch kein kranker, so doch schon lange kein gesunder Mann mehr; seine Nerven sind erschüttert, und er ist zu gewissenhaft, um mit halber Kraft im Amt zu bleiben.
Es wäre irrig, anzunehmen, Severing wiche vor der Großen Koalition – aber sein Scheiden wird sie beschleunigen. Er war doch der Stein des Anstoßes für die Deutsche Volkspartei. Sein Nachfolger wird es leichter haben: er braucht nur eine Tradition fortzusetzen, die heute schon einen über die Mittelparteien hinaus gehenden Kurswert hat, andrerseits fehlt aber der Anlaß zu den Schärfen, die seinem Vorgänger die Feindschaften eingetragen haben. Nichts steht der Großen Koalition mehr im Wege, nichts als der Wille der Massen ...
Karl Severing hat sich gelegentlich bitter über jene Republikaner beschwert, die sein Werk zu bekritteln wagten. Er wird in der nächsten Zeit Gelegenheit haben, es von außen zu sehen.
Seeckt und Severing sind im März 1920 gekommen, nach der Liquidation des Kapp-Abenteuers. Wenn zwei Männer, die zugleich erschienen sind, auch zugleich abtreten, so bedeutet das, jenseits der Zufälligkeiten, das Ende einer geschichtlichen Epoche. Beide sind verknüpft mit der innern Konsolidierung, nicht wegzudenken aus den Vorgängen dieser sechs Jahre. Und so gewiß sie auf verschiedenen Wegen karrten, verschiedene Ziele im Auge: schließlich sind sie Beide auf der breiten Straße der Bürgerlichkeit gelandet. Der Sozialist und der konservative Militarist, sie haben Beide nur beigetragen, ein trübes Juste milieu zu schaffen. Sie haben als Realpolitiker viele Pflöcke zurückgesteckt, sind nie von der berühmten Politik des Möglichen abgewichen. Das Resultat ist: eine unmögliche Republik.
Die Weltbühne. 12. Oktober 1926